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Über die demokratische Gesellschaft
Schützt die Demokratie vor dem Despotismus
Über die Demokratie in Amerika - Alexis de Tocqueville




Die Lupe des Sokrates - Platons Politeia im Detail
Über die Demokratie in Amerika
Alexis de Tocqueville
Reclam jun. Stuttgart 1985, Original 1835 (Band 1) und 1840 (Band 2)
Ausgewählt und herausgegeben von J. P. Mayer

Aus dem ersten Band

Seit die geistige Arbeit zu einer Quelle des Reichtums und der Macht wurde, muss man jede Entwicklung der Wissenschaft, jede neue Erkenntnis, jede neue Vorstellung als einen Keim der dem Volk zubereiteten Macht betrachten .... Durchläuft man die Seiten unserer Geschichte, so findet man in den letzten siebenhundert Jahren keine bedeutenden Ereignisse, die nicht die Entwicklung der Gleichheit gefördert hätten (p18)

Die amerikanischen Gesetze teilen das Vermögen des Vaters nur dann zu gleichen Teilen, wenn sein Wille unbekannt ist. Das französische Recht schreibt dem Erblasser die gleiche oder fast gleiche Erbteilung vor (p40fn4)

Nicht, dass es in den Vereingten Staaten nicht so gut wie anderswo Reiche gibt; ja, ich kenne kein Land, in dem die Liebe zum Geld einen so großen Platz im Herzen der Menschen einnimmt, in dem man eine solche Verachtung für die Theorie von der dauernden Vermögensungleichheit bekundet. Aber das Vermögen läuft dort mit unglaublicher Geschwindigkeit um, und die Erfahrung lehrt, dass man kaum zwei Generationen findet, die sich des gleichen Vermögens erfreuen (p41) [vgl Platon, Politeia, Buch I, 4., 330b]

Ich glaube, es gibt kein Land der Erde in dem es - verglichen mit der Zahl der Bevölkerung - so wenig völlig Unwissende und zugleich so wenig Gelehrte gibt wie in Amerika. Der Elementarunterricht steht jedermann offen; höhere Bildung fast niemandem (p42)

Mit Recht hält man in den Vereinigten Staaten die Vaterlandsliebe für eine Art Kult, an dem die Menschen um so mehr hängen, je länger sie ihn ausüben. Auf diese Weise ist das Gemeinleben gewissermaßen ständig gegenwärtig; täglich wird es durch die Erfüllung einer Pflicht oder durch die Ausübung eines Rechtes spürbar. Dieses politische Leben versetzt die Gesellschaft in eine andauernde und zugleich friedsame Bewegung, die sie rege erhält, ohne sie zu beunruhigen (p60f)

Als die Europäer die politische Gerichtsbarkeit einsetzten, war es ihr Hauptziel, die Schuldigen zu bestrafen; das Hauptziel der Amerikaner ist, ihnen die Macht zu nehmen. Die politische Gerichtsbarkeit hat in Amerika eine vorbeugende Funktion. Daher muss man die Richter dort nicht an bestimmte strafrechtliche Tatbestände binden. Es gibt nichts Schrecklicheres als die Unbestimmtheit der amerik Gesetze, wenn sie die im eigentlichen Sinne politischen Verbrechen definieren. So heißt es in Abschnitt 4, Artikel 1 der Verfassung der Vereinigten Staaten: “Verbrechen d e Verurteilung d Präsidenten rechtfertigen, sind Hochverrat, Bestechung und andere schwere Verbrechen und Vergehen.” .... Besonders fürchterlich aber sind die hier einschlägigen amerikanischen Gesezte, wie ich zu behaupten wage, eben durch ihre Milde. [Europa: Amtsenthebung Folge der Strafe, USA: die Strafe selbst] (p95f)
[Impeachment]

Der Präsident kann fehlgehen, ohne dass der Staat leidet, denn der Präsident hat nur eine begrenzte Pflicht. Der Kongress kann irren, ohne dass die Union untergeht, denn über dem Kongress herrscht die Wählerschaft, die den Geist ändern kann, indem sie die Mitglieder wechselt. Wäre der Oberste Gerichtshof aber aus unvorsichtigen oder bestechlichen Männern zusammengesetzt, so hätte der Bundesstaat Anarchie oder Bürgerkrieg zu befürchten (p99)

