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Psychologie und Geistskrankeit : Michel Foucault


Vom Umgang der Gesellschaft mit Gegenentwürfen der "Geisteskranken" - Das Zeitalter des Intellekts


Das Ende des Totemismus - Claude Levi-Strauss


Traumzeit : Hans Peter Duerr




Entwicklung verwechselt mit Geschichte -
Angst der Vernunft vor dem Müßiggang -
Die Überhebung des Normalen, die Ausgrenzung des Paranormalen -
Die Kreuzigung der Freiheit -
Psychologie und Moralsadismus -
Erziehung zum Wahnsinn:

Michel Foucault, Psychologie und Geistskrankeit

Wir möchten zeigen, dass die wurzel der psychopathologie nicht in irgendeiner metapathologie zu suchen ist, sondern in einer spezifischen, historisch bestimmten beziehung des menschen zum geistesgestörten menschen und zum wahren menschen

Erster Teil: Die psychologischen Dimensionen der Krankheit
Jede krankheit tilgt, je nachdem, wie schwer sie ist, die eine oder die andere jener verhaltensweisen, die die gesellschaft im laufe ihrer entwicklung möglich gemacht hat, und ersetzt sie durch archaische formen des verhaltens.
An die stelle des dialogs, der höchsten form der sprachentwicklung, tritt eine art monolog: der kranke erzählt sich selbst, was er tut, oder er führt mit einem imaginären partner einen dialog, den er mit einem wirklichen partner nicht zu führen vermöchte ....

.... das soziale wahrheitskriterium (glauben, was die anderen glauben) hat für den kranken keinen wert mehr ....

.... das, worauf die regression der persönlichkeit zurückgeht, sind nicht zerstreute elemente - sie waren nie zerstreut -, sind auch nicht archaische persönlichkeiten - denn es gibt keine rückentwicklung der persönlichkeit, sondern nur in der abfolge der verhaltensweisen

In der entwicklung ermöglicht die vergangenheit die gegenwart und setzt sie in gang; in der geschichte löst sich die gegenwart von der vergangenheit ab, gibt ihr einen sinn und macht sie verständlich. Das psychologische werden ist entwicklung und geschichte zugleich; die zeit der psyche muss nach dem früher und dem jetzt - d.h. in begriffen der entwicklung - aber auch nach dem vergangenen und dem gegenwärtigen - d.h. in begriffen der geschichte - analysiert werden. Als man ende des 19. jahrhunderts, nach Darwin und Spencer, staunend die wahrheit des menschen in seinem werden als lebewesen entdeckte, hielt man es für möglich, die geschichte in evolutionsbegriffen zu schreiben oder auch geschichte und evolution zugunsten dieser zusammenzufassen; übrigens liesse sich derselbe trugschluss auch in der soziologie dieser epoche nachweisen. Der ursprüngliche irrtum der psychoanalyse, und nach ihr der meisten genetischen psychologien, besteht zweifellos darin, in der einheit des psychologischen werdens (s.u. *) diese beiden dimensionen, die evolution und die geschichte, nicht als irreduzible erkannt zu haben.
* Anmerkung von men-kau-ra:
In der
Selbstdarstellung ( Werke Bs. XIV, S. 31) spricht Freud vom einfluss Darwins auf die erste orientierung seines denkens

Man findet bei diesem kind die gleichen verhaltensstrukturen wie bei der eifersüchtigen: die undifferenziertheit des selbstbewusstseins verhindert die unterscheidung zwischen dem tun und dem erleiden (schlagen - geschlagen werden; betrügen - betrogen werden); die ambivalenz der gefühle gestattet andererseits auch eine art reversibilität zwischen aggression und schuldgefühl

Das kindliche verfahren, die wirklichkeit zu metamorphisieren, hat also einen nutzen: es stellt eine flucht dar, eine billige art, auf die wirklichkeit einzuwirken, eine mythische art der selbstverwandlung und der verwandlung anderer. Die regression ist nicht ein natürlicher sturz in die vergangenheit; sie ist eine intentionelle flucht aus der gegenwart - eher rückgriff als rückkehr. Man kann jedoch der gegenwart nur entkommen, wenn man etwas anderes an ihre stelle setzt; und die vergangenheit, die in die pathologischen verhaltensweisen hineinspielt, ist nicht der ursprüngliche boden, auf den man wie in ein verlorenes vaterland zurückkehrt, sondern die künstliche, imaginäre vergangenheit der substitutionen

Aber dieser symbolismus, und das ist das wichtige dabei, ist nicht nur der mythische, bildhafte ausdruck der wirklichkeit; er hat eine funktion in bezug auf die wirklichkeit

Der inhalt der krankheit ist die gesamtheit der flucht- und abwehrreaktionen, durch die der kranke auf seine situation antwortet .... Der begriff der psychischen abwehr ist von höchster bedeutung. Er ist der angelpunkt der ganzen psychoanalyse gewesen

Wo das normale individuum die erfahrung eines widerspruchs macht, macht der kranke eine widersprüchliche erfahrung; die erfahrung des einen öffnet sich auf den widerspruch, die des anderen schliesst sich über ihm. Mit anderen worten: normaler konflikt oder doppeldeutigkeit der situation; pathologischer konflikt oder ambivalenz der erfahrung.
Wie die furcht eine reaktion auf äussere gefahr ist, so ist die angst die affektive dimension des inneren widerspruchs. Als totale desorganisation des affektiven lebens ist sie der höchste ausdruck der ambivalenz, der form, in der sie sich vollendet als schwindelerregende erfahrung des simultanen widerspruchs, als erlebnis ein und desselben wunsches nach leben und tod .... Mit der angst befinden wir uns im zentrum der pathologischen bedeutungen. Unter allen den schutzmechanismen, die die einzelnen krankheiten bestimmen, tritt die angst in erscheinung, und jeder typus von krankheit definiert eine spezifische art, auf angst zu reagieren .... Die angst als psychologisches erlebnis des inneren widerspruchs bringt auch das psychologische werden eines individuums auf einen gemeinsamen nenner und gibt ihm eine einzige bedeutung: angst wurde erstmals erlebt in den widersprüchen des kindlichen lebens und in der von ihnen bewirkten ambivalenz; und unter ihrem latenten druck haben sich die abwehrmechanismen gebildet, deren riten, vorsichtsmaßnahmen, starre manöver sich das ganze leben hindurch wiederholen, sobald die angst wieder zu erscheinen droht.
Man kann also in einem bestimmten sinn sagen, dass sich die psychologische entwicklung durch die angst in eine individuelle geschichte verwandelt; denn es ist effektiv die angst, die dadurch, dass sie die vergangenheit und die gegenwart vereint, beide aufeinander bezieht und beiden eine sinngemeinschaft verleiht; es schien uns, als habe das pathologische verhalten einen archaischen sinn und eine signifikante art, sich in das gegenwärtige einzufügen. Sobald nämlich das gegenwärtige im begriff steht, ambivalenz und angst hervorzubringen, löst sie das spiel der neurotischen schutzmaßnahmen aus; aber diese drohende angst und die mechanismen, die sie wieder entfernen, sind längst schon in der geschichte des subjekts fixiert gewesen. Die krankheit läuft demzufolge nach der art eines circulus vitiosus ab: der kranke schützt sich durch seine aktuellen abwehrmechanismen gegen eine vergangenheit, deren heimliche gegenwart die angst aufsteigen lässt; andererseits schützt sich das subjekt gegen die eventualität einer gegenwärtigen angst dadurch, dass es auf die ehemals im verlauf ähnlicher situationen eingesetzten schutzmaßnahmen rekurriert. Erwehrt sich der kranke mit seiner gegenwart seiner vergangenheit, oder schützt er sich vor seiner gegenwart mit hilfe einer vergangenen geschichte? .... Im gegensatz zur geschichte des normalen individuums ist diese monotonie des kreislaufs der grundzug der pathologischen geschichte

Die analyse der entwicklung legte die krankheit als eine virtualität fest; die individuelle geschichte erlaubt, sie als ein faktum des psychologischen werdens aufzufassen. Sie muss nun jedoch in ihrer existentiellen notwendigkeit begriffen werden

Ist es aber möglich, alles zu begreifen? Ist es nicht gerade das eigentümliche der geisteskrankheit, im gegensatz zum normalen verhalten, dass sie zwar erklärt werden kann, jedem begreifen aber widersteht? Ist nicht die eifersucht normal, solange wir sogar ihre übertreibungen noch verstehen, und erst dann krankhaft, wenn wir selbst ihre elementarsten reaktionen ``nicht mehr begreifen''? Jaspers hat als erster gezeigt, dass begreifen sich weit über die grenzen des normalen hinaus erstreckt und dass intersubjektives begreifen bis ins wesen der pathologischen welt gelangen kann.
Zweifellos gibt es krankhafte formen, die dem phänomenologischen begreifen bis heute undurchdringlich sind und auch bleiben werden ....
Im begreifen des kranken bewusstseins und im wiederherstellen seines pathologischen universums liegen die beiden aufgaben einer phänomenologie der geisteskrankheit.
Das bewusstsein, das der kranke von seiner krankheit hat, ist absolut original. Sicher ist nichts so falsch wie der mythus von der krankheit, die nichts von sich selbst weiss ....

