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Index / Stichworte
Wo sind die Eltern geblieben?
Über die Weigerung, erwachsen zu werden
Die kindliche Gesellschaft: Robert Bly
Vom Aufenthaltsort der verloren gegangenen Eltern
Von der manipulativen und sonstigen Macht des Fernsehens
Von den Ursachen der Kostenexplosion im Gesundheitswesen
Watching for Columbine
Der gefrorene Blick: Rainer Patzlaff
Zum Verhältnis von soziologischen, psychologischen und
psychoanalytischen Theorien des Verbrechens
Jugendkriminalität und Gesellschaftsstruktur:
Tilmann Moser
Wo sind die Eltern geblieben?
Über die Weigerung, erwachsen zu werden
Die kindliche Gesellschaft: Robert Bly
...
Ruth Sidel verbindet in ihrem Essay ``But where are the Men?'' das
phänomen der väter, die ihre familie verlassen, mit den neuen
wirtschaftlichen verhältnissen in den USA. Der stellenabbau, der in den
siebziger jahren begann, setzt sich fort und steigt weiter steil an. In den
medien ist viel von den kaputten vätern die rede
- und das ist verständlich -,
``aber niemand gibt die schuld dafür einer wirtschaftsordnung, die
millionen arbeiter um ihre jobs bringt''.
Die amerikanische wirtschaft hat sich vor einigen jahren auf das ziel einer
``erhöhten wettbewerbsfähigkeit'' in einem sich rasch wandelnden markt
eingeschossen. Auf der strecke blieben dabei die versprechen an die arbeiter,
ihren lebensstandard zu sichern und für ihre angehörigen zu sorgen.
``Im zeitraum zwischen 1973 und 1991 sind die durchschnittlichen
stundenlöhne für produktionsarbeiter und angestellte in nicht
leitenden positionen stetig gefallen.
Von 1980 bis 1993 haben die 500 größten US-unternehmen mehr als ein
viertel ihrer belegschaft (4.4 millionen) abgebaut. Im selben zeitraum haben
diese unternehmen aber ihr gesellschaftsvermögen um 230 prozent und ihre
umsätze um 140 prozent gesteigert.''
Die jahresgehälter der präsidenten und vorstände erhöhten
sich um mehr als das sechsfache. Wir kennen alle diese zahlen, und sie sind
demoralisierend. Für väter und mütter sind sie schlicht
verheerend.
Wir wissen, dass der ``ungelernte schwarze arbeiter kaum eine chance hat, eine
feste anstellung zu erhalten, die ihm soviel einbringt, dass er eine familie
damit ernähren kann. Schließlich findet er sich damit ab, dass er
nicht in der lage ist, die traditionelle vaterrolle zu erfüllen.
Statt sich jeden tag aufs neue sein versagen einzugestehen, entschließt
er sich oft, lieber wegzugehen.''
[Note by menkaura:
Vor diesem hintergrund gesehen ist es ein gefährliches unterfangen,
kinder mit materiellem ersatz für mangelnde aufmerksamkeit abzuspeisen -
verwöhnt, werden sie sich als erwachsene nur schwerlich in der lage
sehen, ihren lebensstil UND kinder zu finanzieren
]
Unter den US-bürgern indianischen ursprungs - ihre zahl liegt bei rund
einer million - liegt die arbeitslosenrate durchschnittlich zwischen 45 und 55
prozent, sie kann aber regional und saisonal bedingt auf bis zu 80 prozent
ansteigen.
Andrew Kimbrell weist darauf hin, dass ``das angeblich >patriarchalische<
system der industrieproduktion in England mit der zerstörung der vaterrolle
begann''.
Die von den gerichten angeordnete einzäunung von weideflächen, die
vorher im gemeinbesitz der dorfgemeinschaft waren, trieb die männer in die
fabriken. In den USA geht die zerstörung der vaterrolle auf andere weise
weiter: hier werden die arbeitsfreien zeiten ``eingezäunt''. Im jahr 1935
hatte ein arbeiter durchschnittlich 40 arbeitsfreie stunden in der woche, den
samstag und sonntag eingeschlossen. 1990 war diese zeit auf 17 stunden
zusammengeschmolzen. die 23 stunden, die seit 1935 an wöchentlicher
arbeitsfreier zeit verlorengegangen sind, dürften eben die stunden sein, in
denen ein vater sich als erziehender und umsorgender vater beweisen kann, in
denen er zu sich selbst findet und in denen eine mutter spürt, dass sie
tatsächlich einen ehemann hat.
Auch von vielen richtern, soziologen und vertretern der legislative ist in den
vergangenen hundert jahren der vater zu einer vernachlässigbaren
größe in der familienstruktur angesehen worden.
....
Väter verschwinden im juristischen wie im physischen sinn .... die
vaterlosigkeit liegt in schwarzen vierteln bei 60 prozent, tendenz steigend,
und in weissen vierteln bei 35 prozent, tendenz ebenfalls steigend.
....
``Die massengesellschaft mit ihren arbeitsaufforderungen in abhängigkeit'',
schreibt Alexander Mitscherlich (in: 'Auf dem weg zur vaterlosen
gesellschaft', 1963),
``unter ausschluss der spurenhaften, selbstverantwortlichen
leistung, schafft ein riesenheer von rivalisierenden, neidischen
geschwistern.''
....
Es ist schwer, so berühmt zu sein, wie man es von uns erwartet.
Das über-ich oder das ich-ideal hat seine forderungen geändert.
Ein ``innerer richter'', der früher hohe ansprüche bezüglich
kunst, literatur und moralischem verhalten stellte,
fordert nun frühen erfolg, am besten schon mit zwanzig oder
zweiundzwanzig ....
Heute beruft sich das über-ich nicht mehr auf die lehren Jesu oder
Ghandis, um seinen einfluss zu wahren, vielmehr muss es sich Barbra Streisand,
Michael Jackson oder einen bekannten talkmaster zum verbündeten machen.
Wer es nicht schafft, erfolg, ruhm und popularität zu erringen, hat mit
rascher und gründlicher strafe zu rechnen.
Das selbstwertgefühl erhält empfindliche schläge von innen,
man fühlt sich unbedeutend und von niemandem beachtet, bis wir uns
schließlich aus verzweiflung bereit erklären, in einer talkshow
aufzutreten und uns rückhaltlos zu offenbaren.
Ist dann der große augenblick vorüber, ohne dass die universelle
liebe über uns ausgegossen wurde, fallen wir nur noch tiefer.
Wie ein beobachter einmal treffend gesagt hat, ist das
verlangen nach vollkommenheit ``durchaus mit gleichgültigkeit
gegenüber anderen vereinbar''.
Warum ist das über-ich so herrisch und terroristisch geworden? .... Ohne
unterstützung durch eltern und lehrer muss es alles allein machen und
verfällt folglich in primitive, humorlose barbarei, die in grunge-rock,
action-filmen und masochistischen praktiken wie piercing ihren adäquaten
ausdruck findet
....
In einer kindlichen gesellschaft ist es nicht leicht,
zugang zu den eigenen kindern zu finden. Welche werte soll man ihnen
vermitteln, wofür soll man einstehen, wobei darf man mitmachen?
....
Ob ein adoleszenter Sohn ohne vater seine ödipale aufgabe erfüllen
kann, mit dem vater zu ringen und mit diesem beeindruckenden wesen seine
kräfte zu messen, ist durchaus zu bezweifeln.
Auch die abhängigkeit von der mutter muss er aufgeben. Der vaterlose sohn
kann statt dessen seine mutter ablehnen oder mit ihr verschmelzen,
das ringen mit einem älteren mann auf einen späteren
zeitpunkt in seinem leben verschieben und unterdessen männliche
autorität hassen, ohne dass er viel erfahrung mit ihr hat.
Fünfundachtzig prozent der in den USA inhaftierten männer sind
vaterlos. Wenn ein sohn sich zum wächter
seiner mutter ernannt hat, kann es ihm auch passieren, dass er sich
fortwährend über seine ``im stich gelassene'' mutter sorgt,
anstatt sein eigenes leben zu leben.
....
Unsere gesellschaft verfügt über keine verlässlichen mentoren,
die einem sohn helfen könnten, eine brücke zur welt des erwachsenen
mannes zu schlagen.
Der kindlichen gesellschaft fehlen lebendige religiöse intstitutionen,
die es einem sohn erleichtern würden, einen vater im rahmen
religiöser arbeit oder in der spirituellen welt zu finden.
Der kapitalismus hat alle männliche
energie aufgesogen, um sich raum zu schaffen für eine noch tieferreichende
ausbeutung der kinder.
Wenn wir wüssten, was heutige kinder in ihrem inneren erleiden,
würden wir jeden mann auf der straße bitten, seine karriere
aufzugeben und vater zu werden.
....
Immer jüngere kinder werden in die talkshows gezerrt, wo man ihnen sagt,
dass ihre ansichten und beobachtungen für alle wichtig seien.
Dieser zugriff auf die ganz jungen mit dem ziel, sie zu berühmtheiten
oder quellen der weisheit zu machen, ist im grunde eine form von
kindesmissbrauch.
....
Im jahr 1960 waren die durchschnittlichen gehälter von spitzenmanagern der
größten US-unternehmen nach steuern zwölfmal höher als die
durchschnittsgehälter von fabrikarbeitern.
1990 waren sie siebzigmal höher.
[cf ``Die Zeit'' vom 27. März 2003, p23 `Imperium
oeconomicum': Heute haben 40 Millionen US-Bürger keine
Krankenversicherung, verdienen die Chefs im Durchschnitt 400-mal mehr als ihr
Angestellten und Arbeiter.