Die Allmacht der Mehrheit ist nach meiner Ansicht eine so große Gefahr für die amerikanischen Republiken, dass das gefährliche Mittel, dessen man sich bedient, um sie in Schranken zu halten, mir noch als etwas Gutes vorkommt (p105)

[Gute Regierte, schlechte Regierende] Es ist offensichtlich, dass der Menschenschlag der amerikanischen Staatsmänner sich seit einem halben Jahrhundert bedeutend verschlechtert hat. Dafür gibt es eine Reihe von Gründen. Was man auch tun mag, es ist unmöglich, die Bildung des Volkes über ein gewisses Niveau hinaus zu heben .... [egal wie billig] .... man wird niemals erreichen, dass die Menschen sich unterrichten und ihren Verstand entwickeln können, ohne dafür Zeit zu opfern (p112)

Während die natürlichen Neigungen der Demokratie das Volk dazu bringen, die bedeutenden Männer von der Macht auszuschließen, veranlasst eine nicht minder starke Neigung diese Männer, sich der politischen Laufbahn fernzuhalten, in der es so schwer ist, man selbst zu bleiben und voranzukommen, ohne sich billig zu machen (p114)

Wir haben gesehen, dass die Bundesverfassung die dauernde Leitung der auswärtigen Interessen der Nation in die Hände des Präsidenten und des Senates gelegt hat, was die allgemeine Politik der Union dem direkten und täglichen Einfluss des Volkes bis zu einem gewissen Grade entzieht. Daher kann man nicht unbedingt sagen, dass in Amerika die Demokratie die Außenpolitik leitet. [s US-Verfassung Art 2, Abschn 2, § 2] (p133)

Ich kenne kein Land, in dem im allgemeinen weniger geistige Unabhängigkeit und wirkliche Diskussionsfreiheit herrscht als in Amerika. .... In Amerika zieht die Mehrheit einen drohenden Kreis um das Denken. Innerhalb dieser Grenzen ist der Schriftsteller frei; aber wehe, wenn er sie zu überschreiten wagt! (p151)

Ich habe in den Vereinigten Staaten vom Vaterland reden hören. Im Volk bin ich auch wirklicher Vaterlandsliebe begegnet; bei den Regierenden habe ich sie aber oft vergeblich gesucht (p156)

Oft aber fehlen in den Vereinigten Staaten der Mehrheit, die oft die Neigung und Triebe eines Despoten an den Tag legt, die vollkommensten Werkzeuge der Tyrannei (p160)

Die demokratische Regierung begünstigt die politische Macht der Juristen. Wenn der Reiche, der Adlige und der Fürst von der Regierung ausgeschlossen sind, dann gelangen die Juristen an die Regierung, und sozusagen mit vollem Recht; denn sie sind dann die einzigen gebildeten und geschickten Männer, die das Volk außerhalb seiner selbst wählen kann (p165)

Unsere geschriebenen Gesetze sind zwar oft schwer zu verstehen, aber jeder kann sie lesen; es gibt dagegen nichts, was für das Volk unverständlicher und schwerer zugänglich ist als das Recht, das auf Präzendenzfällen aufbaut. .... Der französische Jurist ist nur ein Gelehrter; der englische und amerikanische Jurist gleicht dagegen gewissermaßen den Priestern Ägyptens; wie diese ist er der einzige Deuter einer Geheimwissenschaft (p167f)

Wenn man mich fragte, wo ich die amer Aristokratie ansetze, würde ich ohne Zögern antworten, jedenfalls nicht bei den Reichen, die durch gar keine gemeinschaftlichen Bande zusammengeschlossen sind. Der amerikanische Aristokrat ist unter den Anwälten und in den Gerichten zu suchen (p168)