Selbst ein wahn von höchster konsistenz erscheint dem kranken allenfalls ebenso real wie das reale; im spiel der beiden realitäten, in dieser theatralischen doppeldeutigkeit, offenbart sich das bewusstsein von der krankheit als bewusstsein von einer anderen realität ....
Das singuläre seiner erfahrung entkräftet ihm nicht die gewissheit, die sie begleitet; aber er erkennt, indem er ihn zugibt, ja sogar bestätigt, den seltsamen und schmerzvoll einmaligen charakter seines universums; indem er zwei welten gelten lässt, äussert er im hintergrund seines verhaltens ein spezifisches bewusstsein von seiner krankheit

Minkowski hat die störungen in den zeitformen der krankhaften welt untersucht. Er hat insbesondere einen fall von paranoidem wahn analysiert ....
.... in der zukunft ist alles absurd möglich. Diese beiden themen zeigen in ihrer wahnhaften verstrebung eine bedeutende störung der zeitlichkeit; die zeit läuft nicht mehr vorwärts und läuft nicht mehr ab; das vergangene häuft sich an; und die zukunft, die allein sich öffnet, verheisst nur eine zermalmung der gegenwart durch die ständig schwerer werdende masse des vergangenen.
So bringt jede störung eine spezifische veränderung des zeiterlebens mit sich ....
Der raum als struktur der erlebten welt gibt zu denselben analysen anlass

Nicht nur das raum-zeitliche milieu, die umwelt, ist durch die krankheit in ihren wesentlichen strukturen gestört, sondern auch die gesellschaftliche und kulturelle welt, die mitwelt. Der andere ist für den kranken nicht länger gesprächspartner und am gemeinsamen werk mitwirkender; er begegnet ihm nicht mehr auf grund der gesellschaftlichen verflechtungen, er verliert seine wirklichkeit als ``socius'' und wird in diesem entvölkerten universum der fremde

Die krankhafte welt ist nicht erklärt durch die historische kausalität einer geschichte (die kausalität der psychologischen geschichte), vielmehr ist diese nur möglich, weil jene welt existiert: sie stiftet die verbindung von ursache und wirkung, von früher und später ....
.... und Binswanger erinnert in bezug auf den wahnsinn an Heraklits wort über den schlaf: ``Die wachenden haben eine einzige und gemeinsame welt'' (ena kai koinon kosmon), ``von den schlafenden aber wendet sich ein jeder seiner eigenen (welt) zu'' (eis idion apostrephesthai). Die krankhafte existenz ist jedoch gleichzeitig gekennzeichnet durch einen ureigenen stil der verfallenheit an die welt: das subjekt, dem die bedeutungen des universums entgleiten, das dessen grundlegende zeitlichkeit verliert, entäussert seine existenz in die welt, in der seine freiheit anbricht. Da es ihren sinn nicht fassen kann, überlässt es sich den ereignissen; in dieser zerbröckelten zeit ohne zukunft, in diesem unzusammenhängenden raum ist das kennzeichen eines zusammenbruchs zu sehen, der das subjekt der welt als einem äusseren schicksal überliefert

Zweiter Teil: Wahnsinn und Kultur
Boutroux sagte - mit seinem vokabular - die psychologischen gesetze, selbst die allgemeinsten, seien zu einer ``phase der menschheit'' relativ; es ist längst ein gemeinplatz der soziologie und der pathologie geworden, dass die krankheit ihre wirklichkeit und ihren wert als krankheit nur innerhalb einer kultur hat, die sie als solche erkennt ....
Lowie, der die Crow-indianer untersucht hat, erwähnt einen von ihnen, der eine aussergewöhnliche kenntnis der kulturformen seines stammes besass; er war jedoch ausserstande, einer physischen gefahr standzuhalten; und in dieser form von kultur, die nur den aggressiven verhaltensweisen möglichkeiten bietet und wert verleiht, bewirkten seine intellektuellen fähigkeiten nur, dass er als unverantwortlich, unzuständig und schliesslich als krank galt ....
.... für Durckheim ist es die statistische virtualität eines abweichens vom durchschnitt, für Benedict die anthropologische virtualität des menschlichen wesens; in beiden analysen wird die krankheit unter jene virtualitäten eingeordnet, die der kulturellen wirklichkeit einer gesellschaftlichen gruppe als begrenzender rand dienen.
Damit ist zweifellos das positive und wirkliche an der krankheit, d.h. an der gestalt, in der sie in einer gesellschaft auftritt, verfehlt. Tatsächlich gibt es nämlich krankheiten, die als solche erkannt werden und die innerhalb der gruppe status und funktion besitzen; dann ist das pathologische nicht mehr nur eine abweichung in bezug auf den kulturtypus; es ist dann eines der elemente und eine der äusserungen dieses typus ....
Andere beispiele fände man in der rolle, die vor nicht allzu langer zeit noch der dorftrottel und die epileptiker in unserer gesellschaft gespielt haben.
Wenn Durckheim und die amerikanischen psychologen die abweichung und den abstand von der norm zur eigentlichen natur der krankheit gemacht haben, so ist der grund dafür zweifellos in einer ihnen gemeinsamen kulturillusion zu suchen: unsere gesellschaft will in dem kranken, den sie verjagt oder einsperrt, nicht sich selbst erkennen; sobald sie die krankheit diagnostiziert, schliesst sie den kranken aus .... In wirklichkeit drückt sich eine gesellschaft in der geisteskrankheiten, die ihre mitglieder aufweisen, positiv aus, gleichviel, welchen status sie diesen krankhaften formen verleiht; ob sie sie nun ins zentrum ihres religiösen lebens stellt, wie das bei den primitiven häufig der fall ist, oder ob sie versucht, sie auszubürgern, indem sie sie aus der gesellschaft hinaus verlegt, wie es in unserer kultur geschieht
[ Anmerkung von men-kau-ra:
Alternative psychiatrie bei den `primitiven':
``Ein grausiger anblick bot sich ihnen [tags darauf], so grausig, dass Chiya [der held des kampfes] nacht um nacht schreckliche träume hatte und erst nach einem heilungsritual wieder davon befreit war''
(cf hierzu auch das interview mit David Grossman in
kindlich.html#patzlaff
....
``Ganz offensichtlich beobachtet der Westen die psychischen Leistungen des Ostens so mißtrauisch und beunruhigt, wie der Osten unsere Wasserstoffbomben''
Frank Waters, Das Buch der Hopi, Eugen Diederichs Verlag, München, 9. Auflage 1996 (org 1963) p267 und p42 ]


Der okzident hat dem wahnsinn erst relativ spät einen status als geisteskrankheit zugesprochen ....
Es hat im okzident zu allen zeiten eine medizinische behandlung des wahnsinns gegeben, und die spitäler des mittelalters hatten zum größten teil, wie das Hotel Dieu in Paris, betten für wahnsinnige bereitstehen (oft geschlossene betten, eine art großer käfig, um die tobsüchtigen in gewahrsam zu halten). Aber das war ein kleiner sektor, in dem nur die für heilbar gehaltenen formen des wahnsinns begriffen waren (phrenesie, episodisch auftretende gewalttätigkeit, oder anfälle von ``melancholie''). Rings um diesen sektor war der wahnsinn sehr verbreitet, hatte aber keine medizinische hilfe.
Es gibt jedoch für diese verbreitung keine festen maßstäbe; sie variiert je nach den epochen, zumindest in ihren wahrnehmbaren ausmaßen .... Die letzten äusserungen des zeitalters der gotik waren abwechselnd und jeweils durchgängig von der furcht vor dem tode und von der furcht vor dem wahnsinn beherrscht

Am ende der renaissance bezeugen Shakespeare und Cervantes das große ansehen dieses wahnsinns, dessen künftige herrschaft Brant und Hieronymus Bosch hundert jahre zuvor angekündigt hatten.
Das bedeutet nicht, dass die renaissance ihre wahnsinnigen nicht gepflegt hätte. Im gegenteil: im 15. jahrhundert werden zunächst in Spanien (in Saragossa), dann in Italien, die ersten großen, ausschließlich irren vorbehaltenen spitäler eröffnet .... Im wesentlichen ist der wahnsinn ein erlebnis im zustand der freiheit; er bewegt sich ungehemmt, er ist ein teil des schauplatzes und der sprache aller, er ist für jeden eine alltägliche erfahrung, die man mehr auf die spitze zu treiben als zu meistern versuchte. Es gibt zu beginn des 17. jahrhunderts in Frankreich berühmte irre, an denen sich das publikum, und zwar das gebildete publikum, gern belustigt; manche, wie Bluet d'Arberes, schreiben Bücher, die veröffentlicht und als werke des irrsinns gelesen werden. Bis ungefähr 1650 ist die abendländische kultur für diese formen der erfahrung seltsam aufnahmebereit gewesen

Mitte des 17. jahrhunders schlägt das plötzlich um; die welt des wahnsinns wird die welt der ausgeschlossenen.
Große internierungshäuser werden geschaffen (und zwar in ganz Europa), die nicht einfach dazu bestimmt sind, irre aufzunehmen, sondern eine ganze reihe höchst verschiedenartiger individuen, zumindest nach den kriterien unserer wahrnehmung: eingeschlossen werden arme invalide, alte leute im elend, bettler, hartnäckig arbeitsscheue, venerische sünder, libertins aller art, leute, denen ihre familie oder die königliche obrigkeit eine öffentliche bestrafung ersparen möchte, verschwenderische familienväter, kleriker im bannbruch, kurz alle, die hinsichtlich der ordnung, der vernunft, der moral und der gesellschaft anzeichen von zerrüttung zu erkennen geben ....
Diese häuser haben keinerlei medizinische aufgabe; man wird in sie nicht aufgenommen, um behandelt zu werden; man tritt ein in sie, weil man nicht länger teil der gesellschaft sein kann oder darf .... Aber es ist ein system, dessen ideal darin bestünde, vollständig in sich geschlossen zu sein: im Hopital general wie in den englischen workhouses , die ungefähr zur gleichen zeit entstanden sind, herrscht zwangsarbeit; man spinnt und webt dort, man stellt die verschiedensten gegenstände her, die zu niedrigem preis auf den markt geworfen werden, damit das spital vom erlös unerhalten werden kann. Aber die auferzwungene arbeit hat auch den charakter einer strafmaßnahme und einer moralischen kontrolle. Denn eben erst war in der entstehenden bürgerlichen welt ein hauptlaster, die sünde par excellence in der welt des handels, definiert worden: es ist nicht mehr der stolz oder die begierde, wie im mittelalter: es ist der müßiggang.
Die gemeinsame kategorie, unter der alle insassen der internierungshäuser zusammengefasst werden, ist die unfähigkeit, an der produktion, am umlauf oder an der akkumulierung der reichtümer mitzuwirken (sei es aus schuld oder aus zufall) ....
... der wahnsinn, der so lange offenbar und gesprächig, der so lange am horizont anwesend war, .... verschwindet. Er begibt sich ins schweigen, aus dem er lange zeit nicht mehr hervortreten wird; er ist seiner sprache beraubt; und wenn auch über ihn gesprochen werden konnte - ihm ist es unmöglich, über sich selbst zu sprechen. Unmöglich mindestens bis Freud .... Andererseits ist der wahnsinn in der internierung neue, seltsame verwandtschaften eingegangen. Der raum des ausschlusses, in dem die irren mit venerischen, libertins und vielen verbrechern, schwerverbrechern und harmloseren, in einer gruppe zusammengefasst waren, hat zu einer art obskurer assimilierung geführt; der wahnsinn ist mit der schuld in moralischer oder gesellschaftlicher hinsicht eine verwandtschaft eingegangen, aus der er sich so bald nicht lösen wird. Wundern wir uns nicht, dass man seit dem 18. jahrhundert einen engen zusammenhang zwischen dem wahnsinn und allen ``verbrechen aus liebe'' entdeckt hat, dass der wahnsinn seit dem 19. jahrhundert der erbe jener verbrechen geworden ist, die sowohl dafür, dass sie vorhanden sind, als auch dafür, dass sie keine verbrechen sind, in ihm den grund finden; dass der wahnsinn im 20. jahrhundert tief in sich selbst einen ursprünglichen kern von schuld und aggression entdeckt hat. Dies alles ist nicht die fortschreitende entdecklung dessen, was der wahnsinn in der wahrheit seines wesens ist, sondern nur die ablagerung dessen, was die geschichte des okzidents seit dreihundert jahren aus ihm gemacht hat. Der wahnsinn ist viel historischer, als man gewöhnlich annimmt, aber auch viel jünger.
Die internierung hat ihre ursprüngliche funktion - den wahnsinn zum schweigen zu bringen - nicht viel länger als ein jahrhundert beibehalten. Zu beginn des 18, jahrhunderts erwacht die unruhe aufs neue. Der irre taucht abermals in der vertrautesten umgebung auf; abermals begegnet man ihm im alltag, an dem er wieder teilnimmt .... Furcht der bevölkerung vor häusern .... die als herde des bösen gelten: jedermann verlangt die abschaffung der internierung. Was wird mit dem wahnsinn, wenn er seine alte freiheit wiedererlangt?