]
[Das Wirtschaftsmagazin
`brand eins'
11/2007 p121:
Der deutsche Physiker, Unternehmer und Sozialreformer Ernst Abbe ließ
als Miteigentümer der Firma Carl Zeiss 1896 einen Passus in die Statuten
der von ihm gegründeten Carl-Zeiss-Stiftung aufnehmen: ``Das
höchste Jahreseinkommen, welches einem Beamten, die Mitglieder der
Geschäftsleitung eingeschlossen, für seine
vertragsmäßige Dienstleistung gewährt wird, darf zur Zeit der
Festsetzung nicht hinausgehen über das Zehnfache vom durchschnittlichen
Jährlichen Arbeitseinkommen der (...) Arbeiter.''
Die Regelung galt bis 2004. Dann wurde die Stiftung in eine AG
überführt und die Regel gestrichen. Bei Zeiss haben die mitarbeiter
diese Reform mitgetragen. Für sie standen bei der Überführung
der Stiftung in eine AG andere Fragen im Vordergrund]
[Nach einem bericht des wirtschaftsmagazines
`brand eins'
07/2007
liefert die spieltheorie ein maß für
managergehälter. Dies ist umso interessanter, als eine neue schweizer
studie keinen zusammenhang zwischen gehalt und leistung aufzeigen konnte und
bei einer studie des "Manager Magazins" vom Juli 2006 insbesondere die hoch
bezahlten manager von Siemens, DaimlerChrysler &Co auf den hinteren
rängen landen.
Andererseits beschäftigt Toyota weltweit 300k mitarbeiter, macht einen
gewinn von 10G€ und hat damit eine marge deutlich höher als die
DAX-unternehmen.
Ein vorstand verdient bei Toyota im durchschnitt 260k€ im jahr
Eine untersuchung der rationalität von entscheidungen
zur nutzungsmaximierung ist das "Ultimatum-game" der spieltheorie:
ein von keiner der beiden erwirtschafteter geldbetrag soll unter
zwei personen aufgeteilt werden;
spieler A macht spieler B ein angebot zum teilungsmodus,
B kann annehmen oder ablehnen, in welchem falle beide leer ausgehen.
Angebote unter 30 Prozent werden in der regel von B abgelehnt,
im mittel ergibt sich eine aufteilung von 62:38, was eine gute
näherung des Goldenen Schnittes ist (1.618....).
Ähnlich wie in diesem experiment das geld geschenkt ist,
lässt sich in einem unternehmen der erfolg sehr schwer zuordnen,
daher der wahrheitsgehalt des experimentes, denn so spielt das
gerechtigkeitsgefühl eine große
rolle bei der verteilung des kuchens. Eine
hierarchie tut also gut daran, die gehälter
je stufe um den faktor 1.62 zu erhöhen. Für ein unternehmen mit
sieben hierarchiestufen oberhalb des einfachen mitarbeiters
(mitarbeiter, projektleiter, gruppenleiter, abteilungsleiter,
hauptabteilungsleiter, bereichsleiter, vorstandsmitglied,
vorstandssprecher = CEO),
angenommener optimaler teamgröße von sieben personen und einem
mitarbeiterEinstiegsJahresGehalt von 36k€ ergibt sich:
der CEO erhält ein salär von
1.62...exp7 * 3k€ = 29.03*36k€ = 1054k€
und trägt die verantwortung für 7exp7 + 7exp6 + ... 1 = 960800
personen.
Bei sechs stufen: faktor 17.94 / 651k€ / 137257 personen (s.o. Toyota).
Das ergebnis des "ultimatum"-spieles ist übrigens nach einem bericht des
SPIEGEL 31/2007
stark kulturabhängig: während für die industriestaaten oben
gesagtes gilt, geben sich die in engen familienverbänden lebenden
Machiguenga im peruanischen regenwald oft mit 20 prozent zufrieden - man ist
froh, überhaupt einmal etwas geschenkt zu bekommen. Bei den Gnau auf
Papua-Neuguinea werden oft auch 70 prozent abgelehnt: hier hängt der
soziale status stark vom geben ab. Besonders hohe gebote werden allerdings
auch oft als angeberisch abgelehnt
Siehe auch hier
]
In der unterschicht müssen beide
eltern tagsüber arbeiten, manchmal in zwei
verschiedenen jobs, ohne arbeitsplatzgarantie, und wenn sie abends nach hause
kommen, sind sie erschöpft und können ihren kindern nichts geben.
Die kinder wiederum fühlen sich unerwünscht und fragen sich,
wer eigentlich für sie zuständig ist ....
Benjamin Franklins erben haben die leiter des wirtschaftlichen erfolgs so
hochgezogen, dass die unterste sprosse nun ausser reichweite ist.
[Franklin represents one side of a national dichotomy that has existed since
the days when he and Edwards stood as contrasting cultural figures. On one
side are those, like Edwards and the Mather family, who believed in an
anointed elect and salvation through grace. They tended to have religious
fervor, a sense of social class and hierarchy, and an appreciation of exalted
values over earthly ones. On the other side were the Franklins, who believed
in salvation through works, whose religion was benevolent and tolerant, and
who were unabashedly striving and upwardly mobile.
Out of this grew many related divides in the American character, and Franklin
represents one side: pragmatism versus romanticism, practical benevolence
versus moral crusading. He was on the side of religious tolerance rather than
evangelical faith. The side of social mobility rather than an established
elite. The side of the middle-class virtues rather than aristocratic
aspirations.[p14f] .... He explained this [stepping back from his business to
devote himself to philanthropy, community projects and civil works] in a
letter to his [good Calvinist Puritan] mother, which ended with the wonderful
line “I would rather have it said, ‘He lived usefully,’ than,
‘He died rich.’”[p5]
.... Only Franklin signed all three of the fundamental documents of American
statehood: the Declaration of Independence, the peace treaty with
Great Britain, and the U.S. Constitution
.... Franklin's final belletristic writing, less than
a month before his death, parodied a speech that Georgia's congressman James
Jackson had made on the necessity of slavery.[p52]
Walter Isaacson (p5, p14f) and J.A. Leo Lemay (p52) in Page Talbot (editor),
Franklin - In Search of a better World, Yale University Press, New Haven and
London 2005]
Die menschen, die in den ghettos leben, aber auch angehörige
der arbeiterklasse oder der unteren mittelklasse, können sich recken und
strecken wie sie wollen, sie erreichen die unterste sprosse nicht. Die leiter
wird für die angehörigen der internationalen führungsschicht
und wenige andere herabgelassen.
Der abbau von sozialprogrammen bedeutet für die schwarze bevölkerung,
dass die leiter immer mehr aus ihrer reichweite gerät.
Der trick der medien besteht
darin, die aufmerksamkeit von denen fernzuhalten, die die leiter hochziehen,
und die kamera bevorzugt auf die zu richten, die sich darum balgen, eine
sprosse zu erhaschen.
....
Die verwirrenden, widerstreitenden tendenzen innerhalb der kindlichen
gesellschaft zeigen sich deutlich in der ironie, dass Ronald Reagan, ein in
jeder hinsicht schlechter vater, der ausserstande war, für irgendeinen
wichtigen ``traditionellen wert'' auch nur einigermaßen überzeugend
einzustehen, unter dem deckmantel der familie zum repräsentanten eines
schrankenlosen erwerbstriebs werden konnte.
....
Bekanntlich waren skrupellose kapitalisten lange zeit ein fester faktor des
amerikanischen lebens. Aber Andrew Carnegie, um nur einen zu nennen, fühlte
sich dennoch der nation verpflichtet und richtete tausende büchereien in
großen und kleinen städten ein.
Die heutigen multis kennen eine solche
verpflichtung nicht, und dieser mangel an loyalität ist ein typisches
phänomen der kindlichen gesellschaft.
Die manager multinationaler unternehmen fühlen sich gegenüber keinem
bestimmten land verpflichtet ....
Der präsident der NCR Corporation sagte gegenüber der New York Times:
``neulich wurde ich gefragt, wie ich über die wettbewerbsfähigkeit
der USA denke und ich habe geantwortet, dass ich überhaupt nicht
darüber nachdenke.''
....
Zwischen 1950 und 1979 stieg die rate der schwerverbrechen, die von kindern
begangen wurden, um 11 000 prozent. Und wir wissen, dass bei der
männerkriminalität
die meisten kriminellen handlungen von tätern zwischen 13
und 24 begangen wurden.
Das haupthindernis, das einem normalen, gewaltfreien leben überall in
der welt entgegensteht, ist das problem der sozialisation junger männer.
In Kenya ordnete die regierung vor fünf jahren an,
dass in den dörfern keine initiationen mehr durchgeführt werden
sollten, statt dessen würden nun alle
jungen zur schule gehen. Zwei jahre darauf kam es zu einem für Kenya
unerhörten vorfall, als eine gruppe junger männer in einen schlafsaal
eindrang und mehrere junge frauen vergewaltigte. In Neuguinea, wo die
initiation ebenfalls nicht mehr praktiziert wird, soll es nun
jugendlichenbanden geben, die das land unsicher machen.
Es ist nicht aufgabe der frauen, junge männer zu sozialisieren. Es ist die
aufgabe älterer männer oder, von einem anderen standpunkt betrachtet,
die aufgabe der ganzen kultur.
[Die Motivation zu kriminellem Verhalten entsteht nicht erst in der
Pubertät, sondern in den zerstörerischen Erfahrungen in Familien,
denen die Gesellschaft ein "normales" Funktionieren nicht erlaubt.
Der emotionale Austausch der Familienmitglieder in vielen
Unterschichtsfamilien ist durch die soziale Belastung häufig so
gefährdet, dass die Entwicklung zum Kriminellen wie unter Zwang
abläuft.
Die Mythologie des individuellen Defekts erweist sich, angesichts
der in diesem Buch geleisteten Verknüpfung von Erziehungsschicksal und
sozialer Schicht, als die pure Ideologie. Kriminalität ist ein
sozialer Defekt, der sich, über die Agentur der Familie,
zielsicher seine "Opfer" sucht: an der sogenannten Basis
unserer Gesellschaftspyramide.