In England rekrutiert sich die Geschworenenbank aus dem aristokratischen Teil der Nation. Der Aristokrat erlässt die Gesetze, vollzieht sie und richtet die Gesetzesübertretungen. Alles stimmt zusammen: daher ist England genau genommen eine aristokratsiche Republik. In den Vereinigten Staaten ist das gleiche System auf das gesamte Volk übertragen. Jeder amerikanische Bürger ist wahlberechtigt, wählbar und Geschworener (p175)

[Prognose: USA werden Teile Mexikos an sich reissen] Das Land gehört in der Neuen Welt dem, der es als erster in Besitz nimmt, und die Herrschaft winkt dem Sieger im Wettlauf. Sogar die schon bevölkerten Länder werden Mühe haben, sich vor der Invasion zu schützen (p211)

Es gibt auf der Erde zwei große Völker, die - von verschiedenen Punkten ausgehend - zum selben Ziel vorzurücken scheinen: die Russen und die Angloamerikaner. Beide sind im Verborgenen groß geworden; und während die Aufmerksamkeit der Menschen anderswo gefesselt war, sind sie plötzlich in die vorderste Reihe der Nationen getreten, und die Welt hat fast zur gleichen Stunde wie ihre Geburt ihre Größe vernommen. Alle anderen Völker scheinen etwa die Grenzen erreicht zu haben, die ihnen von der Natur gezogen sind, und scheinen diese nur noch bewahren zu sollen. Russland aber und Amerika wachsen: alle anderen sind entweder zur Ruhe gekommen oder dringen doch nur unter großen Anstrengungen vor; sie allein schreiten leicht und rasch aus in einer Bahn, deren Ziel das Auge noch nicht zu erkennen vermag. Der Amerikaner kämpft gegen die Hindernisse, die die Natur ihm bietet; der Russe liegt im Kampf mit den Menschen. Jener ringt mit Wüste und Barbarei, dieser mit der vollbewaffneten Zivilisation: Daher erobert der Amerikaner mit dem Pflug, der Russe mit dem Schwert des Soldaten. Sein Ziel zu erreichen, baut der Amerikaner auf das private Interesse und lässt die Kraft und die Vernunft des Einzelnen wirken, ohne sie zu dirigieren. Der Russe drängt gewissermaßen die ganze Macht der Gesellschaft in einem Menschen zusammen. Freiheit ist dem einen der Antrieb, Knechtschaft dem anderen. Ihr Ausgangspunkt ist verschieden, verschieden ist ihr Weg; und doch, nach einem geheimen Plan der Vorsehung scheint jeder von ihnen berufen, dereinst die Geschicke der halben Erde zu lenken (p215f) [von China war damals noch nichts zu sehen]


Aus dem zweiten Band

Je gleicher und ähnlicher die Bürger einander werden, desto geringer wird die Neigung eines jeden, blind einem bestimmten Menschen oder einer bestimmten Klasse zu glauben. Die Neigung, der Masse zu glauben, wächst, und am Ende ist es die öffentliche Meinung, die die Menschen führt (p222)

Wir werden sehen, dass es unter allen Leidenschaften, die die Gleichheit weckt oder begünstigt, eine gibt, die durch sie besonders angeregt und gleichzeitig in den Herzen aller Menschen verwurzelt wird: es ist die Liebe zum Wohlstand. Der Sinn fü Wohlstand ist gleichsam das hervorstechende und unaustilgbare Merkmal der demokratischen Zeitalter (p233)

Ich kenne kein Land, in dem das Christentum sich mit weniger Formen, Andachtsübungen und Bildern umgäbe und sich der menschlichen Geist in klareren, einfacheren und allgemeineren Vorstellungen darböte als in den Vereinigten Staaten. Obwohl die Christen Amerikas in eine Menge von Sekten zersplittert sind, sehen sie alle ihre Religion in diesem gleichen Licht (p234)

Indem die Religion in solcher Weise alle demokratischen Instinkte achtet, sofern sie ihr nicht entgegenstehen, und indem sie mehrere davon für sich benützt, gelingt es ihr mit Erfolg, den Geist der persönlichen Unabhängigkeit zu bekämpfen, der für sie von allen der gefährlichste ist (p235)