Aber die irren haben eben diese eigenheit, dass sie, in freiheit gesetzt, für ihre familie oder die gruppe, in der sie leben, gefährlich werden können .... Um dieses problem zu lösen, wurden während der revolution und im kaiserreich die alten internierungshäuser nach und nach den irren zugeteilt, und zwar ausschliesslich den irren . Demnach hat die philanthropie jener zeit alle befreit, ausser den irren; sie sind die natürlichen erben geworden, sie haben nun gleichsam einen privilegierten rechtsanspruch auf die alten ausschlussmaßnahmen.
Zweifellos gewinnt die internierung nun eine neue bedeutung: sie wird eine maßnahme mit medizinischem charakter ....
.... der geistesgestörte .... ihn heilen, sollte heissen, ihm die gefühle der abhängigkeit, der ergebenheit, der schuld und des dankes wieder einzuprägen, die das moralische rückgrat des familienlebens sind. Als mittel dazu wurden drohungen, bestrafungen, nahrungsentzug, demütigungen angewandt, kurz alles, was den irren infantil und schuldbewusst machen konnte .... der irre sollte in seinen gesten überwacht, in seinen ansprüchen gedrückt, in seinen wahnideen widerlegt, in seinen irrtümern lächerlich gemacht werden: jedem abweichen vom normalen sollte die strafe auf dem fusse folgen. Und zwar unter anleitung eines arztes, dem nicht so sehr eine therapie als eine ethische kontrolle oblag. Der arzt in der irrenanstalt ist ein agent der moralsynthesen

Das 19. jahrhundert perfektioniert dieses system, indem es ihm ausschliesslich strafenden charakter gibt ....
Von dieser zeit an wird der wahnsinn nicht mehr als ein gesamtphänomen betrachtet, das durch die zwischenglieder einbildungskraft und wahn körper und seele betrifft. In der neuen welt der anstalt, in dieser welt der strafenden moral, ist der wahnsinn etwas geworden, das wesentlich die menschliche seele, ihr schuldgefühl und ihre freiheit, betrifft; er ist jetzt in den bereich der innerlichkeit verlegt, und dadurch wird der wahnsinn zum erstenmal in der abendländischen welt nach status, struktur und bedeutung psychologisch.
Aber diese psychologisierung ist nur die oberflächliche folge eines unterschwelligen vorgangs, durch den der wahnsinn in das system moralischer werte und moralischen drucks eingespannt wird. Er wird in ein strafsystem einbezogen, in dem sich der irre, entmündigt, rechtskräftig dem kind gleichgestellt, und der wahnsinn, mit schuld behaftet, ursprünglich mit der sünde verknüpft sehen. Wundern wir uns also nicht, wenn die ganze psychopathologie - die mit Esquirol beginnende wie heute die unsere - von drei themen beherrscht wird, in denen ihre problematik definiert ist: das verhältnis zwischen freiheit und zwang; die regressionsphänomene und die struktur des kindlichen verhaltens; aggression und schuldgefühl. Was man mit der ``psychologie'' des wahnsinns entdeckt, ist nur das ergebnis der vorgänge, durch die sie eingesetzt wurde. Diese ganze psychologie würde nicht bestehen ohne den moralsadismus, in dem die ``philanthropie'' des 19. jahrhunderts den wahnsinn unter dem heuchlerischen anschein einer ``befreiung'' eingeschlossen hat

Anders gewendet: der mensch ist eine psychologisierbare gattung erst geworden, seit sein verhältnis zum wahnsinn eine psychologie ermöglicht hat, d.h. seit sein verhältnis zum wahnsinn äusserlich durch ausschluss und bestrafung und innerlich durch einordnung in die moral und durch schuld definiert worden ist ....
Die ``psychologie'' ist nur eine dünne haut über der ethischen welt, in der der moderne mensch seine wahrheit sucht - und verliert. Nietzsche, den man das gegenteil hat sagen lassen, hatte es gesehen.
Ein psychologie des wahnsinns kann demzufolge nur lächerlich sein, und dennoch rührt sie ans wesentliche .... Niemals wird die psychologie die wahrheit über den wahnsinn sagen können, weil im wahnsinn die wahrheit der psychologie beschlossen liegt .... Bis in ihre wurzeln hinabgetrieben, wäre die psychologie des wahnsinns nicht bemeisterung des geisteskrankheit und damit möglichkeit ihres verschwindens, sondern zerstörung der psychologie selbst und zutagefördern jenes wesentlichen, nicht psychologischen, weil nicht moralischen verhältnisses zwischen der vernunft und der unvernunft.
Dieses verhältnis ist in den werken Hölderlins, Nervals, Roussels und Artauds gegenwärtig und sichtbar, allen Miseren der psychologie zum trotz, und verheisst dem menschen, dass er eines tages vielleicht, aller psychologie ledig, frei sein könnte für die große tragische begegnung mit dem wahnsinn

Was hier gesagt wurde, gilt nicht als kritik a priori eines jeden versuchs, die phänomene des wahnsinns zu umreissen oder eine heiltaktik zu definieren

So hat die renaissance nach der großen angst vor dem gespenst des todes, vor den apokalypsen und den schrecken des jenseits in dieser welt eine neue gefahr gespürt: die aus dem innern, sozusagen aus den verborgenen ritzen der erde heraufdrängende invasion des irrsinns, der die jenseitige und die diesseitige welt auf dieselbe ebene, gleichsam auf ein und dieselbe erde stellt, so dass man nicht mehr weiss, ob unsere welt sich in einem phantastischen trugbild verdoppelt oder ob nicht vielmehr die jenseitige sich ihrer bemächtigt hat, oder ob es nicht letzten endes das geheimnis unserer welt war, hier und jetzt, ohne dass wir es wissen, die jenseitige zu sein .... Ein ganzes spiel zeichnet sich ab, das die renaissance beherrscht: nicht das skeptische spiel einer vernunft, die ihre grenzen erkennt (s.u. *) , sondern das härtere, gewagtere, ernsthafter ironische spiel einer vernunft, die ihre partie gegen den irrsinn spielt
* Anmerkung von men-kau-ra:
Das Wissen kennt nicht nur sich, sondern auch das Negative seiner selbst oder seine Grenze.
Seine Grenze wissen heißt, sich aufzuopfern wissen
Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes
Das zitat in erweiterter fassung
back to HPD in case you called from there

Jede kultur hat ihre besondere schwelle, die sich analog zur ausgestaltung dieser kultur entwickelt; seit der mitte des 19. jahrhunderts hat sich die schwelle der empfindlichkeit für wahnsinn in unserer gesellschaft erheblich gesenkt ....
An die höhe der schwelle gebunden, aber relativ unabhängig von dieser selbst ist schließlich die toleranz gegenüber dem dasein des irren überhaupt. Im heutigen Japan ist der prozentsatz der von ihrer umgebung als solcher erkannten irren etwa derselbe wie in den Vereinigten Staaten; aber hier ist die intoleranz groß, d.h. die gesellschaftsgruppe (im wesentlichen die familie) ist nicht in der lage, den der norm nicht entsprechenden menschen zu integrieren oder einfach anzunehmen; sofort wird die hospitalisierung, der aufenthalt in der klinik oder einfach die trennung von der familie gefordert. In Japan dagegen ist die mitwelt viel toleranter und die hospitalisierung bei weitem nicht die regel

Selbst zum schweigen gebracht, selbst ausgeschlossen, hat der wahnsinn den wert einer sprache, und seine inhalte empfangen ihren sinn aus dem, was ihn als wahnsinn herausstellt und abweist ....
Damit der kranke zum kindlichen verhalten zuflucht nimmt, damit das wiederauftreten dieses verhaltens als eine irreduzible pathologische tatsache angesehen werden kann, muss die gesellschaft zwischen gegenwart und vergangenheit einen abstand gelegt haben, der weder überschritten werden kann noch darf; muss die kultur die vergangenheit nur als eine zum verschwinden gebrachte integrieren können. Unsere kultur trägt dieses kennzeichen. Als das 18. jahrhundert mit Rousseau und Pestalozzi sich bemühte, dem kind durch pädagogische regeln, die seiner entwicklung angepasst sind, eine welt nach seinem maß zu errichten, hat es damit zugelassen, dass ein irreales, abstraktes, archaisches milieu ohne beziehung zur welt der erwachsenen um die kinder aufgebaut wurde. Die ganze entwicklung der zeitgenössischen pädagogik, mit dem untadeligen ziel, das kind vor den konflikten der erwachsenen zu bewahren, lässt im erwachsenen den abstand zwischen seinem leben als kind und seinem leben als fertiger mensch nur desto stärker hervortreten. Das heisst, sie setzt das kind, um ihm konflikte zu ersparen, einem besonders schweren konflikt aus, dem widerspruch nämlich zwischen seiner kindheit und seinem wirklichen leben .... nimmt man hinzu, dass eine gesellschaft in ihrer pädagogik ihr goldenes zeitalter träumt ...., so begreift man, dass diese pathologischen fixierungen und regressionen nur in einer bestimmten kultur möglich sind .... Als hintergrund dient diesen pathologischen formen der konflikt einer gesellschaft zwischen den formen der kindererziehung, in der sie ihre wunschträume verbirgt, und den lebensbedingungen für die erwachsenen, an denen sich im gegensatz dazu ihre reale gegenwart und ihr elend ablesen lassen .... Den historischen horizont der psychologischen regressionen bildet also ein konflikt kultureller themen, deren jedes durch bestimmte chronologische kennzeichen auf seinen geschichtlichen ursprung hinweist