Erst langsam lernen wir, die Verantwortung zwischen Abweichenden und
Gesellschaft anders zu verteilen.
mehr siehe hier
Aus dem Einbandtext von
Tilmann Moser; Jugendkriminalität und Gesellschaftsstruktur
- Zum Verhältnis von soziologischen, psychologischen und
psychoanalytischen Theorien des Verbrechens;
Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 1970
mehr siehe hier
]
....
Große literatur verlangt von uns, dass wir hohn und gelächter in
zaum halten.
Wir können unsere lebenskraft nicht bewahren, wenn wir den
opfergefühlen nachgeben - selbstmitleid, passivität,
schuldzuschreibungen, forderungen nach ausnahmeregelungen, ständige
ansprüche auf staatliche leistungen, da man ja
schlechter dran sei als der nachbar.
....
In dieser neuen, auf den ruinen der gesellschaft der leser errichteten
kindlichen gesellschaft, trauern nur wenige menschen. Wenn wir trauern
könnten - über Iphigenie, die für die günstigen winde
gestorben ist; über die weisheit, die auf den internet-highways und
wegen der vom fernsehen angerichteten schäden an den gehirnen unserer
kinder verschwunden ist; über die großeltern, die wir aus
unachtsamkeit, und über die eltern, die wir wegen
unserer großen enttäuschungen verloren haben
- wenn wir diese stufen der trauer hinabsteigen würden,
dann fänden wir vielleicht einen weg aus der
seichtheit unserer gegenwärtigen kultur.
....
Wie das fernsehen, die filmindustrie und das musikgeschäft wird auch die
werbebranche von den jungen für die jungen geführt. Ältere
menschen gibt es fast nicht mehr.
Die vertiefung und gleichzeitig die erhebung der psyche, einst
das besondere verdienst der älteren männer und frauen,
gehört nicht mehr zu den aufgaben des von geschwistern geführten
unternehmens. Die immer raschere, überhastete college-ausbildung als
vorspann zum geschäft hat zur folge, dass viele männer und frauen
ihren abschluss machen, ohne je die ``anderen welten''
oder tiefere sinnschichten kennengelernt zu haben. ....
Die New Yorker kunstwelt hat schon vor dreissig jahren vor der seichtheit der
kindlichen gesellschaft kapituliert. Die hoffnungsvollen jungen männer und
frauen Hieronymus Boschs, die riesige erdbeeren tragen,
verwandeln sich in eine eintönige rote wand.
Die beiden wildgänse, die allein in die andere welt fliegen, kommen dort
nicht an.
....
Ein symbol zu lesen heißt, an ihm entlangzugehen, bis man in die welt
eintritt, in der keine irdischen ereignisse mehr geschehen. ....
Der grundgedanke des rituals klingt für uns fremd:
wenn etwas in der anderen welt geheilt wird, wird auch in dieser welt etwas
geheilt. Von daher lässt
sich sagen, dass der gemeinsame kern der mythischen bilderwelt und der
rituellen praxis darin besteht, dass wir zwei chancen haben, etwas zu
vollbringen. ....
Wenn Shiva in der anderen welt Ganesha den kopf abschlägt, heisst dies,
dass dieser gewaltakt im diesseits nicht geschehen muss. ....
Darzustellen, was geschieht, ohne jemandem die schuld zu geben, ist das
geschenk einer mythischen geschichte.
....
Die kindliche gesellschaft ist fast die reine antithese zu einem tibetischen
kloster. Wir haben so lange bier getrunken, dass wir den geschmack echten
weines fast vergessen haben.
....
Die überzeugung der amerikanischen ureinwohner, dass man vor jeder
entscheidung deren folgen bis in die siebte generation hinein überdenken
solle, ist vertikales denken .... Vertikale aufmerksamkeit erfordert die
fähigkeit oder zumindest das verlangen, nach unten zu blicken; oder die
fähigkeit, nach oben zu schauen, zu den sternen, zu den energien
jenseits der sterne, zu den engeln.
Ein problem der kindlichen gesellschaft besteht darin,
dass sie in ihrem heftigen bemühen, sich von hierarchien zu lösen,
unabsichtlich alles vertikale verlangen meidet.
Es ließe sich sagen, dass das vertikale verlangen mit gefühlen
zu tun hat, und hierarchien mit macht. Die katholische kirche übernahm die
machthierarchien des römischen reiches oder passte sich ihnen an, und wirft
diese beiden elemente - verlangen und hierarchie - seither unablässig
zusammen. Sie hat alles durcheinander gebracht.
....
Wir müssen erkennen, dass Bosnien, Ruanda, Somalia und Kambodscha heute
kindliche gesellschaften sind. In Kambodscha wurden die alten, lehrer,
priester, journalisten und künstler gezielt umgebracht. Dies zu tun,
erfordert eine menge zorn. Dieser zorn entstand in den jungen menschen und
führte zum tod von millionen vätern, müttern,
onkeln und lehrern. Jene, die noch leben, hegen nun zorn wegen der morde.
Unsere kindliche gesellschaft wurde mit unterschiedlichen mitteln geschaffen,
doch einhergehend mit dem wachsenden zorn der jugend wurden die älteren
allerorten auf vergleichbare weise beseitigt.
....
Die kindliche gesellschaft hat sich für den bruder-bruder-weg und den
schwester-schwester-weg (und nicht für den eltern-kind-weg) entschieden.
....
In gewisser hinsicht sagen wir in dieser kultur zu allem ja, nur nicht zu
erwachsenen menschen .... Die wachsende abneigung von menschen gegen menschen
konzentriert sich heute in der vernachlässigung der kinder.
....
Niemand kann sich zu energischen schritten entschließen oder bewunderung
für Beethoven, Freud, Mutter Theresa oder den eigenen ehepartner
empfinden, weil wir- vielfach gehemmt und durch hunderte von spiegeln der
sicht auf den horizont beraubt - nichts konstantes ausser dem neid kennen.
Nur der dankbare blick nach oben bricht den bann der spiegel ....
Wir können sagen, dass die einzige macht, die männer und frauen
über den anderen haben, nun in der gleichgültigkeit besteht.
....
Wirklich erwachsen ist derjenige, der es verstanden hat, sein inneres feuer,
das auch das besondere feuer seiner generation einschließt, zu bewahren,
so dass er nun gegenüber der jungen generation etwas anzubieten hat.
Wir können sagen, dass der zu den ältesten gehört,
der sein feuer nicht nur bewahrt, sondern es auch vermehrt hat.
....
Robert Bly, Die kindliche Gesellschaft, Über die Weigerung, erwachsen zu
werden, Knaur, München, 1998
(Original `The Sibling Society', 1996)
Vom Aufenthaltsort der verloren gegangenen Eltern
Von der manipulativen und sonstigen Macht des Fernsehens
Von den Ursachen der Kostenexplosion im Gesundheitswesen
Watching for Columbine
Der gefrorene Blick: Rainer Patzlaff
Das Fernsehen hat aus dem Kreis der Familie einen Halbkreis gemacht
(Françoise Sagan).
Einer der historischen Herausgeber einer britischen Boulevardzeitung hatte
ehemals über seinem Schreibtisch ein gerahmtes Schild aufgehängt. Und
da stand nur ein Satz und der hieß: Es ist zehn. Und damit war nicht die
Uhrzeit, es war das geistige Alter des Publikums gemeint. Und jeder Satz in
seiner Zeitung musste sich an der Maxime messen, dass er von einem
Zehnjährigen verstanden werden müsse. Das ist die Voraussetzung, die
auch das Fernsehen stellt. Es ist ein Medium der Unterforderung.
Wenn wir uns das alles abgewöhnen, diese Form des Sprechens, diese Form,
uns zu informieren, diese Form, fremde Länder zur Kenntnis zu nehmen, ihre
Probleme mitzudenken, diese Form des ästhetischen Gestaltens, dann die
Nacht noch dazu, dann noch die schwarzhaarigen Frauen: dann ist die These, dass
das Fernesehen besser beschreibbar ist durch das, was es zum Verschwinden
bringt, als durch das, was es zur Erscheinung bringt, einigermaßen
plausibel.
(Roger Willemsen, Das blinde Medium - Rede zur Lage des Fernsehens,
Tübingen 2011, Institut für Medienwissenschaft)
...
Eine amerikanische forschergruppe untersuchte 1979 die zahl der saccaden
[Anm v menkaura:
sprung des auges zwischen fixationspunkten beim betrachten eines bildes
]
beim fernsehen und stellte eine massive verringerung der augenaktivität
fest: während einer 15minütigen fernsehsitzung (thema war eine
Hollywood-show) fanden bei allen versuchspersonen in einem zeitraum von 20
sekunden nur 5 bis 7 saccaden statt. Verglichen mit den 2 bis 5 saccaden pro
sekunde beim freien umherblicken in einer natürlichen umgebung (was in 20
sekunden eine frequenz von 40 bis 100 saccaden ergeben würde) bedeutet
das einen rückgang um durchschnittlich 90 prozent ....
.... selbst eine buch bietet dem auge beim lesen noch ein fünfmal so
großes feld ....
Geht aber die augenaktivität gegen null, überträgt sich die
starre der augen auf den ganzen körper, und selbst bewegungsfreudigste
kinder sitzen stundenlang still. Ärzte nennen das bewegungsstau -
eine grob verharmlosende formulierung, die uns fragen lässt, ob hier nur
gedankenlosigkeit oder bewusste irreführung vorliegt ....
Dieser zustand hat eine nähe zur trance
Bei allen kindern wurde eine verringerung des grundumsatzes um rund 12 bis 16
prozent gegenüber dem ausgangswert gemessen, im schnitt knapp 14 prozent.