Die Demokratie hält die Menschen davon ab, sich ihren Mitmenschen zu nähern; die demokratischen Revolutionen jedoch treiben sie an, sich zu meiden, und im Schoß der Gleichheit verewigt sich der Hass, den die Ungleichheit erzeugt hat. Der große Vorteil der Amerikaner besteht darin, dass sie die Demokratie erlangten, ohne demokratische Revolutionen durchmachen zu müssen, und dass sie als Gleiche geboren sind, statt es erst zu werden. Der Despotismus, von Natur aus fuchtsam, sieht in der Isolierung der Menschen das sicherste Unterpfand für seine eigene Dauer und bemüht sich daher meistens, sie voneinander abzusondern. Kein Laster des Herzens passt ihm besser als der Egoismus; ein Despot verzeiht seinen Untertanen leicht, dass sie ihn nicht lieben, wenn sie einander nur nicht gegenseitig lieben. .... Die Gleichheit stellt die Menschen schroff nebeneinander, ohne ein gemeinsames Band, das sie verknüpft. Der Despotismus stellt Schranken zwischen ihnen auf und trennt sie. Er macht sie geneigt, nicht an ihresgleichen zu denken, und macht aus ihrer Gleichgültigkeit eine Art von Staatstugend. Der Despotismus, der immer gefährlich ist, ist also besonders in demokratischen Zeiten zu fürchten (p242f)

Die Menschen brauchen in der aristokratischen Gesellschaften keine Vereinigung zu bilden, um zu handeln, weil ihr Zusammenhalt stark ist. Jeder Bürger. der reich und mächtig ist, stellt darin gleichsam das Haupt eines beständigen und zwangsmäßigen Vereins dar, der aus all denen besteht, die von ihm abhängig sind und die er an der Ausführung seiner Absichten teilnehmen lässt (p249)

Vor langer Zeit schon sagte Montaigne: “ .... [frz] .... ” (Ginge ich den rechten Weg nicht schon darum, weil er der rechte ist, so ginge ich ihn, weil ich aus Erfahrung weiß, dass er letzten Endes in der Regel der glücklichste und nützlichste Weg ist.) Die Lehre vom wohlverstanden Interesse ist also nicht neu, wird aber von den heutigen Amerikanern allgemein angenommen; sie wird dort volkstümlich; sie liegt allen Handlungen zugrunde; sie bricht durch jede Rede hindurch. Man findet sie nicht nur in den Worten des Armen, sondern auch in denen des Reichen. .... Die Amerikaner hingegen deuten mit der Lehre vom wohlverstanden Interesse fast alle Taten ihres Lebens; wohlgefällig zeigen sie, wie die aufgeklärte Eigenliebe sie ständig zu gegenseitigen Hilfeleistungen anspornt, wie sie ihretwegen dem Staat gern einen Teil ihrer Zeit und ihres Reichtums opfern. .... Im ganzen glaube ich nicht, dass wir egoistischer sind als die Amerikaner; der einzige Unterschied besteht darin, dass der Egoismus dort aufgeklärt ist, bei uns dagegen nicht. Jeder Amerikaner hat es gelernt, einen Teil seiner Sonderinteressen aufzuopfern, um das übrige zu retten. Wir wollen alles behalten, und so verlieren wir oft alles (p255f)

Wenn die Mitbürger alle unabhängig und gleichgültig sind, so kann man die Mithilfe eines jeden nur mit Geld erlangen; das vervielfacht unabsehbar die Verwendung des Reichtums und steigert dessen Preis. Da die früheren Dinge nicht mehr in Ansehen stehen, unterscheiden Geburt, Stand, Beruf die Menschen nicht oder kaum mehr voneinander; es bleibt nur das Geld, das sehr sichtbare Unterschiede zwischen ihnen schafft und einige über jeglichen Vergleich hinaushebt. Die Auszeichnung, die der Reichtum erzeugt, wächst mit dem Schwund und der Verminderung aller anderen Auszeichnungen. Bei den aristokratischen Völkern erreicht das Geld an nur wenigen Stellen den weiten Umkreis der Begehren; in den Demokratien leitet es anscheinend zu sämtlichen hin. Die Liebe zum Reichtum ist also gewöhnlich der Haupt- oder Nebenantrieb im Handeln der Amerikaner; das verleiht all ihren Leidenschaften einen verwandten Zug, und deren Bild ermüdet sehr bald. Diese unaufhörliche Wiederkehr der gleichen Leidenschaft ist eintönig; die besonderen Verfahren, die diese Leidenschaft zu ihrer Befriedigung anwendet, sind es ebenfalls (p264)