Wenn die krankheit in der verflechtung widersprüchlicher verhaltensweisen eine bevorzugte ausdrucksart findet, so bedeutet das nicht, dass die elemente des widerspruchs als segmente des des konflikts im menschlichen unbewussten nebeneinander stehen, es bedeutet nur, dass der mensch eine widersprüchliche erfahrung vom menschen macht .... Das system der ökonomischen verhältnisse verbindet ihn mit den anderen - aber nur durch die negative bindung der abhängigkeit; die gesetze der koexistenz, die ihn mit seinesgleichen in ein und demselben schicksal vereinen, bringen ihn auch in gegensatz zu ihnen - in einem kampf, der paradoxerweise nur die dialektische form dieser gesetze ist; die universalität der ökonomischen und sozialen bindungen lässt ihn die welt als vaterland erkennen und eine gemeinsame bedeutung dieser welt im blick jedes menschen ablesen, aber diese bedeutung kann ebensogut die einer gegnerschaft sein, und dieses vaterland kann ihn als fremden bloßstellen. Der mensch ist für den menschen sowohl antlitz seiner eigenen wahrheit als auch die eventualität des todes geworden

Wenn das krankhafte bewusstsein sich einer wahnwelt öffnet, heisst das nicht, dass es sich durch einen imaginären zwang fesseln anlegt; sondern unter einem wirklichen zwang flüchtet das bewusstsein in eine krankhafte welt, in der es, ohne ihn wiederzuerkennen, denselben wirklichen zwang wiederfindet: man überschreitet die wirklichkeit ja nicht dadurch, dass man ihr entrinnen möchte

Sondern wenn der mensch dem, was in seine sprache eingeht, fremd bleibt, wenn er an dem, was seine tätigkeit hervorbringt, keine lebendige menschliche bedeutung mehr erkennen kann, wenn die ökonomischen und sozialen bestimmungen ihm zwang antun, ohne dass er in dieser welt sein vaterland erkennen kann - dann lebt er in einer kultur, die eine pathologische form wie die schizophrenie möglich macht; fremd in einer realen welt, ist er auf eine ``private'' welt angewiesen, die durch keinerlei objektivität mehr gewährleistet werden kann; dem zwang dieser realen welt dennoch unterworfen, erlebt er das universum, in das er flüchtet, als ein schicksal. Die gegenwärtige welt macht die schizophrenie möglich, nicht weil sie durch ihre ereignisse unmenschlich und abstrakt wäre, sondern weil unsere kultur diese welt auf eine solche weise liest, dass der mensch sich nicht mehr in ihr erkennen kann. Einzig und allein der reale konflikt der existenzbedingungen kann als strukturmodell für die paradoxe der schizophrenen welt dienen. ....
In wirklichkeit lässt sich allein in der geschichte das einzige konkrete apriori entdecken, aus welchem die geisteskrankheit mit der leeren öffnung ihrer möglichkeit ihre notwendigen figuren hernimmt

Die psychologischen dimensionen des wahnsinns können also nicht von einem ihnen äusserlichen erklärungs- oder reduktionsprinzip zurückgedrängt werden. Sondern sie sind anzusetzen in dem allgemeinen verhältnis, das vor fast zweihundert jahren der mensch des okzidents zu sich selbst hergestellt hat. Dieses verhältnis ist, vom spitzesten winkel aus gesehen, eben die psychologie, in die er ein wenig von seinem staunen, viel von seinem stolz und das wesentliche seiner fähigkeit zu vergessen gelegt hat; unter weiter geöffnetem winkel ist es das hervortreten - in den formen des wissens - eines homo psychologicus , dem es aufgegeben ist, die innere, fleischlose, ironische und positive wahrheit alles selbstbewusstseins und aller möglichen erkenntnisse in sich zu versammeln; in der weitesten öffnung schliesslich ist es dasjenige verhältnis, durch welches der mensch sein verhältnis zur wahrheit ersetzt hat, indem er diese in das grundlegende postulat entfremdete: er selbst sei die wahrheit der wahrheit.
Dieses verhältnis, das jede mögliche psychologie philosophisch begründet, konnte nur zu einer bestimmten zeit in der geschichte unserer kultur definiert werden: zu der zeit nämlich, wo die große konfrontierung der vernunft mit der unvernunft sich nicht länger in der dimension der freiheit abgespielt hat, wo die vernunft für den menschen aufgehört hat, eine ethik zu sein, um statt dessen eine natur zu werden. Damals ist der wahnsinn die natur der natur geworden, d.h. die natur entfremdender und in ihrem determinismus verkettender prozess, während gleichzeitig die freiheit ebenfalls die natur der natur wurde, aber im sinn einer heimlichen seele, eines unentfremdbaren wesens der natur. Und anstatt vor die große wende des irsinns gestellt zu sein und in die dimension, die sie eröffnet, ist der mensch auf der ebene seines natürlichen seins das eine und das andere geworden, wahnsinn und freiheit, und hat kraft seines privilegierten wesens das recht auf sich versammelt, die natur der natur und die wahrheit der wahrheit zu sein.
Dass die psychologie niemals den wahnsinn meistern kann, hat seinen guten grund: die psychologie ist in unserer welt erst möglich geworden, als der wahnsinn bereits gemeistert, als er vom drama schon ausgeschlossen war. Und wenn er, ein blitz, ein schrei, bei Nerval oder bei Artaud, bei Nietzsche oder Roussel wieder auftaucht, so verstummt die psychologie ihrerseits und steht wortlos vor dieser sprache, die den sinn ihrer worte jenem tragischen aufriss und jener freiheit entlehnt, denen gegenüber die blosse existenz von ``psychologen'' dem heutigen menschen ein bedrückendes vergessen gewährleistet

Michel Foucault, Psychologie und Geisteskrankheit, edition suhrkamp 272, 6. Auflage (1980)
(Maladie mentale et Psychologie, Presses Universitaires de France, Paris (1954)



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Der Übergang in das Zeitalter des Intellekts
Lila oder ein Versuch über Moral - Lila: An Inquiry into Morals, Robert Maynard Pirsig

Alma Books, Richmond, London, Jahr ???, 443 Seiten; Ersterscheinung 1991

Vom Kampf der widerspenstigen Statik gegen die dynamische Entwicklung
Vom Umgang der Gesellschaft mit Gegenentwürfen der "Geisteskranken"

Metaphysics of Quality and cultural change
The hurricane of social forces released by the overthrow of society by intellect was most strongly felt in Europe, particularly Germany, where the effects of World War I were the most devastating. Communism and socialism, programmes for intellectual control over society, were confronted by the reactionary forces of fascism, a programme for the social control of intellect. Nowhere were the intellectuals more intense in their determination to overthrow the old order. Nowhere did the old order become more intent on finding ways to destroy the excesses of the new intellectualism.
  Phædrus thought that no other historical or political analysis explains the enormity of these forces as clearly as does the Metaphysics of Quality. The gigantic power of socialism and fascism, which have overwhelmed this century, is explained by a conflict of levels of evolution. This conflict explains the driving force behind Hitler not as an insane search for power but as an all-consuming glorification of social authority and hatred of intellectualism. His anti-Semitism was fuelled by anti-intellectualism. His exaltation of the German volk was fuelled by it. His fanatic persecution of any kind of intellectual freedom was driven by it.
  In the United States the economic and social upheaval was not so great as in Europe, but Franklin Roosevelt and the New Deal, nevertheless, became the centre of a lesser storm between social and intellectual forces. The New Deal was many things, but at the centre of it all was the belief that intellectual planning by the government was necessary for society to regain its health (chapter 22, page 296f)
  And so, from the idea that society is man's highest achievement, the twentieth century moved to the idea that intellect is man's highest achievement. Within the academic world everything was blooming. University enrolments zoomed. The Ph.D. was on its way to becoming the ultimate social status symbol. Money poured in for education in a flood the academic world had never seen. New academic fields were expanding into new undreamt-of territories at a breathless pace, and among the most rapidly expanding and breathless fields of all was one that interested Phædrus more than any other: anthropology (p298)

