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Macht und Ohnmacht des Wortes - Häuptlinge und Propheten
Studien zur politischen Anthropologie
Die Machtlosigkeit des Indianerhäuptlings
Geiz und Macht sind nicht vereinbar
Politik muss nicht notwendig korrumpieren
Kultur als Gegenentwurf zur stets animalisch bleibenden Macht
Das Profiliergehabe des amerikanischen Kriegshäuptlings
Der Beginn der Zeit in der primitiven Gesellschaft


Pierre Clastres, Staatsfeinde


Kopernikus und die Wilden

Es geht hier also um die politische macht, und J.W. Lapierre .... [findet] .... am ende einer geduldigen und gründlichen erörterung der neuesten arbeiten über die biologie der tiere, eine diskussion, die im übrigen keineswegs nur akademisch ist, obwohl ihr ergebnis vorauszusehen war ... die klare antwort:``Die kritische untersuchung der erkenntnisse über das soziale verhalten der tiere und insbesondere über den prozess der sozialen selbstregulierung hat uns gezeigt, dass bei ihnen jede, selbst eine embryonale form politischer macht fehlt ....''

Es ist leicht vorstellbar, dass jene paar dutzend ``archaische'' gesellschaften nur die bestimmung eben ihres archaismus gemeinsam haben, eine negative bestimmung, wie Lapierre sagt, die von der abwesenheit der schrift und der sogenannten subsistenzwirtschaft ausgeht.

So dass in diesem punkt zwischen Nietzsche, Max Weber (die staatsmacht als monopol der legitimen gewaltanwendung) und der zeitgenössischen ethnologie eine größere verwandtschaft besteht, als es scheint: die wahrheit und das wesen der macht bestehen in der gewalt, und die macht lässt sich nicht denken ohne ihr prädikat, die gewalt ....
Wir stehen also einer großen gesamtheit von gesellschaften gegenüber, in denen die inhaber dessen, was man anderso macht nennen würde, in wahrheit machtlos sind, in denen die politik sich als feld definiert, das außerhalb jeden zwangs und jeder gewalt, außerhalb jeder hierarchischen unterordnung liegt, kurz gesagt, in denen sich keine befehl-gehorsam-beziehung zeigt .... wenn etwas einem indianer absolut fremd ist, dann der gedanke, einen befehl zu erteilen oder gehorchen zu müssen, außer unter ganz besonderen umständen wie z.B. während einer kriegsexpedition.

Eine gesellschaft mit subsistenzwirtschaft ist also eine solche, die ihre mitglieder nur mit knapper not zu ernähren vermag und sich damit dem geringsten naturereignis preisgegeben sieht (trockenheit, überschwemmung usw.) .... Nichts ist langlebiger als diese anschauung der primitiven gesellschaft, und nichts ist falscher

Der evolutionismus, ein alter gevatter des ethnozentrismus, ist nicht fern .... Noch vor einem halben jahrhundert war das vollkommene modell, dem, durch die geschichte hindurch, alle kulturen nacheiferten, der seelisch gesunde und gebildete westliche erwachsene (vielleicht doktor der naturwissenschaften). Zweifellos denkt man das immer noch, nur spricht man es nicht mehr aus.

Nichts hindert jedoch zu vermuten, dass sich die ethnologie nur die probleme stellt, die sie lösen kann.

Einfacher gesagt: so wie unsere kultur schliesslich erkannt hat, dass der primitive mensch kein kind ist, sondern individuell ein erwachsener, so wird sie einen kleinen fortschritt machen, wenn sie ihm eine entsprechende kollektive reife zuerkennt.

Hier haben wir vielleicht den stein des anstoßes der klassischen reflexion über die macht: es ist unmöglich, das apolitische ohne das politische zu denken, die unmittelbare soziale kontrolle ohne die vermittlung, kurz, die gesellschaft ohne die macht