Im Mittelalter findet man hingegen nur geringe Spuren einer Leidenschaft, die das Leben der antiken Staaten ausmachte. Ich meine den Patriotismus. In unserer Sprache ist sogar das Wort nicht alt. [Fn2: Das Wort Vaterland (patrie) findet sich bei französischen Autoren erst seit dem Ausgang des 16. Jahrhunderts] Die feudalen Institutionen verschleierten das Vaterland den Blicken; durch sie wurde die Vaterlandsliebe weniger notwendig. Sie brachten die Nation in Vergessenheit, indem sie die Leidenschaft für einen einzelnen Menschen entzündeten. Daher findet man kein von der feudalen Ehre geschaffenes Gesetz, das fordert, man solle seinem Lande treu bleiben (p270f)

Die Amerikaner, die aus der kaufmännischen Verwegenheit eine Art Tugend machen, können die Kühnheit auf keinen Fall verdammen. Daher zeigt man in Amerika eine eigentümliche Nachsicht mit dem Bankrotteur; seine Ehre wird durch solch ein Unglück nicht berührt. ... In Amerika behandelt man alle Laster, die die Reinheit der Sitten und des Ehelebens zerstören könnten, mit einer in der übrigen Welt unbekannten Strenge (p274)

In einer demokratischen Gesellschaft wie den Vereinigten Staaten, in der die Vermögen klein und wenig sicher sind, arbeitet jedermann, führt die Arbeit zu allem. Dies wandelte den Ehrbegriff und richtete ihn gegen den Müßiggang (p275)

Die Gleichheit löst nämlich zwei Tendenzen aus: die eine führt die Menschen geradenwegs zur Freiheit und kann sie auch plötzlich in die Anarchie treiben; die andere leitet sie auf längerem, verschwiegenerem, aber sichererem Weg in die Knechtschaft. Der ersten Möichkeit werden sich die Völker leicht bewusst und wirken ihr entgegen; auf dem zweiten Wege aber lassen sie sich mitreissen, ohne ihn zu erkennen; ihn aufzuzeigen ist daher besonders wichtig (p307) [Populismus Autoritarismus; vgl Platon, Politeia, Buch VIII, 13. ff, 559d ff]

Der Mensch der demokratischen Zeiten gehorcht seinem Nachbarn, der ihm gleichgestellt ist, nur mit äußerstem Widerwillen; er weigert sich, bei ihm eine überlegene Bildung anzuerkennen; er misstraut dem Rechtsgefühl seines Nachbarn und betrachtet seine Macht argwöhnisch; er fürchtet und verachtet ihn; gern lässt er ihn jeden Augenblick die gemeinsame Abhängigkeit vom gleichen Herrn spüren. Jede Zentralgewalt, die auf diesen natürlichen Neigungen aufbaut, liebt und fördert die Gleichheit; denn die Gleichheit erleichtert einer solchen Zentralgewalt die Arbeit außerordentlich, sie erweitert und befestigt sie (p315)

Ich bin überzeugt, dass in den demokratischen Jahrhunderten, die uns bevorstehen, die individuelle Unabhängigkeit und die lokalen Freiheiten immer das Ergebnis künstlicher Bestrebungen sein werden. Die natürliche Regierung wird die Zentralisation sein (p316)