Society and the insane
  He never forgot what he saw, that Ellen wasn't frightened of the insanity. She was frightened of them.
  That was the hardest thing to deal with during his own commitment. Not the insanity. That came naturally. The hardest thing to deal with was the righteousness of the sane.
  When you're in agreement with the sane they're a great comfort and protection, but when you disagree with them it's another matter. Then they're dangerous. Then they'll do anything. The sinister thing that struck the most fear in him was what they'd do in the name of kindness. The ones he cared about most and who cared about him most, all of them suddenly turned against him the same way they had against Ellen. They kept saying, "There's no way we can reach you. If only we could make you understand." (chapter 25, p345)
  There was a famous experiment where a sane person went on to a ward disguised as insane. The staff never detected his act, but the other patients did. The patients saw he was acting. The hospital staff, who were playing standard social roles of their own, couldn't detect the difference.
  Insanity as an absence of common characteristics is also demonstrated by the Rorschach ink-blot test for schizophrenia. In this test, randomly formed ink splotches are shown to the patient and he is asked what he sees. If he says, " I see a pretty lady with a flowering hat," that is not a sign of schizophrenia. But if he says, " All I see is an ink-blot," he is showing signs of schizophrenia. The person who responds with the most elaborate lie gets the highest score for sanity. The person who tells the absolute truth does not. Sanity is not truth. Sanity is conformity to what is socially respected. Truth is sometimes in conformity, sometimes not (chapter 26, p362f)
  When the culture asks, " Why doesn't this person see things the way we do?" you can't answer that he doesn't see them because he doesn't value them. He's gone into illegal value patterns because the illegal patterns resolve value conflicts that the culture's unabe to handle. The causes of insanity may be all kinds of things, from chemical imbalances to social conflicts. But insanity has solved these conflicts with illegal patterns which appear to be of higher quality (chapter 29, p385)
  And Lila's battle is everybody's battle, you know? Sometimes the insane and the contrarians and the ones who are the closest to suicide are the most valuable people society has. They may be precursors of social change. They've taken the burdens of the culture onto themselves, and in their struggle to solve their own problems they're resolving problems for the culture as well (p390)
  What's wrong with insanity is that she's outside any culture. She's a culture of one. She has her own reality which no other culture is able to see. That's what had to be reconciled. It could be that if he just didn't give her any problems for the next few days he culture of one might just clear the whole thing up by itself.
  He wasn't going to send her to any hospital. He knew that now. At a hospital they'd just start shooting her full of drugs and tell her to adjust. What the wouldn't see is that she is adjusting. That's what insanity is. She's adjusting to something. The insanity is the adjustment. Insanity isn't necessarily a step in the wrong direction, it can be an intermediate step in a right direction. It wasn't necessarily a disease. It could be part of a cure (chapter 30, p401)
  Thus, when sane, grown men in Italy and Spain carry statues of Christ through the streets, that's not an insane delusion. That's a meaningful religious activity because there are so many of them. But if Lila carries a rubber statue of a child with here whereever she goes, that's an insane delusion because there's only one of her (p402)
  That's what Lila's involved in now, a huge vacation, an emptying out of the junk of her life. She's clinging to some new pattern because she thinks it holds back the old pattern. But what she has to do is take a vacation form all patterns, old and new, and just settle into a kind of emptiness for a while. And if she does, the culture has a moral obligation not to bother her. The most moral activity of all is the creation of space for life to move onwards (p407)


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Claude Levi-Strauss, Das Ende des Totemismus

Die hochflut der hysterie und die des totemismus fallen zeitlich zusammen und sind im gleichen zivilisationsmilieu entstanden ....
Die erste lektion der kritik Freuds an der hysterie-these von Charcot bestand darin, uns zu überzeugen, dass es keinen wesentlichen unterschied zwischen den gesundheits- und krankheitszeichen des geistes gebe; dass sich von einem zum anderen höchstens eine veränderung im ablauf allgemeiner vorgänge vollziehe, die jeder an sich selbst beobachten könne; und dass infolgedessen der kranke unser bruder ist, da er sich höchstens durch eine - ihrer natur nach geringe, ihrer form nach zufällige, in ihrer definition willkürliche und, wenigstens der theorie nach, temporäre - verwirrung einer historischen entwicklung unterscheidet, die jeder individuellen existenz zugrundeliegt. ....
Und genauso durfte, damit der malerische akademismus ruhig schlafen konnte, Greco kein gesundes wesen sein, das imstande war, gewisse darstellungsweisen der welt abzulehnen, sondern nur ein kranker ....
Indem man aus dem hysteriker oder dem maler mit neuen tendenzen anomale machte, gestattete man sich den luxus, zu glauben, sie gingen uns nichts an und sie brächten eine soziale, moralische oder intellektuelle ordnung, die man angenommen hatte, nicht bereits auf grund ihrer existenz in gefahr.
....
Es ist also kein zufall, dass Frazer aus dem totemismus und der unkenntnis der physiologischen vaterschaft ein amalgam machte: der totemismus rückt den menschen und das tier aneinander, und die angebliche unkenntnis der vaterrolle bei der zeugung ersetzt dann schliesslich den menschlichen erzeuger durch geister, die den naturkräften noch näher stehen. ....
Um die denkweise des normalen, des weissen und erwachsenen menschen in ihrer integrität zu erhalten und zugleich zu begründen, konnte also nichts bequemer sein, als draussen, ausserhalb seiner, sitten und glaubenshaltungen - in wahrheit sehr heterogene und schwer isolierbare dinge - zu sammeln, um welche herum sich ideen in einer leblosen masse lagern würden, die weniger inoffensiv gewesen wären, wenn man ihr vorhandensein und ihr wirken in allen zivilisationen einschliesslich der unseren hätte erkennen müssen. Der totemismus ist zunächst das hinauswerfen von geisteshaltungen aus unserer welt, gleichsam eine hexenaustreibung von geisteshaltungen, die unvereinbar sind mit der forderung einer diskontinuität zwischen mensch und natur, die das christliche denken für wesentlich hielt. ....
....
In Social Structure (1949) entschuldigt sich Murdock, dass er die frage des totemismus nicht behandelt, und bemerkt dazu, dieser greife auf der ebene der formalen strukturen sehr wenig ein: ``... wenn man voraussetzt, dass die sozialen gruppen benannt werden müssen, haben tiernamen eine ebenso große chance, verwendet zu werden, wie irgendwelche anderen.'' (S. 50)
Eine merkwürdige untersuchung von Linton hat sicher zu der wachsenden gleichgültigkeit der amerikanischen gelehrten gegenüber einem einst so umstrittenen problem beigetragen:
Wärend des ersten weltkrieges hatte Linton zur 42. Division oder ``Division Regenbogen'' gehört, ein name, der vom generalstab willkürlich gewählt worden war, weil diese division einheiten zusammenfasste, die aus zahlreichen staaten kamen, so dass die farben ihrer regimenter so unterschiedlich waren wie die des regenbogens. Seit aber die division in Frankreich eingetroffen war, wurde dieser name allgemein gebraucht; ``Ich bin ein regenbogen'', antworteten die soldaten auf die frage: ``Zu welcher einheit gehören Sie?''
Gegen Februar 1918, das heisst fünf oder sechs monate, nachdem die division ihren namen erhalten hatte, war es allgemein üblich, dass das erscheinen eines regenbogens für sie ein glückliches vorzeichen bedeutete. Drei monate später behauptete man - selbst wenn die wetterbedingungen ganz unvereinbar damit waren -, man sehe einen regenbogen, wenn die division in den einsatz ging.
.... So dass am ende des krieges das amerikanische expeditionskops ``in einer reihe von genau definierten und oft aufeinander eifersüchtigen gruppen organisiert war, deren jede sich durche ein besonderes emblem von ideen oder praktiken charakterisierte'' (S. 298). ....
`` .... Zweifellos ist hier der inhalt sehr ärmlich, wenn man ihn mit dem hochentwickelten totemismus der Australier und der Melanesier vergleicht, aber er ist ebenso reich wie die totemistischen komplexe der nordamerikanischen stämme. Der hauptunterschied im vergleich zum echten totemismus liegt in dem fehlen der heiratsregeln und dem des glaubens an eine erbbindung oder an eine einfache verwandtschaft mit dem totem.''
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.... 6. Auflage (1951) der Notes and Queries on Anthropology .... von dem .... Royal Anthropological Institute .... ``Im weitesten Sinne kann man von totemismus sprechen, wenn: 1. der stamm oder die gruppe aus (totemistischen) gruppen besteht, auf die die gesamtheit der bevölkerung verteilt ist und deren jede gewisse beziehungen zu einer klasse von lebendigen oder leblosen wesen (totem) unterhält; 2. wenn die beziehungen zwischen den sozialen gruppen und den wesen oder objekten alle allgemein vom gleichen typus sind; 3. ein beliebiges mitglied einer gruppe seine zugehörigkeit nicht wechseln kann (ausser unter besonderen umständen, wie der adoption).'' ....
Die tierwelt und die pflanzen werden nicht nur herangezogen, weil sie da sind, sondern weil sie dem menschen eine denkmethode bieten. Der zusammenhang zwischen der beziehung des menschen zur natur und der charakterisierung der sozialen gruppen , den Boas für zufällig und willkürlich hält, erscheint nur so, weil die wirkliche bindung zwischen den beiden ordnungen indirekt ist und weil sie durch den geist geht. Dieser setzt eine homologie nicht so sehr innerhalb des benennungssystems voraus, als vielmehr zwischen den unterschiedlichen abständen, die einerseits zwischen der gattung x und der gattung y, andererseits zwischen dem clan a und dem clan b existieren.
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Das huhn und das schwein - zwei aus Europa stammende tiere - dienten dazu, den mischlingen aus indianerfrau und weissem einen konventionellen clan zuzuweisen (wegen der matrilinearen abstammung, die sie sonst des clans beraubt hätte).
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Es ist eindrucksvoll, dass durch eine art wechselwirkung die speiseverbote in den gesellschaften mit patrilinearen clans geschmeidiger sind und zuweilen gar nicht bestehen (wie bei den Yaralde), während die strengen formen immer an die matrilinearen clans gebunden zu sein scheinen.
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Was die kulte anbelangt, so entsprechen sie dem wunsch, die gattung zu kontrollieren, mag diese nun essbar, nützlich oder gefährlich sein, und der glaube an eine solche kraft lässt die idee einer lebensgemeinschaft entstehen: mensch und tier müssen an der gleichen natur teilhaben, damit der erstere über das letztere verfügen kann. Daraus ergeben sich ``offensichtliche einschränkungen'', wie das verbot, das tier zu töten oder zu essen, sowie die korrelative behauptung der dem menschen zugedachten macht, seine vermehrung hervorzurufen.
Die letzte frage betrifft das zusammenwirken eines soziologischen und eines religiösen aspektes im totemismus, denn bisher ist nur der erstere ins auge gefasst worden. Aber jedes ritual tendiert zur magie, und jede magie zur individuellen oder auf die familie begründeten spezialisierung ....
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Mit hilfe einer speziellen nomenklatur, die aus tier- und pflanzennamen gebildet wird (da liegt ihr einziger unterscheidungscharakter), drückt der sogenannte totemismus auf seine weise .... wechselbeziehungen und gegenüberstellungen aus .... himmel-erde, krieg-frieden .... deren allgemeinstes modell und deren systematischste anwendung man vielleicht in China in dem gegensatz der beiden prinzipien von Yang und Yin antrifft: männlich und weiblich, tag und nacht, sommer und winter, aus deren vereinigung eine organisierte ganzheit (tao) hervorgeht: das eheliche paar, ein ganzer tag oder ein rundes jahr. So lässt sich der totemismus zurückführen auf eine besondere art und weise, eine allgemeines problem zu formulieren: man muss so verfahren, dass der gegensatz, anstatt der integration ein hindernis zu sein, vielmehr dazu dient, diese zu schaffen.
.... Endlich begreift man, dass die natürlichen gattungen nicht ausgewählt werden, weil sie ``gut zu essen'' sind, sondern weil sie ``gut zu denken'' sind .... Die begriffe gegensatz und wechselbeziehung, der begriff des gegensatzpaares haben eine lange geschichte. Aber die strukturale linguistik und in ihrem gefolge die strukturale anthropologie haben sie in dem vokabular der wissenschaften vom menschen wieder zu ehren gebracht ....
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Die anthropologie bringt so in jeder ihrer praktischen unternehmungen eine strukturähnlichkeit zwischen dem menschlichen denken bei der arbeit und dem menschlichen gegenstand, auf den es sich richtet zum ausdruck. Die methodologische integration von inhalt und form spiegelt auf ihre weise eine weit wesentlichere integration wider: die der methode und der wirklichkeit.
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Zwischen der logik des religiösen denkens und der logik des wissenschaftlichen denkens tut sich also kein abgrund auf.
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Das ist für Rousseau auch gleichzeitig das verfahren der sprache selbst: ihr ursprung liegt nicht in den bedürfnissen, sondern in den leidenschaften, und daraus ergibt sich, dass die erste sprache figuriert gewesen sein muss ....
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Claude Levi-Strauss, Das Ende des Totemismus, (Le Totemisme aujourd'hui), 1962, Presses Universitaires de France, Paris, deutsche Ausgabe Suhrkamp, edition Suhrkamp 128, 4. Auflage, 1972