1. Man kann die gesellschaften nicht in zwei gruppen einteilen: gesellschaften mit macht und gesellschaften ohne macht. Wir meinen im gegenteil (ganz in übereinstimmung mit den fakten der ethnographie), dass die politische macht universell ist, dem sozialen immanent (ob das soziale nun durch `blutsbande' oder soziale klassen determiniert wird), aber dass sie sich in zwei hauptformen verwirklicht: als zwangausübende macht und als nicht zwangausübende macht.
2. Die politische macht als zwang (oder als befehl-gehorsam-beziehung) ist nicht das modell der wahren macht, sondern nur ein sonderfall , eine konkrete form der politischen macht in bestimmten kulturen, z.B. der abendländischen (aber natürlich nicht die einzige). Es gibt also keinen wissenschaftlichen grund, gerade diese modalität der macht zu bevorzugen, um sie zum bezugspunkt und erklärungsprinzip aller anderen modalitäten zu machen.
3. Selbst in den gesellschaften, in denen die politische institution fehlt (in denen es z.B. keine häuptlinge gibt), selbst dort ist das politische vorhanden, selbst dort stellt sich die frage der macht: nicht in dem trügerischen sinne, der dazu verleiten könnte, einer unmöglichen abwesenheit rechnung tragen zu wollen, sondern im gegenteil in dem sinn, in dem, vielleicht auf geheimnisvolle weise, etwas in der abwesenheit
existiert. Wenngleich die politische macht keine der menschlichen natur, d.h. dem menschen als naturwesen immanente notwendigkeit ist (und hier irrt Nietzsche), so ist sie doch eine dem sozialen leben immanente notwendigkeit. Politik ohne gewalt ist denkbar, nicht aber eine gesellschaft ohne politik: mit anderen worten, es gibt keine gesellschaft ohne macht.

Mit anderen worten: die soziale neuerung ist möglicherweise die grundlage der zwangausübenden politischen macht, aber nicht die grundlage der nicht zwangausübenden macht, es sei denn, man beschließt (was unmöglich ist), dass die macht nur als zwangausübend vorkommt
.... die politische macht als zwang oder als gewalt das zeichen der historischen gesellschaft ist, d.h. der gesellschaften, welche die ursache der neuerung, der veränderung, der geschichtlichkeit in sich tragen.

.... aufgabe einer allgemeinen und nicht mehr nur regionalen politischen anthropologie ....:
1. Was ist politische macht? Das heisst: was ist gesellschaft?
2. Wie und warum gelangt man von der nicht zwangausübenden politischen macht zur zwangausübenden politischen macht? Das heisst: was ist geschichte? ....
Welches war der erste motor der historischen bewegung?
Es geht um eine kopernikanische revolution

Tausch und Macht: Theorie des indianischen Häuptlingstums

.... die politische institution .... Alles sieht also so aus, als ob die primitiven gesellschaften vor einer alternative stünden: entweder das fehlen dieser institution und ein anarchischer horizont, oder das übermaß dieser institution und ein despotisches schicksal ....
Die ersten Brasilien-reisenden sowie die ihnen folgenden ethnographen haben es immer wieder betont: die bemerkenswerteste eigenschaft des indianerhäptlings besteht in seinem fast vollständigen mangel an autorität; die politische funktion scheint bei diesen populationen nur sehr schwach differenziert zu sein ....
Eigene Anmerkung: siehe e.g. Claude Levi-Strauss
.... einige von ihnen, wie die Ona und die Yahgan aus Feuerland, besitzen noch nicht einmal die institution des häuptlings; und von den Jivaro heisst es, dass ihre sprache keinen terminus zur bezeichnung des häuptlings besaß

Wodurch definiert sich der häuptling, wenn ihm die autorität fehlt? ....
In einem text von 1948 analysiert R. Lowie die merkmale des .... häuptlingstypus, den er titular chief nennt ....
1. Der häuptling ist ein `friedensstifter'; er ist die mäßigende instanz der gruppe, wie es die häufige teilung der macht in zivile und militärische macht bezeugt.
2. Er muss großzügig mit seinen gütern umgehen und darf sich nicht erlauben, die unaufhörlichen ansprüche seiner `untergebenen' zurückzuweisen.
3. Nur ein guter redner kann häuptling werden.
.... Als erstes fällt nämlich auf, dass die merkmale des häuptlings in kriegs- und friedenszeiten erheblich voneinander abweichen und dass die führung der gruppe häufig von zwei verschiedenen individuen übernommen wird .... es gibt eine zivile macht und eine militärische macht ....
Er ist weniger ein richter, der bestraft, denn ein schiedsrichter, der zu versöhnen sucht. Es überrascht also nicht, wenn man feststellt, dass die rechtlichen funktionen des häuptlings so selten vorkommen. Misslingt es dem häuptling, die feindlichen parteien zu versöhnen, so kann er nicht verhindern, dass der streit in kampf ausartet. Und dies verrät deutlich die trennung von macht und zwang ....
.... in einigen indianerstämmen lässt sich der häuptling immer daran erkennen, dass er weniger besitzt als die anderen und den ärmlichsten schmuck trägt. Alles andere hat er weggegeben .... Geiz und macht sind nicht vereinbar; um häuptling zu sein, muss man großzügig sein ....
In vielen stämmen muss der häuptling jeden tag, entweder bei morgengrauen oder bei sonnenuntergang, die leute seiner gruppe mit einer erbaulichen rede belohnen: die Pilaga-, Sherente-, Tupinamba-häuptlinge ermahnen tagtäglich ihr volk, nach der tradition zu leben ....
Die ethnographische literatur bezeugt also deutlich das vorhandensein dieser drei wesenszüge des häuptlingstums. Das südamerikanische areal (mit ausnahme der Andenkulturen, von denen hier nicht die rede ist) weist jedoch noch ein zusätzliches merkmal auf: fast alle diese gesellschaften, unabhängig von dem typus ihrer soziopolitischen einheit und ihrer demographischen größe, erkennen die polygamie an; aber fast alle erkennen sie auch als ausschließliches privileg des häuptlings an ....
Indem die gruppe den erfolgreichsten ihrer nahrungslieferanten die polygynie erlaubt und damit gewissermaßen eine hypothek auf die zukunft aufnimmt, erkennt sie ihnen implizit die qualität künftiger anführer zu. Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass diese polygynie keineswegs egalitär ist, sondern stets den tatsächlichen häuptling der gruppe begünstigt ....
Der südamerikanische häuptling zeichnet sich also durch vier charakteristische züge aus. Er ist ein `berufsmäßiger schlichter'; außerdem muss er großzügig und ein guter redner sein; schließlich ist die polygynie sein privileg

