Die Narmada    nach Gita Mehta
 
 

Die Weisen haben gesagt
Wer immer dich preist
Frühmorgens, früh abends, bei nacht
Darf sich in seiner Menschengestalt
Die er erlangt durch das Leiden
So vieler Wiedergeburten
In Ehren den Füssen
Von Shiva nähern

Dann höre mein Loblied
O heilige Narmada
Du begnadest die Erde
Mit deiner Gegenwart
Die Frommen nennen dich Kripa
Die Gnade selbst
  Du läuterst die Erde
  Von ihren Unreinheiten
  Die Frommen nennen dich Surasa
  Die heilige Seele
Du durchspringst die Erde
Wie ein tanzender Hirsch
Die Frommen nennen dich Rewa
Die Springende
  Shiva aber nannte dich
  Die Erquickliche
  Und taufte dich lachend
  Narmada

O kupferfarbenes Wasser
Unter kupferfarbenem Himmel
Aus Shivas Busse wurdest du Wasser
Aus Wasser wurdest du eine Frau
So schön, dass Götter und Asketen
Die Lenden hart vor Begehren
Von ihren Betrachtungen liessen
Um dir nachzustellen

Einmal, und nur einmal
Im drehenden Rad des Seins
Wurde der Schreckliche zum Lachen bewegt
Aufblickend von seiner inneren Betrachtung
Um dich zu sehen sagte der Zerstörer:
O Maid mit den schönen Hüften
Erregerin der Narma, der Lust
Sei bekannt als Narmada
Heiligster aller Flüsse

O Fluss, aus Busse geboren
Von Lachen getauft
Deine ungebärdigen Strömungen
Sind wie kupferne Adern im Gestein der Vindhya-Berge
So wie Götterblut den Leib eines Elefanten vergoldet
Und an deinen Gestaden
Durchstossen die Staubgefässe der grüngoldenen
Nipablüten, dich begehrend
Die Blütenblätter, die sie umschliessen

Wälder, schwer von wildem Jasmin
Umarmen dich mit ihrem Duft
Und näherst du dich, so schlagen
Sogleich die Mangobäume zum blühen aus

Die Weisen, die an deinen Ufern meditieren
sagen, du bist zweimal geboren
Einmal aus Busse
Einmal aus Liebe

Sie sagen, der Asket, der mit der Göttin tändelte
Vermischte den Schweiss seiner Glut mit den Tropfen
Der Liebesmühen aus ihren Brüsten
Und schuf dich aus dem Born seines göttlichen Begehrens

Dann verwandelte er dich in einen Fluss
Um die Gelüste der heiligen Männer zu kühlen
Und nannte dich Narmada
Stillerin der Begierden

Sogar Shivas Erguss
Wird in deinem Flussbett zu Stein gekühlt
Jeder einzelne Samen wird
Deinen blauschwarzen Wassern entwunden, zum Götterbild
Und in den Tempeln an deinen Gestaden
Mit Blumengirlanden geehrt

O Fluss, aus Liebe geboren
Von Lachen getauft
Deine purpurnen Wasser gleiten wie ein Gewand
Von deinen abfallenden Ufern

Kalidasa fragt, wer kann es ertragen, dich zu lieben?
Denn wer erträgt es, eine Frau zu verlassen deren Lenden entblöst sind
Hat er erst einmal die Süsse ihres Leibes geschaut ?
 