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Hans Peter Duerr, Traumzeit - Über die Grenze zwischen Wildnis und Zivilisation

Wenn also ein Geiler sagen konnte [der bekannte und wortgewaltige Fastenprediger Johann Geiler von Kaisersberg im Jahre 1508 in Straßburg von der Kanzel herunter], die nachtfahrenden phantasierten nur, die hexen flögen wirklich, dann hatte er in gewisser weise recht. Die wirklichkeit der nachtfahrenden war dahin, und keine theorien à la Margaret Murray [cf Murray, M.A., The Witch-Cult in Western Europe, London 1921 und The God of the Witches, London 1931] können sie für den beginn der neuzeit zum leben erwecken. Doch die hexe war - wenn auch als zerrbild - die wirklichkeit einer zukunft, die nicht wahr werden durfte.

Da das schiff im wasser, also gewissermaßen im >Niemandsland< schwamm, war es an die gesetze von irgend jemandes land nicht gebunden, und es nimmt nicht wunder, im ausgehenden mittelalter die >gesetzlosen< narren oft auf schiffen dargestellt zu sehen (Abb. 7 [Hieronymus Bosch, Das Narrenschiff]). Fuhr nun gar ein schiff über >Jemandesland<, dann kam dies einem einbruch des chaos in die ordnung gleich

>Zwischen den Zeiten<, wenn die alte zeit vergangen und die neue noch nicht angebrochen ist, stehen die dinge ausserhalb der normalität, die ordnung ist verkehrt und zugleich in ihrer weiterexistenz bedroht. Jetzt stehen die mächte der ordnung und die mächte des chaos miteinander im kampf.
Spuren eines solchen kampfgeschehens finden sich bisweilen noch in einigen aussagen, die während der hexenprozesse des ausgehenden mittelalters gemacht wurden ....

[Bei] jenen Schweizer burschen ... wird es sich um nachlebsel jener bünde gehandelt haben, deren mitglieder einstmals als kinder in der wildnis >sterben< mussten, um als erwachsene in die ordnung >wiedergeboren< zu werden, und die >zwischen den zeiten< ausserhalb des gesetzes lebten. ....
Gerade weil diese burschen ausserhalb der ordnung standen, konnten sie ursprünglich die ordnung erkennen und damit aufrechterhalten, und weil sie gewissermaßen >unbeteiligte< waren, durften sie rügen und damit richten

Entgegen dem, was heutzutage die philosophen lieben und was sie >kritische selbstreflektion< nennen, eine technik, die es angeblich möglich macht, unseren horizont von innen heraus, aus sich selber verständlich zu machen, hatten die archaischen menschen noch die einsicht, dass man seine welt verlassen musste, um sie erkennen zu können, dass man nur >zahm< werden konnte, wenn man zuvor wild gewesen war, oder dass man nur dann in der lage war, im vollen sinne des wortes zu leben, wenn man die bereitschaft gezeigt hatte, zu sterben.
Um also innerhalb der ordnung leben zu können, um mit bewusstsein zahm zu sein, musste man in der wildnis verweilt haben, man konnte nur wissen, was das drinnen bedeutete, wenn man draussen gewesen war.
Die göttin des >draussen< war die Artemis-Diana, einstmals die wilde mutter der vegetation. Wir haben gesehen, wie diese >>Löwin der Weiber<< von den Indoeuropäern auf eine ganz andere weise gezähmt wurde, wie man sie keusch und spröde machte, und wie man sie >jungferte<, wie sie sich nicht länger die männer in ihren schoß holte, sondern sich gegen die männer sträubte, die ihr bisweilen nachstellten, um sie nackt beim baden zu beobachten. Diese Diana sollte später mit der Heiligen Jungfrau verglichen werden; bei den Renaissancemalern verwandelte sie sich schließlich in ein kokettes weib, das sich den blicken der männer zugleich entzog und diese lockte. (Abb. 9 [Schule von Fontainebleau, Diana]) ....
Der >Kult der Großen Mutter< versickerte .... Denn der beischlaf hört immer mehr auf, erkenntnis zu sein, er entwickelt sich zur drohenden gefahr. Die vagina hat zähne. Sie frisst und verschlingt

Die stets komplexer werdende zivilisation verliert das wissen um diese dinge. Sie begegnet dem jenseitigen von nun an, indem sie dessen erfahrung zunehmend unterbindet, verdrängt, oder später >spiritualisiert< und >subjektiviert<. Hier liegt die wurzel aller >projektionstheorien<, wie sie eines tages von Feuerbach und Marx, von psychoanalytikern und positivistischen ideologiekritikern entwickelt werden sollten. Das >draussen< rutscht nach innen, und wenn es mitunter dennoch nicht seinen ursprünglichen charakter verleugnen kann, wird es als >projiziert< wieder der subjektivität einverleibt. >>Es darf überhaupt nichts mehr draussen sein, weil die bloße vorstellung des draussen die eigentliche quelle der angst ist<< [Max Horkheimer, Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung, Frankfurt/M 1969 p22]

Denn die christliche kultur hatte damit begonnen, eine neue form von ordnung aufzubauen, die weniger die anerkennung der >anderen seite< ihrer selbst als deren verdrängung und schließliche vernichtung erforderlich machte.
Der erste schritt bestand gewissermaßen in der >dämonisierung des dämonischen<. Menschen konnten keine strigen [hexen] sein, und menschen konnten auch nicht an den nächtlichen fahrten der Diana teilnehmen. Man versuchte also, die hagazussa [diejenige, die auf dem hag, der hecke, dem zaun saß] vom zaun zu verscheuchen, sie von der grenze der kultur in die wildnis, von der dämmerung in die nacht zu jagen.
Der zweite schritt wurde notwendig, als man fühlte, dass diese dämonen mit solch leichter hand nicht zu entmachten waren, dass sie vielmehr tiefliegenden bedürfnissen der menschen entsprachen, die sich nicht so einfach auflösen oder durch etwas anderes ersetzen ließen.
Die Heilige Jungfrau etwa, sinnbild dafür, dass die frau nur als unberührtes mädchen und als mutter, beidesmal züchtig und asexuell, geltung beanspruchen darf, konnte gerade noch als substitut für die etwas zickig gewordene schwester des apollo hingenommen werden. Doch als ersatz für die nicht gerade zugeknöpfte Diana der Epheser, um nur ein beispiel zu nennen, konnte das kaum angehen.
Die dämonen nun, die man in die wildnis, weitab von den menschen, getrieben hatte, kehrten in veränderter gestalt und auf weitaus bedrohlichere weise zurück. Sie begnügten sich nicht länger damit, auf dem zaun zu hocken, sondern schlichen nachts die kellertreppe herauf und schlugen an die türen. Jetzt drohte die hexe nicht mehr von aussen, sie erwachte im inneren

Wir können also .... zweierlei feststellen. Das verrutschen der schamgrenze, die wachsende befangenheit etwa gegenüber dem nackten körper entwickelte sich nicht in einem allmählichen prozess der zivilisierung. Vielmehr erlebte das späte mittelalter, vielleicht besonders zur zeit der großen pest, als der Tod vor allem in den städten zahlreiche menschen hinwegraffte, eine befreiung der sinnlichkeit auf allen ebenen des lebens. Aber diese sinnlichkeit, die sich hier bahn brach, war nicht nur eine >kindliche<, unbefangene. Sie war auch oft eine ganz bewusste und herausfordernde, ja, man hat beispielsweise die mode des 14. jahrhunderts als eine ausgesprochen >>aggresive<< charakterisiert ....
Diese frau des späten mittelalters war in die domäne des mannes eingebrochen .... Sie fand einlass in berufszweige, die ehedem den männern vorbehalten waren, sie durfte ordnungsgemäß ein handwerk erlernen und meisterin werden ...