.... die macht des äuptlings hängt vom guten willen der gruppe ab. Man versteht nun das unmittelbare interesse des häuptlings an der aufrechterhaltung des friedens: der einbruch einer die innere harmonie zerstörenden krise verlangt nach der intervention der macht, weckt aber gleichzeitig jenen willen zum protest, den zu überwinden der häuptling keine mittel hat

In der tat ist bemerkenswert, dass jene dreieinigkeit der eigenschaften: rednergabe, großzügigkeit, polygynie, die sich mit der person des anführers verknüpfen, eben die elemente betrifft, deren austausch und zirkulation die gesellschaft als solche bilden und den übergang von der natur zur kultur sanktionieren. In erster linie definiert sich die gesellschaft durch die drei fundamentalen ebenen des austauschs der güter, der frauen und der wörter; und auch der politische bereich der indianischen gesellschaft konstituiert sich in unmittelbarem bezug auf diese drei typen von `zeichen'

Es liegt auf der hand, dass für die gruppe, die sich zugunsten des anführers einer großen menge ihrer wesentlichsten werte entäussert hat - der frauen -, die täglichen ansprachen sowie die mageren wirtschaftlichen güter, über die der häuptling verfügt, keine gleichwertige entschädigung darstellen. Um so weniger, als der häuptling trotz seines mangels an autorität einen beneidenswerten sozialen status genießt. Die ungleichheit des `tauschs' ist frappierend ....
Denn in den meisten südamerikanischen gesellschaften wird das häuptlingstum patrilinear vererbt .... Das drama der macht spielt sich nicht auf der diachronischen ebene der aufeinander folgenden generationen ab, sondern auf der synchronischen ebene der gruppenstruktur .... Doch das amt ist erblich: es geht hier also nicht um tausch, sondern schlicht um ein geschenk der gruppe an ihren anführer, ein geschenk ohne gegenleistung, scheinbar dazu bestimmt, den sozialen status des inhabers eines amtes zu sanktionieren, das nicht ausgeübt wird

.... in den gesellschaften, welche ihre sprache vor dem verfall bewahren konnten, mit dem die unseren sie bedrohen, ist das wort mehr als ein privileg des häuptlings, es ist seine pflicht: ihm kommt die herrschaft über das wort zu, so dass man über einen nordamerikanischen stamm schreiben konnte: ``Man kann sagen, nicht dass der häuptling ein mann ist, der spricht, sondern dass derjenige, der spricht, ein häuptling ist'', eine formel, die für den gesamten südamerikanischen kontinent gilt .... jeder außer dem häuptling ``würde sich schämen'', wie er zu sprechen.