Mit anderen worten: obwohl sich der körper schon vor dem fernsehen im
zustand absoluten nichtstuns befand, sank der kalorienverbrauch durch den blick
auf die mattscheibe nochmals, und diesmal erheblich, ab .... gleichzeitig aber
greift man gerne zu äusserst kalorienhaltigen snacks und
süßigkeiten
Eine arbeitsgruppe um Axel Mattenklott inszenierte 1991 im TV-studio der
universität Mainz mit 32 zuhörern eine zwölfminütige
podiumsdiskussion über das damals gerade aktuelle thema >>Einführung
der pflegeversicherung<<. Es diskutierten zwei angebliche experten, die in
wirklichkeit schauspieler waren und von den versuchsleitern genau instruiert
waren, wie sie sich verhalten sollten .... moderiert wurde die diskussion von
einer bekannten fernsehredakteurin .... anzahl und stärke der argumente
.... (insgesamt 16) .... im gleichgewicht .... verfassten .... drehbuch
....
Da die diskussion mit mehreren kameras gefilmt wurde, konnten verschiedene
fassungen hergestellt werden .... unterschieden sich dadurch, dass in dem einen
film sprecher A, in dem anderen film sprecher B dreimal in großaufnahme
gezeigt wurde. Ferner hob die kamera in der einen fassung die (gespielt)
nervösen fingerbewegungen von A hervor, in der anderen die von B.
Zusätzlich wurden an bestimmten stellen, wiederum wechselweise, die
positiven oder die negativen zuschauerreaktionen eingeblendet.
Das ergebnis war erstaunlich: gefragt nach der souveränität der
beiden kontrahenten, bewerteten diejenigen personen, die die diskussion im
studio mit eigenen augen erlebt hatten, beide fast gleich; A wurde ein wenig
schwächer eingestuft. Die fernsehzuschauer hingegen, deren blick von der
kamera geführt wurde, sprachen A die größere
souveränität zu, wenn er in ihrere fassung gezoomt worden war
(dreimalige großaufnahme des gesichtes). Umgekehrt wurde A als weitaus
schwächer eingestuft, wenn B in großaufnahme erschien.
Ähnlich .... wenn die kamera die nervös spielenden finger mit dem
zoom heranholte ....
Besonders pikant war, was sich bei der wirkungsprüfung der eingeblendeten
zuschauerreaktionen herausstellte: Die im studio anwesenden zuschauer hatten
die (von den veranstaltern bewusst inszenierten) nonverbalen reaktionen
einzelner gäste miterlebt und glaubten nicht, dass die anderen anwesenden
dadurch in ihrer meinung beeinflusst worden seien. Spielte man jedoch einer
anderen gruppe eine filmfassung vor, in der positive zuschauerreaktionen
eingeblendet waren, dann glaubten die zuschauer sicher zu wissen, dass dies die
meinung der anderen zuschauer beeinflussen werde - ein bemerkenswerter befund:
von den anderen glaubt man, dass sie durch das fernsehen leicht beeinflussbar
seien, man selbst hält sich für völlig unbeeinflusst! Oder in
der sprache des berichtenden wissenschaftlers: >>Die probanden schreiben sich
selbst kritikfähigkeit zu, die sie vor persuasionsversuchen schützt,
nicht aber den anderen rezipienten.<< ....
[Anmerkung von menkaura:
Dies zeigt aber auch das (unterschwellige) wissen des zuschauers um die macht
der übergeordneten autorität des fernsehens]
Dies ergebnis ist umso bemerkenswerter, als es sich bei den versuchspersonen
durchweg um studentinnen und studenten handelte ....
Wenn man bedenkt, in welch hohem maße moderne demokratien heute bei allen
sachlichen und personellen entscheidungsprozessen auf die massenmedien
angewiesen sind und welch eine überragende rolle dabei das fernsehen
spielt, dann müssen wir uns die frage gefallen lassen, ob wir nicht
längst in einer scheindemokratie leben, in der die bürger mit der
illusion völliger mündigkeit in umso größerer
unmündigkeit gehalten werden ....
[``Der Durschnittszuschauer wähnt sich
unterrichtet, während er in Wahrheit auf unterhaltsame Weise nichts
erfährt''
Jürgen Leinemann, Die Staatsschauspieler, Der Spiegel 39/2004 p142
``Er [Alt-Bundeskanzler Helmut Kohl] nutzte vor allem die privaten sender -
die `unseren'
wie sie im Kanzleramt zu sagen beliebten -
als Machtinstrumente, um seine Weltdeutungen unter die Leute zu bringen.''
ebenda p150]
Der elektronische hausaltar .... 1948 zählte man in den USA noch keine
100000 geräte; nur zwölf jahre später war mit 150 Millionen
geräten bereits eine flächendeckende versorgung der gesamten
bevölkerung erreicht .... ähnlich schnell in anderen ländern
.... ein beispielloser siegeszug ....
Von anfang an wurde dem fernsehen nicht mit jener sachlichkeit und
nüchternheit begegnet, die wir sonst bei technischen geräten für
selbstverständlich halten .... eine geradezu mythische verklärung fand
statt, indem man als realität ansah, was nur eine vage hoffnung war. Das
fernsehen, so meinte man euphorisch,
- erlöse den einzelnen aus seiner sozialen isolation
- werde im alltag große zeitersparnis bringen
- zeige den menschen die welt, wie sie wirklich ist
- werde den volksmassen immer mehr information erschliessen
- werde die bildung der gesamtbevölkerung entscheidend heben
- werde die unterschiede zwischen den sozialen schichten einebnen
- werde aktivierend auf die kognitiven fähigkeiten der zuschauer
wirken
- werde den kindern bessere schulische leistungen ermöglichen
- werde das verständnis für politik fördern und die demokratie
stärken
Die medienwirtschaft hat sich zunächst nicht sonderlich bemüht,
diesen nebel frommer wünsche zu lichten .... internationalen forschung
.... Das resultat war deprimierend, denn keine der hoffnungen hat sich
erfüllt. Ganz im gegenteil:
- Die einsamkeit wächst ... 1996 äußerten bei befragungen 57
prozent der deutschen wachsende befürchtungen hinsichtlich der
auswirkungen neuer medien auf die menschliche kommunikation ....
- Die zeitfalle: stress statt mehr zeit .... der vermeintliche genuss sich am
ende als unbeabsichtigte zeitvernichtung und zeitvergeudung
entpuppte ...
Eine generation von fast-food-medienkids wächst heran
- Unwirklichkeit und angst .... Der tägliche kampf um die quoten
lässt den redakteuren gar keine andere wahl ....
>>Die eigentümliche konsequenz dieser orientierung am anormalen liegt
darin, dass dadurch praktisch dieses anomale normalisiert wird, es als die
regel erscheint und damit die wirklichkeit auf den kopf gestellt wird<<
....
- Die lesekultur geht zurück .... der stellenwert der buchlektüre in
den letzten eineinhalb jahrzehnten in allen untersuchten gruppen deutlich
gesunken .... Kinder, denen man erzählt hat und die frühzeitig an
das lesen herangeführt werden, entwickeln nicht nur das
größere sprachvermögen, sondern auch präzisere bilder
von der welt. Die aktiven leser erweisen sich auch als die aktiven denker
....
- Je mehr fernsehen, desto weniger wissen .... Der Spiegel 1994 ....
festgestellt, dass (außer beim sport) durchgängig das wissen umso
geringer ist, je länger man fernsieht .... Die bilder-folge suggeriert
bereits ein >>verstehen<<, da braucht man sich um die meist abstrakten
worttexte nicht mehr zu bemühen .... So verhindert fernsehen echte
wissensaufnahme gerade durch das, was an ihm am meisten geschätzt wird:
durch lebensnah erscheinende bilder
- Die soziale kluft vergrößert sich .... Die bevölkerung mit
der geringen bildung bevorzugt das fernsehen, diejenige mit höherer
bildung zeitung, zeitschrift, buch .... vielleser verfügen über
eine deutlich höhere medienkompetenz als vielseher ....
- Eine mehrheit von medien-anaphabeten .... Der konsument sieht nur noch das,
was er längst kennt, und erfährt dabei das, was er ohnehin schon
weiß ....
- Vielsehen verschlechtert schulische leistungen ....
- Statt politischer mündigkeit wachsende manipulierbarkeit ....
Noelle-Neumann konnte 1981 anhand von demoskopischen langzeitstudien
nachweisen, dass zwischen 1952 und 1981 das interesse für
politik in der bevölkerung von 27 prozent auf 50 prozent angewachsen
war, gleichzeitig aber das aktuelle politische wissen ....
unverändert auf dem stand von 1952 blieb .... >>.... mehr beteiligte
gefühle ohne wissen, das bedeutet leichtere manipulierbarkeit.<< ....
Denn aus den inzwischen zahlreich vorliegenden internationalen untersuchungen
zum fernsehverhalten geht eines klar hervor: wer seinen fernsehkonsum bewusst
in maßen hält, sich seine programme gezielt aussucht und
souverän mit der >>Aus<<-taste umzugehen weiß, der bringt in der
regel eine voraussetzung mit, die anderen abgeht: er verfügt über
höhere bildung! Diese bildung aber hat der betroffene nicht vom bildschirm
gelernt, sondern außerhalb des fernsehzimmers, durch völlig anders
geartete tätigkeiten .... Seine medienkompetenz wurde also nicht am,
sondern gegen das medium erworben ....
Längst wird heute von offiziellen gesundheitsorganisationen wie der WHO
das extensive fernsehen zu den suchtkrankheiten gezählt ....
Die amerikanische forschung hat große sorgfalt darauf verwendet, dass
diese bildschirmbotschaften die essgewohnheiten von kindern und erwachsenen
tatsächlich beeinflussen. So wurde 1990 herausgearbeitet, dass eine
signifikanter zusammenhang besteht zwischen fettsucht und fernsehkonsum
....