Der blick dieser frau [Abb. 14 Hans Baldung Grien, Zwei Hexen (1523)] sagt jedoch nicht - wie wir es von den meisten aktbildern insbesondere der späteren zeit her gewohnt sind - >Ich will Dir gehören<, er ist kein ausdruck des anbietens oder der unterwerfung, in ihm stellt sich viel eher ihre eigene, aggressive sinnlichkeit dar

Es hat den anschein, dass zu allen zeiten und in den verschiedensten kulturen lange und insbesondere aufgelöste, wirre und wehende haare als ein zeichen dafür galten, dass der oder die betreffende sich, wie die soziologen sagen, der sozialen kontrolle entzog oder dass diese menschen zumindest dem druck der konventionen in geringerem maße ausgeliefert waren. Die christlichen anachoreten beispielsweise liefen nackt und ließen ihre haare wuchern, um zu demonstrieren, dass sie >wild< geworden waren und ihre zivilisation verlassen hatten. Was in ihrem falle jedoch ein zeichen äusserster demut vor Gott war - das opfer ihrer kultur -, war bei der hexe ein zeichen extremer rebellion: ihr die haare abzuschneiden war demütigung und wiedereingliederung in die kultur zumal

Die Furcht vor dem Tode ist das beste Zeichen eines falschen, das heisst schlechten Lebens [Ludwig Wittgenstein]
.... Nur an demjenigen durfte man die todesstrafe vollstrecken, der zuvor für friedlos erklärt, der aus der gemeinschaft ausgestoßen wurde, ein akt, dessen bedeutsamkeit für die seele eines menschen wir heute kaum noch nachempfinden können.
Überdies hat es den anschein, dass in grauer vorzeit nur derjenige töten durfte, der ebenfalls kurzfristig aus dem verband der lebenden ausgetreten und ein toter geworden war, eine tatsache, die vielleicht in der mittelalterlichen >unehrlichkeitserklärung< des henkers und scharfrichters noch von fern nachklingt

Wer mit bewusstsein innerhalb des zaunes leben wollte, der musste zumindest einmal im leben diese einfriedung verlassen haben, der musste als ein wolf, als >wilder< durch die wälder geschweift sein, oder moderner ausgedrückt: er musste die wildnis in sich selber, seine tiernatur, erlebt haben. Denn seine >kulturelle natur< war nur die eine seite seines wesens, schicksalhaft gebunden an die tierhafte fylgja, die demjenigen sichtbar wurde, der den hag überschritt, der sich seinem >zweiten gesicht< überließ

Die weissen erscheinen denen, die sie einst mit einem gewissen recht >wilde< nannten (denn diese hatten noch ein bewusstsein ihrer wildnis), als menschen, welche die >>Insel des tonal<< über die maßen aufblähen und erweitern, oder anders ausgedrückt, die glauben, dass die zivilisation >innerhalb< des zaunes sich aus sich selbst heraus begreifen könne, und die überdies der Überzeugung sind, dass sie um so mehr von ihrer welt verstünden, je weiter sie ihren raum in die wildnis vorrückten. Sie erscheinen als menschen, die nicht leben können, weil sie den Tod vergessen haben:
>>Die Franzosen<<, sagte ein alter Kabyle, >>verhalten sich so, als ob sie niemals sterben würden.<<
Und der indianer spricht in gleicher weise von jenen, >>die ihr leben so leben, als würde der Tod sie nie berühren<< [cf Carlos Castañeda: Journey to Ixtlan, New York 1972]
cf hierzu auch
Immer wieder begegnet uns die sitte, in der >zeit zwischen den zeiten< die verhältnisse umzukehren, und es hat den anschein, dass diese verkehrung des gewöhnlichen - ähnlich wie die paradoxie bei den zen-buddhisten oder bei den abendländischen mystikern von Plotin bis Wittgenstein - eine weise der darstellung des >draussen<, des >ganz anderen< ist, eine darstellung des nagual innerhalb der grenzen der >>insel des tonal<< ....
Einige menschen repräsentieren gewissermaßen das nagual auf der >>insel des tonal<<. Die ordnung ist durch sie allgegenwärtig gebrochen, sie zeigen der kultur ihr anderes gesicht. Die hohnuhk'e der Cheyenne sagten >nein<, wenn sie >ja<, und >ja<, wenn sie >nein< meinten .... Den hohnuhk'e ähnelten die mitglieder des mittelalterlichen ordens Galois et Galoises in Frankreich, die im sommer schwere pelze trugen und das kaminfeuer in ihren häusern entfachten, während sie in der klirrenden kälte des winters auf muff, mantel und handschuhe verzichteten ....
Einstmals, oder richtiger gesagt, im ursprung, waren bzw. sind die beiden welten eine einzige: da tanzten und sangen die menschen mit den mamaé und erfreuten sich am beischlaf mit den wilden tieren und den bäumen des urwaldes. Diesseits und jenseits sind im grunde einerlei. Der Tod des entrückten, des schamanen ist gleichzeitig sein leben. Tod und Leben sind eins ....
Wir haben jetzt gesehen, dass es die archaische mentalität kennzeichnet, ein klares selbstbewusstsein dadurch zu gewinnen, dass man dem, was man ist und gleichzeitig nicht ist, >in die augen sieht<. Der archaische mensch erkannte sich noch auf viel deutlichere weise als wir heutigen in dem, was er nicht war .... Zu wissen, wie es ist, was es heisst, wir zu sein, das heisst, zugleich man selber und nicht man selber zu sein, das bedeutet, um einen geläufigen ausdruck zu verwenden, entfremdet zu sein

So ist es vielleicht auch irreführend, wenn man sagt, dass die archaischen menschen >zwischen den zeiten< die erfahrung des chaos machten. Besser sollte man sagen: sie erfuhren die auflösung der ordnung, und damit erfuhren sie erst die ordnung

Natürlich gibt es wissenschaftler, die sich mit derartigen vorgängen und ereignissen befassen und auch häufig dafür bezahlt werden. Solche wissenschaftler sind nicht selten psychiater.
Leider zeigt es sich in den meisten fällen, dass diese psychiater menschen sind, die die grenzen, welche die moderne zivilisation zwischen sich selbst und der wildnis zieht, mit den grenzen zwischen wirklichkeit und schein identifizieren. Was jenseits dieser zivilisationsgrenzen liegt, ist für sie meist nur eine >>projektion<<, und die auflösung der grenzen ist das anzeichen für eine krankheit der seele.
Sie sprechen dann etwa von einem >>lack of the ability to distinguish between the two realities, that of the mind and that of the external world<<, oder ethnopsychiater wie Devereux, die offenbar von den physikern erfahren haben, wie die wirklichkeit wirklich ist, vermuten, dass diejenigen, die glauben, die grenzen der wirklichkeit deckten sich nicht mit den >grenzen des zaunes<, lediglich mit panik auf die stummheit der materie reagieren, dass solche leute dem >draussen< bedeutung zuschreiben, die es gar nicht besitzt, vergleichbar mit dem kleinen säugling, der während der abwesenheit der mutter deren >>befriedigende antworten, die er früher erfahren hat, halluziniert<<[G. Devereux: Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften, München 1973, p55f] ....
Wie die wirklichkeit ist, zeigt sich danach also innerhalb der kultur, und zwar unserer eigenen, und dort vor allem innerhalb der wissenschaft, in jedem falle aber innerhalb des zaunes

Es geht ihm [dem indianer Don Juan Matus] also darum, dem ethnologen [Carlos Castañeda] vor augen zu führen, dass es einen bereich der wirklichkeit gibt, den zu betreten, und vor allem, den als wirklichkeit anzuerkennen, von dessen gepanzerter kultur im allgemeinen untersagt ist.
Der schritt selber konnte dem wissenschaftler natürlich nicht genügen. Denn wer oder was konnte ihm die gewähr dafür geben, dass dies tatsächlich wirklichkeit war und nicht nur schein? Und gab ihm nicht viel eher seine eigene kultur die kriterien an die hand, mit deren hilfe er seine erlebnisse als scheinwahrnehmungen abtun konnte? Und hätte er diese erlebnisse wiederholt, wäre es ihm dann nicht lediglich ergangen wie demjenigen, der nach Wittgenstein eine zweite ausgabe derselben zeitung gekauft hatte, um festzustellen, ob das, was in der ersten ausgabe gedruckt stand, der wirklichkeit entspräche?

Der zu unrecht vergessene Salomon Maimon [Versuch über die Transcendentalphilosophie, Berlin 1790] machte in dieser weise gegen jede >transzendentale deduktion< der erkenntniskategorien geltend, dass man immer nur hinreichende, aber keine notwendigen bedingungen des >kategorialen rahmens< der wahrnehmbaren wirklichkeit formulieren könne, und in späteren zeiten wies insbesondere Ajdukiewicz darauf hin, dass das, was wir erfahren, auf vielerlei sich ausschliessende weise beschrieben werden könne und dass es keine möglichkeit gebe, aufgrund der erfahrung selber die eine beschreibung gegenüber der anderen zu begünstigen, da jede der beschreibungen, wie ein moderner ausdruck lautet, durch die erfahrung >unterdeterminiert< sei ....
Doch selbst der Laplacesche dämon, >>qui pour un instant donné, connaîtrait toutes les forces dont la nature es animée, et la situation respective des êtres qui la composent<<, kann trotzdem die zukunft nicht exakt voraussagen, weil er seine eigene berechnung nicht mitberechnen kann, was zeigt, dass er zur grenze des >>univers<< zählt, die >drinnen< und >draussen< zugleich ist

Nichts spricht dafür, dass es die dinge >wirklich gibt<, und dies ist auch keine tatsache, die durch die praxis bestätigt wird, wie die marxisten nicht müde werden zu behaupten.
Die welt ist vielmehr alles, was der fall ist. Und wenn es der fall ist, dass wir bisweilen schwierigkeiten haben, uns zwischen sich gegenseitig ausschließenden beschreibungen zu entscheiden, dann ist es eben so. Was Feyerabend [cf Paul Feyerabend, Über einen neuen Versuch, die Vernunft zu retten, in: Wissenschaftssoziologie, Opladen 1975, p507] sucht und was er eine >superwelt< nennt, hat er bereits gefunden. Befände er sich nicht >in< ihr, dann gäbe es nichts, was ihn in entscheidungsschwierigkeiten bringen könnte .... Wir können zwar unsere erfahrungen von der >>logischen grammatik<< unserer sprache nicht loslösen, aber unsere erfahrungen werden auch nicht von dieser >>grammatik<<, wie sie ein semantiker explizieren könnte, völlig determiniert ....
Wittgenstein nimmt nicht einmal die möglichkeit, dass der andere recht haben könnte, ernst, und er rechnet nicht damit, dass bereits allerlei dämonen im gebälk seiner >>logischen grammatik<< hocken könnten. Wittgenstein schrieb zur lobpreisung Gottes, und er vergaß dabei, auch dem Teufel seinen teil zu geben

In gewisser weise ähnelt der dogmatiker dem, der mit zornbebender stimme erklärt, dass er sich niemals erregen lasse. Der relativist jedoch rührt nicht nur an die ängste des dogmatikers, er kitzelt auch an dessen sehnsüchten, deren erfüllung der dogmatiker sich versagt.
Aber auch der relativist erfüllt sich diese sehnsüchte nicht. Er steht auf den mauern der stadt, und in seinem blick in die wildnis spiegelt sich die trauer über sein unvermögen zu fliegen

Die initiation, die der indianer bei Castañeda einleitet, ist weniger eine initiation in die welt der Yaqui-hexen als eine in dessen welt, in die welt des ethnologen

Wie das für den schizophrenen >vergiftete< gericht nicht in dem sinne vergiftet ist, wie es der lebensmittelchemiker verstehen würde - und ihn deshalb dessen analyse kaum in seiner meinung irritieren dürfte -, so wird die feststellung eines zoologen, dass hirsche oder gar pflanzen nicht reden können, für den brujo kein ernst zu nehmendes argument darstellen

Wenn also etwa Feyerabend mit einem gewissen recht die >kritischen rationalisten< [positivisten] (als ein beispiel für moderne metaphysiker) mit hysterikern vergleicht, so wird es sich allenfalls um eine sehr begrenzte hysterie handeln, die dort endet, wo der alltag beginnt. Natürlich kennen auch viele schizophrene die sogenannte >doppelte buchführung<, doch diese zieht sich im gegensatz zu der des philosophen durch die ganze alltagswelt hindurch, deren >doppelter boden< meist zudem einen bedrohlichen charakter hat ....
Wir hören nämlich irgenwann auf, weiter zu begründen. Und wo wir aufhören, wo wir uns zufriedengeben, das hängt von unserer lebensform ab, von der art und weise wie wir denken und handeln. Am ende der begründung steht also keine >>evidenz<< ....