[ Der Spiegel, Heft no 40 / 2. Oktober 2006 `Rettet dem Deutsch - Die Verlotterung der Sprache', Titel `Deutsch for Sale' p 182ff
....
Verschiedene Sprachen sind verschiedene `Weltansichten', wie Wilhelm von Humboldt formuliert. Die eine Weltsprache würde die Weltansicht uniformieren - eine Horrorvorstellung.
Trabant: `Wer nur eine Sprache beherrscht, versteht oft gar nicht, was Verschiedenheit des Denkens bedeutet.'
`Wer das unverschämte Glück hat, dass seine Muttersprache zufällig wissenschaftliche Universalsprache ist, der besitzt gegenüber allen, die sie als Zweitsprache erst lernen müssen, den Vorteil einer uneinholbaren intellektuellen Überlegenheit, gepaart freilich mit jener seltsamen Borniertheit, die aus dem mangelnden Verständnis sprachlicher Differenz folgt. Vielleicht muss man sich damit abfinden. Aber muss man es, wie viele Deutsche dies tun, in einer Art vorauseilendem Trendgehorsam beschleunigen?
Trabant hat nicht zuletzt bei mehreren Gastprofessuren in den USA die Erfahrung gemacht, dass seine englischsprachigen Vorträge, mochten sie auch gründlich erarbeitet worden sein, stets von BSE (`bad simple english') bedroht waren. Das gelte auch für seine englischsprachigen Aufsätze: `Ich bin dann einfach nicht so gut. Mir fehlt mein Instrumentarium.' Da auch einer, der Englisch gut beherrscht, viele Verästelungen, versteckte Zitate und Feinheiten dieser Sprache nicht kennt, bleibt er, wenn er sich auf Englisch äußern muss, lieber auf dem sicheren Boden relativ einfacher Wendungen, wodurch sich automatisch auch seine Gedankengänge simplifizieren [Hervorhebung durch men-kau-ra]. Angesichts komplexer Sachverhalte wirkt der Sprecher dann leicht allzu schlicht, wenn nicht gar blamabel inkompetent. Könnte es sein, dass angelsächsische Muttersprachler diesen Nachteil auswärtiger Mitbewerber zu schätzen wissen und beherzt ausnutzen?
....
Im Jahr 1682/83 schrieb der Philosoph Gottfried Wilhelm Leibniz seine `Ermahnung an die Teutsche, ihren Verstand und Sprache beßer zu üben'. Leibniz, der im Hannoverschen auf Französisch und Lateinisch philosophierte, vermisste am Deutschen den geistigen `Scharffsinn', die `zarte Empfindlichkeit' und gesellig-geschmackvolle `Artigkeit' der Lateinkundigen. Leibniz meinte, vor allem die Übung `unserer Sprache in den Wißenschafften' sei nötig. Er träumte von einer Verbesserung der Sprache zur Verbesserung des eigenständigen `scharffsichtigen' Vernunftgebrauchs. Er wollte `dem Verstand eine durchleuchtende clarheit' geben.
Das ist entscheidend: Die Pflege und Durchsetzung der deutschen Sprache dient schon hier der Selbständigkeit und Differenzierung des Denkens, nicht irgendeinem dumpfen Wir-Gefühl, das gegen Fremde Vorurteile nährt [Hervorhebung durch men-kau-ra].
....
Karl Kraus konstatierte zu Recht: `Sprechen und Denken sind eins.' Wer schief spricht, kann nicht geradeaus denken. Der Philosoph Martin Heidegger (1889 bis 1976) schrieb, ergänzend zu seiner berühmten Definition der Sprache als `Haus des Seins', 1959: `Der Mensch wäre nicht Mensch, wenn ihm versagt bliebe, unablässig, überallher, auf jegliches zu, in mannigfaltigen Abwandlungen und zumeist unausgesprochen in einem `es ist' zu sprechen. Insofern die Sprache solches gewährt, beruht das Menschenwesen in der Sprache' (aus: `Der Weg zur Sprache').
Daraus folgt: Wer die Sprache nicht ernst nimmt, geht mit dem eigenen Sein leichtsinnig um. Da nun aber jede Sprache das, was ist oder sein soll, anders zeigt, hat sie ein besonderes Existenzrecht. Diese Vielfalt aufzugeben ist ein Vergehen gegen das `Menschenwesen' (cf. auch
hier und hier).
.... Die Nazi-Propaganda war auch ein einziges Sprachdelikt, das uns Deutsche zusätzlich verpflichtet, auf jedes Wort, jeden Satz zu achten.
....
Mitsprache setzt Sprache voraus. Konflikte werden am besten beigelegt, indem die Konfliktparteien beginnen, miteinander zu sprechen .... In der Gewalt explodiert oft Energie, die keine Chance hatte, zur Sprache zu finden, und auf die dann wenige Hetzparolen wirken wie brennende Streichhölzer auf trockenes Stroh.
.... ]

