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Jazz
Aus Geoff Dyer, But Beautiful, Ein Buch über Jazz (1991),
Fischer Taschenbuchverlag, 3. Auflage September 2006
Ornette Coleman zufolge haben
"Schwarze sich nie eindringlicher darüber geäußert,
was ihre Seele bedeutet, als auf dem Tenor-Saxophon". (p221)
Der weiße Bandleader Stan Kenton erweiterte die Diskussion noch,
indem er meinte, im Jazz das Potenzial zum Ausdruck der gequälten Seele
unserer Zeit zu hören:
"Ich glaube, die Menschheit macht heutzutage Dinge durch, die sie noch
nie erlebt hat, nervliche Belastung und Unterdrückung seelischer
Entwicklung, die traditionelle Musik vollkommen unfähig ist,
auszudrücken, geschweige denn, auszugleichen. Deswegen glaube ich,
dass Jazz die neue Musik ist, die gerade zur rechten Zeit erschienen
ist." ....
1964 hielt Dr. Martin Luther King Jr. die Eröffnungsansprache beim
Berliner Jazzfestival. Seine Anwesenheit dort diente als Erinnerung daran,
dass es Parallelen gab zwischen dem Kampf der Schwarzen für
Bürgerrechte und dem Kampf von Jazzmusikern um Anerkennung ihrer Kunst.
In seiner Rede unterstrich King die Rolle, die Musik bei der Artikulierung
des Leidens, der Hoffnungen und der Freuden der Schwarzen spielte, lange
bevor Schriftsteller und Dichter sich der Aufgabe annahmen. Jazz sei nicht
nur von zentraler Bedeutung für die gelebte Erfahrung der Schwarzen,
fuhr er fort, sondern
" der spezifische Kampf des Schwarzen in Amerika ist verwandt mit
dem universellen Kampf des modernen Menschen". (p222)
"Ich habe mehr gelebt, als ich es in Begriffen von Bebop ausdrücken
kann",
sagte Albert Ayler, dessen Musik der Jazztradition das Kreuz brach. (p229)
....
Die neue Musik - wie sie schließlich genannt wurde - schien die ganze
Zeit einem Schrei entgegenzustreben, als hätte sie die Gefahr
verinnerlicht, die früher einmal mit der Erzeugung des Jazz einhergegangen
war. Als die Bürgerrechtsbewegung durch Black Power verdrängt wurde
und Amerikas Ghettos in Gewalt explodierten, so schien auch die ganze Energie,
Gewalt und Hoffnung des historischen Augenblicks in die Musik
einzufließen. Gleichzeitig wurde die Musik immer weniger ein
Prüfstein für Musikalität oder, wie im Bebop, für
Erfahrung, sondern viel mehr ein Prüfstein für die Seele, für
die Fähigkeit des Saxophons, den innewohnenden Geist hervorzuzerren. Als
Coltrane sich über den Neuzugang seiner Band, Pharoah Sanders,
äußerte, betonte er, nicht sein Spiel, sondern sein "riesiges
seelisches Reservoir. Er versucht immer, nach der Wahrheit zu greifen. Er
versucht, sich von seinem spirituellen Ich leiten zu lassen." (p229f)
In den fünf Jahren seines Bestehens hob das klassische Quartett von
Coltrane, Elvin Jones, Jimmy Garrison und McCoy Tyner - die größte
kreative Beziehung zwischen vier Männern, die es jemals gegeben hat - den
Jazz auf eine Intensität der Ausdruckskraft, die selten von irgendeiner
anderen Kunstform übertroffen wurde. Coltrane übernimmt zwar die
Führung, aber er ist vollkommen abhängig von der Rhythmusgruppe, die
ihm nicht nur mit Sekundenbruchteil-genauer Einfühlsamkeit durch seine
labyrinthischen Improvisationen folgt, sondern ihn zu noch größeren
Verausgabungen antreibt. (p230f)
Das Entscheidende ist, dass der Jazz jetzt unentrinnbar mit seiner eigenen
Tradition beschäftigt ist. .... Während der Jazz der radikalen 60er
Jahre das Anliegen hatte, mit der Tradition zu brechen, ging es in den
neoklassischen 80er Jahren darum, sie zu bekräftigen ....
die Entwicklung des
Jazz ist jetzt auf seine Fähigkeit angewiesen, die Vergangenheit zu
absorbieren, und die experimentierfreudigste Musik ist in zunehmendem
Maße diejenige, die sich am tiefsten und am breitesten in die Tradition
hineingraben kann. In diesem Zusammenhang ist es bemerkenswert, dass die
innovativsten Spieler unserer Zeit um die vierzig sind, während in der
Vergangenheit viele Musiker ihre bedeutendsten und innovativsten Beiträge
in jungen Jahren leisteten. Jazz war noch eine jugendliche Musik, als Bird
[Parker, Charlie "Bird"] und
Gillespie sie revolutionierten. Jetzt ist der Jazz in die Jahre gekommen, und
gleichermaßen auch jene, die seine aussagestärksten
Repräsentanten sind. (p236f)
John Berger schrieb: "Der Moment, in dem ein Musikstück beginnt,
liefert einen Hinweis auf das Wesen jeglicher Kunst ....
das Missverhältnis
dieses Moments, verglichen mit der ungezählten, nicht wahrgenommenen
Stille, die ihm vorausgegangen ist", ist nie stärker zu spüren,
als wenn Jarretts Finger die Tasten berühren. .... Bei Jarrett bedeutet
die immer währende Schöpfung der Musik, dass der "Moment",
den Berger erwähnt, für die Dauer der Musik in jeder Sekunde
enthalten ist. (p243)
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