Eine voraussetzung, um zum ursprung zu gelangen, um etwa mit den pflanzen >reden< zu können, ist deshalb das, was die indianer >>ehrfurcht<< nennen, das unwichtig-werden des menschen gegenüber den anderen geschöpfen der natur
[ Anmerkung von men-kau-ra:
``Viele leute wundern sich, warum dieses volk sich ein gebiet ausgewählt hat, in dem es kein fließendes wasser gibt, um die spärlichen pflanzungen zu bewässern. Die Hopi wissen, dass sie hierher geführt wurden, um von dem dürftigen regenfall abhängig zu sein, den sie mit ihrer kraft und ihren gebeten hervorrufen müssen. Auf diese weise bewahren sie immer das wissen und den glauben an die allmacht ihres schöpfers, der sie auf diese vierte welt brachte, nachdem sie in den drei früheren welten versagt hatten.
Dies, sagen sie, ist ihr höchstes recht auf dieses land, das keine weltliche macht widerlegen kann''
Frank Waters, a.a.o., p49 ]


Wie für den archaischen menschen zeigt sich auch für diese forscher die wahrheit im grunde, in der tiefe, nachdem die zwiebelringe des bewusstseins, der kultur abgelöst worden sind. Aber wenn dem archaischen menschen in diesem grunde, im ursprung die dinge einerlei werden, indem die spaltung der dinge, ihre differenzierung aufgehoben wird, spaltet und differenziert der forscher auf eine noch viel konsequentere weise, als es ohnehin in seiner zivilisation üblich ist.
Er hat weder ehrfurcht vor den dingen, noch liebt er sie. Er wirft ein netz über sie, er teilt sie und teilt sie ein

Sagen wir, dass dieser grund >ausserhalb der zeit<, àrdaga, wie die Germanen oder nhh, wie die alten Ägypter sagten, liegt, dann heisst dies, dass der grund sich zeigt, wenn wir von der zeitlichen veränderung absehen .... Sagen wir >die zeit bleibt stehen<, dann bedeutet das: wir betrachten etwas ohne rücksicht und ohne vorsicht

>>Eine person<<, schreibt J.S. Kafka (>>Zum Problem der Realität<<, Psyche 1977, S. 718), >>die ein Déjè-vu-Erlebnis hat, hat den Eindruck, dass die tatsächliche manifeste Situation schon einmal stattgefunden hat, während es sein kann, dass nicht die Situation bekannt ist, sondern die der Situation zugrundeliegende latente Bedeutung.<< Genau das liegt der platonischen anamnesis-theorie zugrunde. Im augenblick der wahrnehmung erinnert sich die seele an dasjenige, was das wahrgenommene ist

.... der begriff >traumzeit< bezieht sich auf keine graue vorzeit, in die der Australier glaubte zurückgehen zu können, die sich >>vergegenwärtigen<< ließe, die man >>wiederholen<< oder >>nachahmen<< könne, die >>andauerte<<, die >parallel< zur gewöhnlichen zeit verliefe oder auf die sich die gegenwärtige zeit >>projizieren<< ließe. Die traumzeit ist keine vergangene, keine gegenwärtige und keine zukünftige zeit: sie hat überhaupt keinen >ort< im kontinuum der zeit

Noch im altenglischen bedeuteten farbbezeichnungen wie fah/fag etwas, das wir nur noch mit >zusammengesetzten< begriffen wie bunt / schön, grene mit grün / fruchtbar / günstig .... übersetzen können ....
Eine derartige >einheitliche< anschauung finden wir wiederum bei sogenannten >geisteskranken<. So sagt etwa einer von ihnen:
>>Wenn ich >rot< sage, so ist das ein begriff, der in farben, musik, gefühl, sinnen und natur ausgedrückt werden kann. Der mensch hat also nicht fünf sinne, sondern einen sinn ...<<
Was also viele wissenschaftler eine >krankheit des geistes< nennen, scheint die auflösung einer trennenden, analytischen anschauung zu sein, durch die eine archaische wahrnehmungsweise zum vorschein kommt, die normalerweise unter kulturellem verschluss gehalten wird ....
Der >traumort< ist überall und nirgends, wie die >traumzeit< immer und nie sich ereignet. Man könnte auch sagen: das wort >traumort< bezieht sich auf keinen bestimmten ort, und wir gelangen zu ihm, indem wir nirgendwohin gelangen.
Der wassertropfen, der nach der einnahme einer bewusstseinserweiternden droge nicht mehr als etwas, sondern als sich selber gesehen wird, der sunder warumbe ist, wie Meister Eckhart sagt, >ohne warum<, verwandelt sich in das universum, in alles und damit in nichts

Doch es gibt kein wissen über die >insel des tonal< ohne die erfahrung ihrer erschütterung, ohne das nagual.
Wir haben auch gesehen, dass eine kultur, die am bewusstsein ihrer selbst ein geringes interesse hat, etwa unsere eigene, meist eine ist, die sich die wildnis unterwirft, indem sie sie kultiviert.
Es nimmt nicht wunder, dass in einer derartigen kultur das verstehen dessen, was nicht zu ihr selbst gehört, meist auch den charakter der aneignung durch unterwerfung oder aber der reinen abweht annimmt

Wenn die ethnologen kommen, so lautet ein haitianisches sprichwort, verlassen die geister die insel

.... dem Odin gleichen, der für die weisheit sein auge ließ. Auch der vogel, der Zeus den rauschtrank brachte, musste bei jedem flug eine feder lassen.
Ich glaube, dass wir heutigen, die wir daran gewönt sind, frei haus gelieferte erkenntnisse zu verkonsumieren, weitgehend vergessen haben, dass die wahrheit ihren preis hat. Oder wie ein Eskimo-schamane zu Knud Rasmussen sagte: Ihr wisst nicht, dass nur der erkennt, der in die einsamkeit geht und leiden erträgt!

Aber vermutlich würde der professor sich selber viel besser verstehen, wenn er das wagnis auf sich nähme, dasjenige nachzuvollziehen, was sich nicht mehr in die begrifflichkeit seiner wissenschaft übersetzen lässt

Der Yaqui-brujo hatte weniger die absicht, aus ihm eine hexe oder gar einen >neurotiker< zu machen; er wollte ihm eher den weg dazu öffnen, über das >fliegen< zum gehen zu gelangen und über das >reden mit dem coyoten< zu einem bewusstsein dessen, was es bedeutet, diesseits des zaunes mit den menschen zu reden ....
>>Man wird,<< schreibt E.E. Evans-Pritchard (>>Some Reminiscences and Reflections on Fieldwork<<, Journal of the Anthropological Society of Oxford 1973, S.4 ...) >>, wenigstens zeitweise, eine art doppelter aussenseiter, der beiden welten entfremdet ist.<< Diese >>doppelte entfremdung<< - und damit der verlust des heils - ist der preis, den sowohl die hexe als auch der wissenschaftler für die erkenntnis zahlen. Aus dem paradies sind beide ausgeschlossen, und zwar für alle ewigkeit



Hans Peter Duerr, Traumzeit - Über die Grenze zwischen Wildnis und Zivilisation, 1978, Syndikat, Frankfurt am Main, 2. Auflage 1978





Das vollständige zitat nach Hegel, s.o.:
Die Wissenschaft enthält in sich selbst diese Notwendigkeit, der Form des reinen Begriffs sich zu entäussern, und den Übergang des Begriffs ins Bewusstsein. Denn der sich selbst wissende Geist, eben darum, dass er seinen Begriff erfasst, ist er die unmittelbare Gleichheit mit sich selbst, welche in ihrem Unterschiede die Gewissheit vom Unmittelbaren ist, oder das sinnliche Bewusstsein, - der Anfang, von dem wir ausgegangen; dieses Entlassen seiner aus der Form seines Selbsts ist die höchste Freiheit und Sicherheit seines Wissens von sich.
Doch ist diese Entäusserung noch unvollkommen; sie drückt die Beziehung der Gewissheit seiner selbst auf den Gegenstand aus, der eben darin, dass er in der Beziehung ist, seine völlige Freiheit nicht gewonnen hat. Das Wissen kennt nicht nur sich, sondern auch das Negative seiner selbst oder seine Grenze.
Seine Grenze wissen heißt, sich aufzuopfern wissen
Diese Aufopferung ist die Entäusserung, in welcher der Geist sein Werden zum Geiste in der Form des freien zufälligen Geschehens darstellt, sein reines Selbst als die Zeit ausser ihm und ebenso sein Sein als Raum anschauend. Dieses sein letztes Werden, die Natur, ist sein lebendiges unmittelbares Werden; sie, der entäusserte Geist, ist in ihrem Dasein nichts als diese ewige Entäusserung ihres Bestehens und die Bewegung, die das Subjekt herstellt
Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes
Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft No 8, 1. Aufl 1973 (original erschienen 1807) p590 (Abschnitt DD Das absolute Wissen / VIII Das absolute Wissen)
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