Die erste, ja gewissermaßen die Grundbedingung für die Zentralisation der öffentlichen Gewalt in einem demokratischen Staate ist: die Gleichheit zu lieben - oder sich diesen Anschein zu geben. So vereinfacht sich die bislang so verwickelte Lehre vom Despotismus: sie reduziert sich sozusagen auf ein einziges Prinzip (p324)

Durch Anleihen verschafft sich so der Staat das Geld der Reichen, und durch die Sparkassen verfügt er nach Belieben noch über den letzten Pfennig der Armen. Bei ihm und in seinen Händen häuft sich der gesamte Reichtum des Landes; und zwar um so mehr, je größer die Gleichheit der gesellschaftlichen Bedingungen wird; denn bei einem demokratischen Volk flößt allein der Staat dem Einzelnen Vertrauen ein, weil nur der Staat ihm einige Macht und Dauer zu besitzen erscheint. So beschränkt sich der Souverän nicht darauf, das öffentliche Vermögen zu verwalten; er greift vielmehr auch auf die privaten Vermögen über; er ist der Vorgesetzte, ja oft der Herr jedes Bürgers, und macht sich darüber hinaus zu dessen Verwalter und Kassenführer (p329)

Mit der zunehmenden Industrialisierung einer Nation wächst auch der Bedarf an Straßen, Kanälen, Häfen und anderen halböffentlichen Anlagen, die den Erwerb von Reichtum erleichtern, und je demokratischer eine Nation ist, um so schwieriger wird es für den Einzelnen, derartige Anlagen zu errichten, und um so leichter wird es für den Staat. Ich scheue mich nicht, zu behaupten, dass alle Herrscher unserer Zeit offensichtlich dahin neigen, die Durchführung solcher Aufgaben allein zu übernehmen; dadurch bringen sie die Bevölkerung mit jedem Tag in engere Abhängigkeit. Auf der anderen Seite verbraucht der Staat, je mehr seine Macht wächst und seine Bedürfnisse sich vermehren, selbst eine immer größere Menge der industriellen Produkte, die er gewöhnlich in seinen Speichern und Fabriken erzeugt. Daher wird der Souverän in jedem Reich der größte Industrielle; er beschäftigt eine erstaunliche Anzahl Ingenieure, Architekten, Mechaniker und Handwerker. Er ist aber nicht nur der größte Industrielle, er versucht auch mehr und mehr, sich zum Vorgesetzten, ja Herren aller anderen zu machen (p334)

Während meines Aufenthaltes in den Vereinigten Staaten hatte ich bemerkt, dass eine demokratische Gesellschaftsordung wie die der Amerikaner für die Errichtung des Despotismus einzigartige Möglichkeiten bieten könnte [und kann, siehe Trump und die Republikaner sowie Platon, Politeia, Buch VIII, 13. ff, 559d ff]; und bei meiner Rückkehr mach Europa hatte ich gesehen, wie sehr die meisten unserer Fürsten sich die Vorstellungen, Gefühle und Bedürfnisse, die diese Gesellschaftsordnung entstehen ließ, bereits bedient hatten, um ihren Machtbereich zu erweitern (p340)

Ich hege keinen Zweifel, dass es den Herrschern in Zeiten der Aufklärung und der Gleichheit - wie den unsrigen - viel leichter fallen wird, die gesamte öffentliche Gewalt in ihrer Hand zu vereinigen und beständiger und tiefer in den Kreis der privaten Interessen einzudringen, als irgendein Herrscher der Antike dies jemals vermochte (p341)

Wenn ich die kleinen Leidenschaften der heutigen Menschen bedenke, die Schlaffheit ihrer Sitten, die Weite ihrer Bildung, die Reinheit ihrer Religion, die Milde ihrer Moral, ihre arbeitsamen und geordneten Gewohnheiten, die Zurückhaltung, die sie fast sämtlich im Laster wie in der Tugend beobachten, dann fürchte ich, sie könnten zum Staatsoberhaupt eher einen Vormund haben als einen Tyrannen (p342)