Der amerikanische militärpsychologe Dave Grossman hat 1999 die
Öffentlichkeit eindringlich darauf hingewiesen, dass >>durch
gewaltdarstellungen in den massenmedien und, viel dramatischer, durch
gewaltgetränkte interaktive videospiele<< teenager und kinder genau
denselben mechanismen ausgesetzt werden, die berufssoldaten zum töten
konditionieren. Er schrieb dazu: >>Bevor ich aus dem militärdienst
ausschied, verbrachte ich fast 25 jahre als aktiver infanterieoffizier und
psychologe, dessen aufgabe es war, menschen zum töten fähig zu machen
- eine aufgabe, in der wir es sehr weit gebracht haben. Aber: die
fähigkeit zu töten kommt nicht von selbst, sie ist nichts
natürliches. Töten muss man lernen. Mir ist heute klargeworden:
genauso, wie wir beim militär menschen konditioniert und trainiert haben,
damit sie töten können, lassen wir es - völlig kritiklos und
blind - unseren kindern widerfahren.<< Als entscheidende bedingungen für
diese konditionierung nennt er brutalisierung und
desensibilisierung . Beide werden durch gewaltdarstellungen von
kindesbeinen an gefördert ....
Nach dem unglück in Jonesboro ....
>>.... Das US-fernsehen verschweigt meine geschichte. Es kennt seine schuld und
will eingriffe in seine hoheit verhindern. Nichts bleibt vor den suchenden
augen der TV-kameras heute noch versteckt - außer ihrem eigenen
schädlichen einfluß auf kinder.<< .... Ist die willenslähmung
schon so weit vorangeschritten, dass selbst katastrophen uns nicht mehr
wachrütteln?
[In einem interview mit dem `Greenpeace Magazin 1/2004'
sagt David Grossman:
"Interessanterweise zeigen historische Dokumente jedoch, dass Soldaten zwar
bereitwillig auf unsichtbare Ziele feuern, aber nicht auf Menschen. Im
amerikanischen Bürgerkrieg hat die Mehrzahl der Beteiligten bewusst
über die Köpfe ihrer Gegner gefeuert; die meisten Toten fand man mit
geladener Waffe. Sogar im zweiten Weltkrieg betrug der Anteil der Soldaten,
die mit tödlicher Absicht auf den Gegner schossen, nur zwischen 15 und 20
Prozent. Erst später stieg diese Quote: In Korea betrug sie 55 Prozent,
in Vietnam 90 Prozent. In diesem Bereich bewegen wir uns auch heute.
Früher hingegen konnten Soldaten oft nicht einmal durch Drohungen und
Prügel zum Töten gebracht werden. .... Zwei Monate nach der Landung
in der Normandie 1943 waren 98 Prozent aller US-Soldaten psychisch krank. ....
Von jeher wurden Krieger nach der Schlacht einem Ritual der Reinigung
unterzogen, um ihre Blutschuld zu tilgen. Nach Vietnam hat Amerika einer
ganzen Generation von Soldaten diese Anerkennung verweigert ....
Etwa 150.000 Vietnam-Veteranen haben sich das Leben genommen - dreimal mehr,
als während des Krieges gefallen sind. Man muss bedenken, dass die
Rekruten damals im Durchschnitt 19 Jahre alt waren. Junge Menschen lassen sich
zwar leichter motivieren zu töten, sie können jedoch schwerer mit
dem Erlebten umgehen. .... Für einen 12-jährigen sind diese
Videospiele, um im Bild zu bleiben, wie Porno. .... Wir haben es mit einem
Virus zu tun, der sich zur Epidemie ausbreiten wird, wenn Medien und
Unterhaltungsindustrie nicht reagieren. .... "]
Bei wiederholter Übung wird vor allem deutlich, dass dem medium fernsehen
bei der Übermittlung komplexer sachverhalte grundsätzliche schranken
gesetzt sind. Gedankliche zusammenhänge darzustellen ist im medium des
bildes viel schwerer als im medium des wortes, ja oft sogar ganz
unmöglich
Zu allem tritt auch noch die bewegungslosigkeit hinzu, in die das kind durch
den bildschirm gezwungen wird, und sie allein schon wäre problematisch
genug, da alle infrage kommenden körper- und gehirnfunktionen sich nur
durch bewegung ausbilden können. Bewegung ist das lebenselement des
kindes. Wer sie abschaltet, beraubt das kind seiner wichtigsten tätigkeit.
Deprivation nennen die wissenschaftler einen solchen entzug, eine
>>beraubung<<, und sie hat in diesem alter so schwerwiegende folgen, dass sie
als eine form von gewaltanwendung bezeichnet werden muss
Alle intensiveren oder wiederholten lernprozesse führen im nervensystem zu
wachstums- und organisationsvorgängen mit ausbildung von neuen
verbindungen zwischen sinneszellen und hirngebieten .... Die menschlichen
tätigkeiten schlagen sich also unmittelbar in der neubildung von
nervenverzweigungen nieder und verankern sich dadurch als fähigkeiten in
den gehirnstrukturen. Diese erstaunliche >>plastizität<< des gehirns geht
zwar nie ganz verloren, doch gibt es phasen der bildbarkeit, die so nicht
wiederkehren ....
[Der Spiegel No 43 vom 20oct03 schreibt im artikel
`Die Geburt der Intelligenz':
Erstmals beobachteten Forscher am Massachusetts Institute of Technology diesen
für das Lernen so wichtigen Selbsterfahrungsmechanismus an einem Versuch
mit zwei jungen Kätzchen. Sie ließen die Tiere in Dunkelheit
aufwachsen und setzten sie dann in ein beleuchtetes Drehkarussell: Eines hatte
die Pfoten auf dem Boden und trieb die Gondel durch Laufen an, das andere
kreiste ohne eigenes Zutun. Obwohl beide Tiere den gleichen Ausschnitt der
Welt erblickten, lernte nur das aktive Kätzchen, richtig zu sehen und
sich im Raum zu bewegen. Das andere blieb nahezu blind.
Ein ähnliches Schicksal können Kinder mit einer Hornhaut- oder
Linsentrübung erleiden. ``Werden sie nicht frühzeitig behandelt,
bleibt wie bei den Kätzchen die Informationsaufnahme gestört'',
erklärt Singer. ``Das Auge erhält keine strukturierten Signale, die
Netzhaut ist nur spontan aktiv, und die neuronalen Verbindungen, die das Sehen
ermöglichen, verstärken sich nicht.'' Nach einigen Tagen werden sie
vernichtet und wachsen nie wieder nach. Das Kind bleibt ein Leben lang
blind.]
.... zeigen .... untersuchungen deutlich, dass häufiges fernsehen kleine
kinder dem ernsthaften risiko aussetzt, keine bedeutsamen kenntnisse von der
welt zu erwerben und geringere lesefähigkeit, geringere fähigkeit,
wirklichkeit und fantasie zu unterscheiden, geringere vorstellungskraft, eine
furchtsamere weltsicht und größere ruhelosigkeit bei mehr aggression
zu entwickeln. Dies alles führt zu einer mangelnden verhaltensanpassung,
wenn das kind in die schule kommt ....
Werbung beispielsweise ist für sie bis zum alter von fünf bis sieben
jahren noch genauso real wie das übrige programm; erst mit acht bis
zwölf jahren stellt sich die fähigkeit ein, die werbeabsicht zu
durchschauen
So viel bedeutung die eltern der fernsehinformation für ihre sicht von der
welt und des lebens in ihr zumessen, so viel hat sie auch für die kinder
.... Das kind braucht, wie jeder lehrling auch, zunächst die orientierung
am erwachsenen, und je mehr der dem kind an sachlicher kompetenz, an weitsicht
und reichtum der aspekte zu bieten hat, desto besser für das kind. Denn
wirklich zu >>sehen<<, was man sieht, das ist eine kunst, die erst einmal
gelernt sein will
[``Während seiner Amtszeit propagierte er [Alt-Bundeskanzler Helmut
Schmidt] ganz altmodisch einen fernsehfreien Tag in der Woche. Er habe sich
tatsächlich Sorgen gemacht, dass das Gespräch in der Familie
verkümmere, sagt sein früherer Pressesprecher Klaus Bölling
heute''
Jürgen Leinemann a.a.O. p147
]
>>Beim vergleich der daten über spielverhalten und fernsehkonsum stellten
wir fest, dass diejenigen, die am wenigsten fernsahen, die meiste fantasie
besaßen.<< .... Vielseher erbringen nachweislich deutlich schlechtere
schulleistungen als wenigseher
Wir müssen davon ausgehen, dass der >>abkoppelungsprozess eines (im
durchschnitt) guten drittels der bevölkerung vom lesen ein
durchgängiges phänomen der OECD-gesellschaften ist<<, schreibt Helmut
von der Lahr. Von der verheißenen chancengleichheit für alle kann
mithin keine rede sein ....
[Das ergebnis der PISA studie 2000 passt dazu]
[Klaus Schroeder (*1949), Professor für Politikwissenschaften an der
Freien Universität Berlin, Gespräch zur sozialen Lager der Nation
`Reichtum wird überschätzt' ....
`Das heißt freilich nicht, dass nicht auch die Oberschichten von
Umverteilung profitieren können. Wenn jemand ein- oder zweimal pro
Woche in die Oper geht,
wird er unter Umständen mit einem höheren Betrag subventioniert
als ein sozialhilfeempfänger.'
.... `Wir haben mehr kulturelle als materielle Armut. Und wir müssen zur
Kenntnis nehmen, dass es eine wachsende Gruppe von Menschen gibt, die es gut
finden, tagsüber Krawall-Talkshows zu schauen, Bier und Schnaps zu
trinken und dabei zwei Schachteln Zigaretten zu rauchen. Für mich mag
das erschreckend sein, aber in einer liberalen Gesellschaft muss ich
akzeptieren, dass es verschiedene kulturelle Ausdrucksformen gibt.'