Springende Antilopen
Zeichnen deinen Lauf
Vögel schwärmen durch die heiligen Bäume
Und beschatten die Anger deiner Dörfer
Rosenapfelbäume verdunkeln dein Wasser
Mit dem Schimmer reifender Früchte
Wilde Mangos fallen in deine wirbelnden Fluten
Gleich Blumen im Haar einer Maid

In den Schriften steht geschrieben
Du warst zugegen bei der Geburt der Zeit
Da Shiva als goldener Pfau
Das Meer der Leere durchzog

Du gemahntest den Zerstörer
Die Schöpfung erwarte seinen Befehl
Und seine grausamen Federn ausbreitend
Schuf Shiva diese Welt und den Berg
Wo er sitzt und meditiert bis zur Zerstörung

Du warst zugegen bei der Schöpfung
Auf Shivas Befehl bleibst Du allein
Bei der Zerstörung bestehen

Es prophezeiten die Weisen, welche die Wahrheit wissen
Um Mitternacht, wenn die dunkle Flut kommt
Wirst du dich in ein Mädchen verwandeln
So strahlend wie eine Lüstersäule
Einen Dreizack in deiner schlanken Hand, wirst du sagen:
'Weise, verlasst eure Waldeinsamkeit
Zögert nicht! Die Zeit der grossen Zerstörung ist da'

Während der Zerstörer tanzt
Wird alles zerstört
Und ich allein biete Zuflucht

Nehmt euer Wissen der Menschheit mit
Und folget mir
Ich führe euch in die nächste Schöpfung

(Shankarcharyas Hymne)

O Bote der vergehenden Zeit
O Zuflucht und Errettung
Du lässt die Angst der Zeiten vergehen
O heilige Narmada

Du beseitigst die Makel des Bösen
Du erlösest vom Kreislauf der Schmerzen
Du enthebest von den Bürden der Welt
O heilige Narmada

Schildkröten und Flussdelphine finden Zuflucht in deinen Wassern
Landende Reiher spielen auf deiner stillen Fläche
Fische und Krokodile nimmst du in deine Umarmung
O heilige Narmada
Barden und Asketen besingen deine Wunder
Spieler, Betrüger und Tänzer preisen dich
Wir alle finden Zuflucht in deiner Umarmung
O heilige Narmada

 
 
 
 


 
 


 
 

...
``Hatten Sie schon mal patienten, die behaupteten, besessen zu sein?'' fragte ich. Ich vermochte
mir niemanden vorzustellen, der an derselben krankheit litt wie Nitin Bose.
`Nicht direkt besessen, aber hin und her gerissen. Das ist nicht anders zu erwarten,
sitzen wir doch hier auf dem schlachtfeld, wo sich die Arier und die Prä-Arier bekriegt haben.''
Zerstreut beobachtete ich, wie eine herabgefallene blüte unterhalb der veranda übers gras
geweht wurde. ``Was hat das mit besessenheit zu tun?''
``Mein lieber, hier wurde um den besitz Indiens gekämpft
- arische vernunft stand gegen den urglauben der stämme. Obwohl es eigentlich keine
richtigen stämme waren. Wie Nitin Bose in seinem tagebuch vermerkte, hatten sie
lange vor der ankunft der Arier eine kultur, mit grossen städten und so weiter.
Ein skythisches volk, glaube ich, das sich Nagas nannte und die naga verehrte, die schlange.
Meines wissens stammt von ihnen das sanskritwort für stadt, nagara .''
Er streckte seine langen beine aus und lehnte sich in die kissen des bambussessels.
Die nachmittagssonne schien schräg über den fluss, und er kniff die augen zusammen.
''Wussten Sie, dass das wort narmada auf Sanskrit freudenmädchen oder hure bedeutet?''
Ich war entrüstet. ''Das ist unmöglich. Die Narmada ist der heiligste fluss in Indien''
...
``Hier ist sogar der krieg zwischen den Ariern und den Prä-Ariern noch immer nicht entschieden.''
``Nach viertausend jahren?''
...
``Dann kamen die Arier. Rastlose nomaden. Besessen vom willen zur eroberung. Kriegslüstern.
Sie stellten die mit dem verstand erlernten wahrheiten über alle anderen wahrheiten, einschliesslich
der wahrheiten der natur. Mit anderen worten, der krieg zwischen den Prä-Ariern und den Ariern
war ein klassischer konflikt zwischen instinkt und vernunft. Ähnlich dem konflikt, der Nitin Bose
um den verstand gebracht hat.''

...


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