Es ist wirklich schwer einzusehen, wie Menschen, die der Gewohnheit, sich selbst zu regieren, vollständig entsagt haben, imstande sein könnten, diejenigen gut auszuwählen, die sie regieren sollen; und man wird niemanden glauben machen, eine freiheitliche, tatkräftige und weise Regierung könne jemals aus den Stimmen eines Volkes von Knechten hervorgehen (p347)

Der Despotismus erscheint mir daher in den demokratischen Zeiten als eine besondere Gefahr. Ich glaube, ich würde die Freiheit in allen Zeiten geliebt haben; in der Zeit aber, in der wir leben, fühle ich mich geneigt, sie anzubeten (p348)

So geht es nicht darum, eine aristokratische Gesellschaft wiederherzustellen, sondern die Freiheit aus dem Schoße der demokratischen Gesellschaft, in der Gott uns leben lässt, hervorgehen zu lassen (p349)

Ich glaube, die Menschen, die in der Aristokratie leben, können die Pressefreiheit allenfalls entbehren; die aber in demokratischen Ländern leben, auf keinen Fall. Um die persönliche Unabhängigkeit dieser Menschen zu gewährleisten, verlasse ich mich weder auf die großen politischen Versammlungen, noch auf die parlamentarischen Vorrechte, noch auf die Verkündigung der Volkssouveränität. All das verträgt sich bis zu einem gewissen Punkt mit der individuellen Knechtschaft; diese Knechtschaft kann aber nicht vollständig sein, wenn die Presse frei ist. Die Presse ist recht eigentlich das demokratische Werkzeug der Freiheit. Entsprechendes gilt von der richterlichen Gewalt (p352)

Ich beobachte bei unseren Zeitgenossen zwei entgegengesetzte, aber in gleicher Weise gefährliche Vorstellungen. Die einen sehen in der Gleichheit nur die anarchischen Neigungen, die sie auslöst. Sie fürchten ihren eigenen Willen; sie haben Angst vor sich selbst. Die anderen, weniger zahlreich, aber gebildeter, haben eine andere Ansicht. Neben der Straße, die - ausgehend von der Gleichheit - zur Anarchie führt, haben sie schließlich den Weg entdeckt, der die Menschen unabweislich in die Knechtschaft zu führen scheint. Sie beugen ihre Seele dieser unumgänglichen Knechtschaft schon im voraus und beten, da sie die Hoffnung verloren haben, frei zu bleiben, im Grunde ihres Herzens bereits den Herrn an, der bald kommen muss. Die ersten geben die Freiheit auf, weil sie sie für gefährlich, die zweiten, weil sie sie für unmöglich halten. Wäre ich dieser letzteren Überzeugung, so würde ich das vorliegende Buch nicht geschrieben haben; ich hätte mich darauf beschränkt, insgeheim über das Schicksal der Menschheit zu seufzen. Ich wollte die Gefahren, mit denen die Gleichheit die menschlich Unabhängigkeit bedroht, deutlich herausstellen, weil ich der festen Überzeugung bin, dass diese Gefahren die schrecklichsten und zugleich unvorhergesehensten von allen sind, welche die Zukunft birgt. Aber ich halte sie nicht für unüberwindlich (p358)

Allein, in diesem so ungeheuren, so neuartigen und verworrenen Bilde nehme ich bereits einige Grundzüge wahr, die sich abzeichnen, und ich deute sie an: Ich sehe, dass Gut und Böse sich in der Welt einigermaßen gleichmäßig verteilen. .... Die Charaktere sind nicht kraftvoll; die Sitten dafür mild und die Gesetze menschlich. .... Genie wird selten, dafür die Bildung allgemeiner. .... Es gibt weniger Vollkommenheit, aber größere Produktion. Die Bande der Rasse, Klasse und Nation werden lockerer; das große Band der Menschheit strafft sich (p361) [Globalisierung]

Die Nationen unserer Tage vermögen an der Gleichheit der gesellschaftlichen Bedingungen nichts mehr zu ändern; von ihnen aber hängt es nun ab, ob die Gleichheit sie zur Knechtschaft oder zur Freiheit führt, zu Bildung oder Barbarei, zu Wohlstand oder Elend (p364)

-------- ENDE --------




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