`brand eins' Heft 02/2007 pp88ff]
Wo immer sich junge leute vergnügen, sind sie zum schweigen verdammt - im
kino, im open-air-konzert, in der disco, beim video, vor dem fernseher und dem
computer. Sie werden bis zur bewusstlosigkeit beschallt, es wird auf sie
eingeredet - nur selbst etwas sagen: das brauchen, dürfen sie nicht
....
So war die zahl der schüler an sprachbehindertenschulen in
Nordrhein-Westfalen von 1986 bis 1993 um 58 prozent gestiegen ....
Bestätigung .... 1996 durch
eine umfangreiche untersuchung von Jörg Doleschal und anderen an 1641
Bochumer kindergartenkindern, von denen 25 prozent artikulationsstörungen
aufwiesen und 43 prozent ein defizitäres sprachverständnis ....
Die englische gesellschaft für sprachgeschädigte kinder ließ
1996 verlauten, bereits jedes dritte kind in England sei >>sprachlich
auffällig zurückgeblieben<<. Erhebungen in Bulgarien 1998 ergaben 21
bis 27 prozent sprachstörungen im vorschulalter ...
[Hier muss eine reelle reform des gesundheitswesens
ansetzen]
Rainer Patzlaff, Der gefrorene Blick, Physiologische Wirkungen des Fernsehens
und die Entwicklung des Kindes, 2. Auflage, Verlag Freies Geistesleben,
Stuttgart, 2000
Zum Verhältnis von soziologischen, psychologischen und
psychoanalytischen Theorien des Verbrechens
Jugendkriminalität und
Gesellschaftsstruktur: Tilmann Moser
Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 1970
Anmerkung:
Folgendes entstammt oder betrifft Untersuchungen und Ergebnisse
früherer Autoren
Siehe insbesondere aber auch hier
Teil I: Jugendkriminalität und soziale Chancen
Kapitel I: Sozialstrukturelle Kriminalitätstheorien
p22: .... bei fast allen amerikanischen Forschungsansätzen die
Überzeugung, dass Kriminalität sozial bedingt ist. Anlagetheorien
sind nie zur Geltung gelangt. Deshalb sind die Theorien auch getragen von der
Gewissheit der Verantwortung der Gesellschaft.
p27: Grundhypthese dabei [bei Merton 1957] ist, "dass abirrendes Verhalten
soziologisch betrachtet werden kann als ein Symptom der Dissoziation zwischen
kulturell vorgeschriebenen Bestrebungen".
p32: Die Kultur der Bande löst dieses Problem, indem sie Statuskriterien
schafft, nach denen diese Kinder und Jugendlichen zu leben imstande
sind [Cohen p91]
Kapitel II: Das Verhältnis von Anomie und Normen
....
Kapitel III: Die empirische Kritik an den soziologischen Theorien der
jugendlichen Bandenkriminalität
p78ff: Die Bande ist eine Sackgasse, in die hinein ein langer Weg der
Benachteiligung auf mehreren Ebenen mündet (Short und Strodtbeck
verweisen auf die in den meisten Fällen schmerzlich lange Vorgeschichte
des Schulversagens), und aus der nur für wenige ein mühsamer Weg
herausführt: "Die Misserfolge, zusammen mit den begrenzten sozialen
und technischen Fähigkeiten und den blockierten Möglichkeiten,
stellen ein überwältigendes Hindernis dar für das Erreichen der
Ziele, die sie sich eigentlich vorgenommen haben." (S.230)
.... da die Jungen weitgehend emotional geschädigt sind, sind sie
zu gegenseitigem warmherzigen und stützenden Verhalten unfähig; sie
finden sich in ihren im Bandenkontext drängender werdenden emotionellen
Bedürfnissen enttäuscht. Dies erhöht die Aggressionen, die eine
Verstärkung außerdem noch dadurch erfahren, dass die Angst vor
emotionaler Abhängigkeit gleichzeitig dauernd durch aggressives, die
persönliche Autonomie betonendes Verhalten bekämpft werden muss.
Die einzige Form, überhaupt in emotional nahen und befriedigenden Kontakt
zu kommen, ist die Schaffung solidaritätserzeugender
Gefahrensituationen.
Kapitel II: Zum Verhältnis von Normen und Verhalten
p87: Die These der soziologischen Theoretiker der Jugendkriminalität, der
Druck der sozialen Anomie führe durch das Entstehen krimineller
Subkulturen auch zur Entwicklung krimineller Normen, ist empirisch bis auf
Nuancen widerlegt worden. Es ließ sich nicht zeigen, dass delinquente
Jugendliche sich an verbalisierbaren kriminellen Normen orientieren.
p97: Die Autoren [Reckless, Dinitz und Kay] nehmen an, dass das positive
Selbstbild wie das positive Bild, das die enge Umgebung von den [nicht
delinqenten] Jungen hat, sie wie eine schützende Hülle umgibt.
Teil II: Jugendkriminalität und Sozialisationsprozesse
p104ff: "Besonders bemerkenswert war der Befund, dass die Beziehungen der
Delinquenten aus dem Gebiet der Diebstahlssubkultur zu ihren Eltern am
wenigsten kooperativ von allen waren." [Spergel 1964]
"Belastete Beziehungen zwischen Eltern und Jugendlichen, Mangel an
angemessener elterlicher Liebe und Aufsicht ebenso wie soziales und
wirtschaftliches Elend (deprivation) korrelieren mit delinquenter
Anpassungsform." [Spergel 1966]
"Wir haben vorgeschlagen, dass ein anderer und möglicherweise
nützlicherer Ansatz der wäre, Anomie als ein Nebenprodukt des
Sozialisationsprozesses zu sehen, als ein Zeichen des Scheiterns der
Sozialisation und der Mittel, mit denen sie vollzogen wird, nämlich
Kommunikation, Interaktion und Lernvorgänge."
[McClosky und Schaar 1965]
Kapitel V: Kriminalität und Familie
p113f: Stark unterschiedlich sind die Erziehungspraktiken: Während die
Delinquenten von ihren Müttern zu 56,8% lax, 36,6% regellos wechselnd
(erratic) und 4,2% mit freundlicher Bestimmtheit (firm but kindly) erzogen
wurden, lauten die Zahlen für die Nichtdelinquenten 11,7% lax, 21,1%
erratic und 65,6% firm but kindly (S. 131). Für die Väter ergibt
sich:
Delinquente: lax 26,6 erratic 41,6 firm but kindly 5,7
Nichtdelinquente: lax 17,9 erratic 17,9 firm but kindly 55,5
.... "Die Delinquenten haben jedenfalls eine etwas geringere
Beobachtungsfähigkeit und zeigen eine weniger starke Fähigkeit
für objektive Interessen; signifikant größere Gruppen von
ihnen als von den Nichtdelinquenten sind im Denken unrealistisch, haben keinen
gesunden Menschenverstand und sind unsystematisch in ihrem Zugang zur
Meisterung geistiger Probleme oder Aufgaben." Unterschiede sehen die
Autoren vor allem in Bereichen, "die mit emotionaler Dynamik verwoben
sind" ....
[Sheldon and Eleanor Glueck 1964]
p127: Bemerkenswerterweise korreliert Kriminalität des Vaters nicht mit
einem einzigen kriminogenen Persönlichkeitsmerkmal bei den delinquenten
Jugendlichen (was im Falle der Vererbung höchst wahrscheinlich
wäre.
p134ff: Der Anstieg der Kriminalität ist noch steiler mit zunehmend
negativer Haltung der Mutter, von "normal-liebevoll" (27%) bis zu
"vernachlässigend" (72%), wobei wieder zu berücksichtigen
ist, dass Vernachlässigung Ablehnung und Lieblosigkeit
einschließt.
.... "Mütterliche Ablehnung schien kriminogener als väterliche
Ablehnung."
.... So hängen die Auswirkungen väterlicher oder
mütterlicher Grausamkeit ab von der Persönlichkeit des jeweils
anderen Elternteils. Sie zeigt geringe Wirkung, wenn der andere Elternteil
liebevoll ist.
.... Es ergibt sich aus den Untersuchungen zur Wahl des Verbrechenstypus eine
aufschlussreiche Tendenz: während bestimmte Verbrechensarten eindeutig
und hoch mit mütterlichen Grundeigenschaften konstant korrelierten ....,
gilt für die Väter, dass deren Persönlichkeit, wiewohl wichtig
für die Entstehung von Kriminalität überhaupt, kaum
Auswirkungen auf die Wahl des Typs von Verbrechen hat.
[William and Joan McCord 1959]
p144f: 69% der Delinquenten, aber nur 14% der Nichtdelinquenten beantworten die
Frage, wer sie mehr liebe, mit "die Mutter". Dagegen
äußern nur 15% der Delinquenten, aber 56% der Nichtdelinquenten, dass
sie sich von beiden gleich geliebt fühlen. 54% der Delinquenten gegen 7% der
Nichtdelinquenten wünschen sich, vom Vater mehr Zuneigung zu erfahren.
.... Väter von Delinquenten haben weniger Zeit für ihre Söhne,
die Familienkontakte sind gestört: 20% der Delinquenten, gegenüber 85%
der Nichtdelinquenten, verbringen den Sonntag mit den Eltern; ....
"Die Qualität der Freizeitkontakte zwischen Vater und Sohn war
eindeutig niedriger bei den Delinquenten als bei den Nichtdelinquenten."
.... doppelt so viele Delinquenten als Nichtdelinquenten betrachten ihre
Väter als "inadäquat" .... doppelt soviele D wie N werden
vom Vater ohne Vorwarnung geprügelt, 5% der D, aber 38% der N nennen ein
elterliches Gespräch mit ihnen die wirksamste Strafweise.
p150: Als (voll bestätigte) These von Gold lässt sich formulieren,
dass die sekundären Identifikationsmöglichkeiten für
Delinquenten, vor allem mit dem Vater, wesentlich geringer sind als die der N
und dass die die sekundäre Identifikation begründende
"Anziehung" des Vaters sehr schichtenspezifisch variiert.
p163: Ein Kind, das stark frustriert und abgelehnt wird, hat wenig oder nichts
zu gewinnen, wenn es die Wut und die Aggression ... kontrolliert.
p167 Vor allem "die Mütter der aggressiven Jungen waren signifikant
toleranter in bezug auf Aggression gegen sie selbst als die Mütter der
Kontrolljungen".... Die umgekehrte Inkonsistenz ergibt sich bei offenen
Aggressionen gegen andere: hier sind die Mütter der Aggressiven deutlich
strafbereiter, die Väter toleranter als bei der Kontrollgruppe ....;ja,
"sie ermutigen die Jungen aktiv, außerhalb der Familie Aggressionen
zu zeigen"
p179: Bennett fand sowohl für die Persönlichkeit der Mutter wie des
Vaters signifikant höhere Belastungen der Eltern von delinquenten als von
neurotischen Kindern mit einer ganzen Reihe von Störungen: die Hälfte
der Mütter waren "dissozial oder moralisch labil" (morally
unstable), d.h., sie begingen selbst Delikte, tranken, hatten Vorstrafen, waren
streitsüchtig, autoritätsfeindlich und deckten ihre Kinder nach
delinquenten Handlungen.
Ähnliches galt in einer signifikant höheren Zahl für die
Väter.
p181: Die Inkonsistenz der Haltungen der Eltern kann, wenn sie nicht Resultat
einer konträren Behandlung des Kindes aufgrund erstarrter Divergenzen
zwischen ihnen ist, die dem Kind ein aktives Manipulieren erlauben,
unberechenbar sein, wenn sie in den wechselnden Spannungszuständen im
Verhältnis der Eltern und deren schwankenden
Bündnisbedürfnissen begründet liegt. "Die 'Hassliebe', die
solche Eltern vielfach aneinander bindet, lässt die Möglichkeit
offen, dass sie sich zeitweilig wieder miteinander arrangieren. In Phasen
manifester Feindseligkeit bedrängt jeder das Kind, dass es seine Partei
gegen den anderen ergreife. Wieder kurzzeitig miteinander versöhnt,
können sie das Kind in der bisherigen Form nicht mehr gebrauchen."
(Richter, 1963, S. 280) In dieser Weise muss wohl das Gefühl massiver
Ablehnung erklärt werden, das Kinder in solchen Familien erleben.
[p380: Der Erfolg ist eine Schwächung der
Identifikationsmöglichkeiten, aber eine Stärkung der Neigung zum
zynischen Kalkül, zur lauernden Beobachtung, zur Preisgabe der Empathie,
zur manipulativen Einstellung usw.]
Kapitel VI: Psychoanalytische Kriminalitätstheorien
Teil I: Psychopathie, Angst und Abwehr
p184: "Wir fanden, dass es dem delinquenten Jugendlichen an Schuld- und
Schamgefühl fehlt .... Seine emotionalen Merkmale bieten ein Bild, das mit
der psychoanalytischen Erklärung der stehengebliebenen oder deformierten
Gewissensbildung des Delinquenten übereinstimmt; das heißt, er ist
unfähig, Frustrationen zu ertragen oder seine unmittelbare Befriedigung
zugunsten fernerliegender Ziele aufzuschieben, weil seine Gewissensentwicklung
auf einem Niveau verbleibt, das dem des kleinen Kindes gleicht. .... Moralisch
belehrende Erziehung hat keinen Einfluss, weil sie nicht in Nachahmung und
emotionaler Identifikation mit einem Menschen begründet ist,
an den es durch wechselseitige tiefe und liebevolle Gefühle
gebunden ist.... [Bennett 1969]
"Der Psychopath ist asozial. Sein Verhalten bringt in oft in Konflikt mit
der Gesellschaft. Den Psychopathen treiben primitive Wünsche und eine
übertriebene Gier nach Erregung. In seiner auf sich selbst bezogenen Suche
nach Lust ignoriert er die Einschränkungen seiner Kultur. Der Psychopath
ist hochimpulsiv. [McCord 1964]
p188: Diese "Psychopathen" "unterscheiden sich vom
Psychoneurotiker allein dadurch, dass dieser die Spannung zwischen unbewussten
Tendenzen und verdrängenden Kräften im neurotischen Symptom
- autoplastisch - darstellt, während der erstere die gleiche Spannung durch
Handlungen - alloplastisch - in die Realität überführt".
.... "Für alle Psychoneurosen wie für den größten
Teil der Kriminellen ist charakteristisch, dass diese Einverleibung des
Über-Ichs unvollkommen bleibt. Es misslingt die Zusammenfassung des Ichs
und des Über-Ichs zu einem einheitlichen Gebilde, das Über-Ich bleibt
mehr oder weniger ein Fremdkörper, es bleibt eine Spannung zwischen dem
Ich und dem Über-Ich, in der das Ich bestrebt ist, seine
Unabhängigkeit gegenüber dem Über-Ich wieder zu erlangen, dem
Drängen der ursprünglich unangepassten Triebtendenzen es Es
nachzugeben."
[Alexander und Staub 1929]
p189: .... liegt die Annahme zugrunde, die Charakterstruktur einschließlich
des Überichs könne durchaus normal integriert, aber als Ganze
antisozial ausgerichtet sein. Die Forschungsergebnisse (vgl. Kapitel IV)
widersprechen dem. Milieus, in denen eine "normale" Sozialisation zu
einem kriminellen Überich führt, scheinen extrem selten, wenn nicht
inexistent zu sein. [ebenda]
p198ff: 2. Die Theorien der Überichlücken
Johnson und Szurek stellen in jahrelangen Untersuchungen und psychoanalytischen
Behandlungen von dissozialen Kindern und deren Eltern fest, dass in sehr vielen
Fällen, besonders bei äußerlich gut angepassten Familien, das
dissoziale "Ausagieren" (antisocial acting out) von Kindern in sehr
engem Zusammenhang stand mit unbewussten Konflikten der Eltern ....
Bei der Wahl des Kindes - denn meist wird nur ein einziges Kind zum Agieren
gebraucht - spielen Momente der Konstitution, der Geschwisterfolge, des
Geschlechts usw. eine Rolle, die den "Anlass" dafür bilden, ihm
die Rolle des "Sündenbocks" (scapegoat) zuzuschieben ....
"Die unbewusste Verwendung (employment) des Kindes zum Ausagieren
der eigenen ... Impulse durch die Eltern wurde in allen ökonomischen und
Bildungsschichten beobachtet, und zwar mit der Häufigkeit,
Regelmäßigkeit und Voraussagbarkeit eines gutdefinierten,
menschliches Verhalten determinierenden psychologischen Mechanismus."
.... das abweichende Verhalten wird unbewusst bekräftigt, trotz bewusster
und verbaler oder gar punitiver Gegensteuerung ....
p203: Es zeigte sich, dass signifikant mehr Kinder, die von ihren Eltern eher
als Unruhestifter (troublemakers) denn als "Schoßkinder" (pets)
betrachtet worden waren, kriminell wurden. "Die zugewiesenen Rollen waren
offensichtlich vorhanden vor dem Einsetzen der Delinquenz. Der Schluss schien
zu sein, dass Eltern, wenn sie ihre Kinder als Unruhestifter sahen, eine sich
selbst erfüllende Voraussage machten" (self-fulfilling profecy ....).
Auch hier scheint die Wahl des Sündenbocks vorzuliegen. [McCord]
p210ff: Unter normalen Umständen erträgt ein Kind die Erfahrung, dass
es von übermächtigen Erwachsenen hilflos abhängt, mit Hilfe der
Tatsache, dass es geliebt wird. .... Das Gefühl, nicht geliebt zu werden,
bedeutet für das kleine Kind eine schwere Bedrohung seiner Existenz, die
es abzuwehren versucht ....
"Die Pathologie des Delinquenten scheint zentriert um die Umwandlung des
primären in sekundäres Omnipotenzgefühl. Es widersteht der
Abtretung von Teilen seiner eigenen Omnipotenz an andere."
[Künzel 1968]
p211: Aggressives Agieren wurde als Abwehr drückender Angst analysiert.
.... Gelegentlich beanspruchen sie offen, sie seien ausgenommen vom Zwang, die
Gesetze zu beachten, denen der Durchschnittsmensch gehorcht. [Eissler 1959]
p214: .... Eltern von Kriminellen des psychopathischen Typs ....
"im allgemeinen unreife Individuen, die, offen oder versteckt,
ausbeuterisch gegenüber ihren Kindern sind, ebenso wie brutal. ....
In diesen Familien fehlt es an den entsprechenden Vorbildern zur Identifikation
als Hilfe in der Ichentwicklung des Kindes; im Gegenteil, die infantilen Eltern
machen aus ihren Kindern Eltern und richten Wünsche an sie (want from
them) auf allen emotionalen Ebenen.
.... dass eine derartige Mutter ebenso bereits die Enttäuschung wie
die Liebeserfüllung antizipiert ... " [Bernabeu 1958]
p219: "Unter der Oberfläche scheinbarer Konformität und
'Bravheit' findet man oft bei einem Elternteil das Bedürfnis, dass ein
Familienmitglied delinquent ist." [Gerd Iben 1968]
Kapitel VII: Psychoanalytische Kriminalitätstheorien
Teil II: Störungen der Identifikation
p243f: "Der Delinquent hat unwirksame Ichmechanismen, und folglich neigt
er dazu, Konflikte eher auszuagieren als mit ihnen mit rationalen Mitteln oder
durch Symptombildung (also intrapsychische Verarbeitung, T.M.) umzugehen.
....
Der psychischen Struktur des Delinquenten fehlt offensichtlich die
Fähigkeit zum Festhalten glücklicher Erinnerungen. Erinnerungen
haben keinen nährenden Wert für ihn." .... Dies ist ein Aspekt
der oft zitierten geringen Fähigkeit des Psychopathen zu lernen. Sie kann
in diesem Fall unschwer mit der Inkonsistenz und Unberechenbarkeit bzw.
Unsicherheit der "glücklichen Erinnerungen" in Zusammenhang
gebracht werden und mit der fehlenden frühen Introjektion
verlässlich-positiver Objekte, die dauerhaften inneren Schutz vor
Verlassenheit und Hilflosigkeit bedeuten. [Grossbard 1962]
p246ff: "Viele unserer Kinder sind so fatalistisch verängstigt und
überzeugt von der Unvermeidbarkeit des Versagens, dass sie sich von
manchen Bereichen ganz zurückziehen oder fürchterliche
Widerstände entwickeln gegen den bloßen 'Versuch', sogar unter den
günstigsten Umständen."
"Während ich dich als Mensch gern habe, wünsche ich doch keinen
Rat." .... Es ist eine Art Sympathievertrag, der Ichveränderung
ausschließt. [Bandura und Walters 1959]
p267f: Je aggressiver und brutaler in Realität und Phantasie der Umgang
des Vaters mit der Mutter ist, desto geringer ist die Identifikationstendenz.
Je nach den Dominanzverhältnissen ist der Vater der (von der Mutter)
abgelehnte Schwächling, mit dem sich zu identifizieren die Drohung von
Strafe oder Liebesverlust einschließt, oder er ist der brutale
Störenfried, dessen Rohheit die ödipale Ambivalenz in direkten Hass
verwandelt.
p276ff: "Es ist vor allem die Funktion des Vaters, ihr 'den Rücken zu
stärken' (to back her up) dadurch, dass er sein Verhalten mit ihrem in
Übereinstimmung bringt (make consistent), so dass sie für das Kind
ein 'einziges Objekt' darstellen." ....
Die elterlichen Aktivitäten lassen sich dabei zusammenfassen als ein auf
die Wahrnehmungs- und Motivationsmöglichkeiten des Kindes
zugeschnittener, dosierter Rollenwandel. [Parsons 1955]
Teil III: Jugendkriminalität und Sozialstruktur
p281: "Der Angehörige der Unterschicht hat mit größerer
Wahrscheinlichkeit ein schwach internalisiertes Überich. Dies kommt zum
Teil daher, dass die Körperstrafen, denen er durch die Eltern ausgesetzt
ist, direkter und äußerlicher sind. Grundsätzlich hängt
aber die Entwicklung eines Überichs von einem starken Band der Liebe
zwischen Eltern und Kind ab. Das Kind, das körperlich gestraft wird ohne
die Drohung eines Liebesverlustes, handelt nach den Spielregeln nur, solange
der Polizist aufpasst. Das Kind der Mittelschicht hat dagegen den Polizisten
verinnerlicht und hält sich an die Regeln, auch wenn niemand zusieht.
Diese Eigenschaft ist unabdingbar für den Erfolg, wie er in unserer
Kultur durch die Mittelschicht definiert ist. Die Entwicklung von
Schuldgefühl und die Angst vor Liebesverlust, die notwendig sind, um ein
Individuum sexuelle und aggressive Bestätigungen opfern oder umformen zu
lassen, das sind die Mechanismen, mit denen Kinder vorbereitet werden, um eine
hohe soziale Stellung zu erhalten oder zu erwerben."
[Langner und Michael 1963]
Kapitel VIII: Potentiell kriminogene Sozialisationsbelastungen in der
Unterschicht
p291f: Im Gegensatz zur überlegten Zurückhaltung und einem geplanten
Einsatz möglicher Strafe der Mütter der Mittelschicht strafen die
der Unterschicht im Augenblick des Zorns, also wenn sie selbst böse sind.
....Die Strafe dient mit zu ihrer eigenen emotionalen Entladung.
[Kohn 1959]
p296: "Willkürlich bedingte Unterwerfung unter Autorität ist
unangenehm, weil sie das Kind in eine verletzliche und demütigende
Position versetzt .... Der Elternteil, der sich selbst als oberste
Autorität setzt, beraubt so das Kind der Initiative und behindert seine
Anpassung an neue Situationen." [Waters and Crandall 1964]
p299: Gerade dieser "support" durch den Vater für den Sohn fehlt
tendenziell in der Unterschicht
p304ff: .... dass der größte Mangel an adäquater
Rollenerfüllung der Eltern sich "in den Bereichen findet, die mit
expressivem Verhalten zu charakterisieren sind" ...., also dort, wo es um
den Austausch von Gefühlen, Fürsorge, Verhaltenserwartungen,
Unterstützung geht .... Die Ausfälle sind also in den Bereichen am
größten, die für die Entstehung von Delinquenz am wichtigsten
sind. .... Nach Hollingshead (1953) ist Familieninstabilität in der
Unterschicht doppelt so hoch wie in der Mittelschicht. ....
Subkulturelle Männlichkeitsideale tabuieren einen expressiven Umgang des
Mannes mit der Frau wie mit den Kindern. Die Äußerung von
Gefühlen wird mit einem Mangel an "Männlichkeit"
verknüpft [Komarovsky 1962]
p307: Da die konstante emotionale Zufuhr von seiten des Mannes fehlt und die
Frauen ständig unsicher sind, ob sie die Zuneigung des Mannes wirklich
besitzen, suchen sie Ersatz bei den Kindern
p310: Das Faktum der Überfüllung enger Wohnungen, der
Unmöglichkeit des Rückzugs und der "Privatheit" und der
daraus folgenden höheren Reizbarkeit und Aggression erwies sich bei den
Gluecks (1950) als in hohem Maße kriminogen
Kapitel IX: Identifikation, Externalisierung, psychische Erkrankungen und
soziale Schicht
p318ff: Als Grundhypothese ergibt sich für McKinley:
"Die größere Straffreudigkeit und die häufigere Ablehnung
des Kindes durch Eltern der niederen städtischen Schichten ist eine Folge
der größeren Frustration der Eltern und ihrer stärkeren
Gefühle der Bedrohung. Die Aggression der Eltern wird vom frustrierenden
System (der Macht und Belohnungsstruktur der Industriegesellschaft) auf das
relativ machtlose Kind verschoben.
.... Menschen von höherem Status ... in der Lage, ihren Kindern mehr
positive Sanktionen emotionaler Natur zuteil werden zu lassen, wie auch
größere Belohnungen an sozialer Stellung und materiellem Komfort.
Sie erhalten mehr von der Gesellschaft und können, ohne dass ihr eigenes
seelisches Gleichgewicht darunter leidet, mehr geben ..."
Untersuchungen über die Bewertung des Vaters durch den Sohn und dessen
Anerkennung als Vorbild erbringen zwischen den Schichten .... ähnlich hohe
Divergenzen wie zwischen delinquenten und nichtdelinquenten Jungen gleicher
Schicht (Gluecks, McCord, Nye, Gold): von seiten des Sohnes "wird weniger
Achtung und Zuneigung empfunden für den Vater der Unterschicht, zum Teil
aufgrund der Haltung der Mutter, aber auch, weil der Vater dem Sohn keine
Vorteile verschaffen kann ..."
[David McKinley 1964]
p331f: ... Selbstunzufriedenheit - rebellische neigungen unterdrückt -
konflikt familienintern ausgestragen, entweder durch streit oder durch
symbolische konfliktdarstellung: wenn die familie in stark norm-konformer
nachbarschaft lebt, wird intern ein sündenbock gesucht.
Sozialcharakter der großeltern-generation in der unterschicht bestimmt
durch rigide
persönlichkeitsentwicklung in relativem einklang mit möglichen
berufsrollen. Dynamisierung der gesellschaft mit betonung von aufstiegschancen
lässt einengungen nicht mehr als (kulturell) vorgegeben erscheinen;
tatsächlich jedoch wirken sie weiter, nun aber in den
sozialisationspraktiken der eltern, welche ihre persönlichkeitsdefekte
in der familie weitergeben unter zunehmender unzufriedenheit.
"Was für die Vorfahren (selbstverständliche, T.M.)
soziokulturelle Zwänge waren, wurde für die Nachkommen zu Verboten.
Was in früheren Generationen soziale Unzufriedenheit gewesen sein mag,
verwandelt sich in die Formen innerpsychischen Konflikts, zwischenmenschlicher
Verunsicherung und Feindseligkeit, wie sie der Psychiatrie vertraut sind."
[Rubenfeld 1965]
p334: Der Misserfolg und die Deformationen der Kinder bestätigen die eigene
Anpassungsleistung und befreien von totaler Versagensangst. Sie behandeln
die Kinder "impulsiv und inkonsistent", mit Extremen von Lohn und
Strafe, "weil sie nicht daran interessiert sind, ihre Kinder in Richtung
auf späteren Erfolg zu entwickeln".
[Myers und Roberts 1959]
p338ff: Eltern mit "emotionalen störungen" = geisteskrankheit,
perversion, haltlosigkeit, egozentrismus unter
delinquenten: Väter 44% Mütter 40.2%
nichtdelinquenten: Väter 18% Mütter 17.6%
[Glueck]
"Von der höchsten zur niedrigsten Schicht geht der Anteil der
Gesunden (the well) schrittweise von 24.4 auf 9.7% zurück, während
der Anteil an Gestörten (impaired) von .... 17.5% auf ... 32.7%
steigt." [Srole u.a. 1962]
p343: organische gehirnschäden finden sich in der unterschicht fünf-
bis siebenmal häufiger als in mittel- und oberschicht
[Langner und Michael 1963]
p358: Als zentrale These dieser Ausführungen möchte ich noch einmal
hervorheben: Angesichts unserer psychoanalytischen Erkenntnisse über die
Ursachen von chronischer Kriminalität und der Absurdität des
gegenwärtigen Strafens wächst im Strafrecht das Moment der sozialen
Grausamkeit, ja der Inhumanität.
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