In dem maß, in dem man - unter ausschaltung der vorstellung eines austauschs der frauen der gruppe gegen die güter und botschaften des häuptlings - folglich die bewegung jedes `zeichens' gemäß seinem eigenen kreislauf untersucht, entdeckt man, dass diese dreifache bewegung eine gemeinsame negative dimension hat, die diesen drei typen von `zeichen' das gleiche schicksal bereitet: sie erscheinen nicht mehr als tauschwerte; nicht mehr die gegenseitigkeit regelt ihre zirkulation, und jedes von ihnen fällt somit aus dem universum der kommunikation heraus. Hier enthüllt sich also eine ursprüngliche beziehung zwischen dem bereich der macht und dem wesen der gruppe: die macht unterhält eine privilegierte beziehung zu den elementen, deren reziproke bewegung die struktur der gesellschaft selbst begründet; doch dadurch, dass diese beziehung ihnen auf der ebene der gruppe einen tauschwert versagt, gründet sie die politische sphäre nicht nur als der gruppenstruktur äusserlich, sondern weit mehr noch als deren negation. Die macht ist gegen die gruppe, und die verweigerung der reziprozität als ontologische dimension der gesellschaft ist die verweigerung der gesellschaft selbst.
Eine solche schlussfolgerung, verschränkt mit der prämisse der ohnmacht des häuptlings in den indianergesellschaften, mag paradox erscheinen; in ihr löst sich jedoch das eingangsproblem: die fehlende autorität des häuptlings. Damit nämlich ein aspekt der sozialen struktur imstande ist, irgendeinen einfluss auf diese struktur auszuüben, darf zumindest die beziehung zwischen diesem besonderen system und dem gesamtsystem nicht völlig negativ sein. Nur unter der bedingung, dass die politische funktion gewissermaßen der gruppe immanent ist, kann sie sich wirklich entfalten. In den indianischen gesellschaften jedoch ist sie aus der gruppe ausgeschlossen und besteht sogar nur außerhalb ihrer: die ohnmacht der politischen funktion wurzelt also in der negativen beziehung zur gruppe; dass sie auß&erhalb der gesellschaft gestellt wird, ist gerade das mittel, sie zur ohnmacht zu verdammen

.... die macht ist genau so, wie diese gesellschaften wollten, dass sie sei. Und da diese macht bei ihnen nichts ist, um es schematisch zu sagen, zeigt die gruppe damit die radikale ablehnung der autorität, eine absolute negation der macht .... Die beziehung der macht zum tausch, obgleich sie negativ ist, hat uns nichtsdestoweniger gezeigt, dass die problematik dieser macht auf der tiefsten ebene der sozialstruktur, dem ort der unbewussten bildung ihrer dimensionen, ansetzt. Um es mit anderen worten zu sagen: es ist die kultur selbst, als hauptunterschied zur natur, die sich in der ablehnung dieser macht total einsetzt. Und legt nicht die kultur gerade in ihrer beziehung zur natur eine gleich starke verleugnung an den tag? Diese identität in der ablehnung führt uns zu der erkenntnis, dass in diesen gesellschaften eine identifikation von macht und natur vorliegt: die kultur ist die negation der einen wie der anderen, nicht in dem sinne, in dem macht und natur zwei unterschiedliche gefahren wären, deren identität nur die negative identität einer identischen beziehung zum dritten terminus wäre, sondern wirklich in dem sinne, in dem die kultur die macht als das wiederauftauchen der natur selbst begreift ....
Sie haben sich dafür entschieden, .... dass sich die darstellung der macht, wie sie ist, diesen gesellschaften als das mittel anbietet, sie zu annullieren. Diese operation, welche die politische sphäre einführt, verbietet ihre entfaltung: so gebraucht die kultur gegenüber der macht dieselbe list wie die natur; deshalb nennt man häuptling denjenigen, in dem der tausch der frauen, der wörter und der güter sich bricht

.... wenn hungersnot droht, lassen sich die gemeinschaften des Orinoko im haus des häuptlings nieder, auf dessen kosten sie von nun an zu leben beschliessen, bis bessere tage kommen .... Doch diese unterordnung ist nur eine scheinbare: sie verhüllt in wahrheit eine art erpressung, welche die gruppe auf den häuptling ausübt. Denn wenn dieser nicht tut, was man von ihm erwartet, lässt ihn sein dorf oder seine horde ganz einfach im stich, um sich einem pflichtgetreueren anführer anzuschließen. Nur vermittels dieser realen abhängigkeit kann der häuptling seinen status aufrechterhalten. Dies zeigt sich sehr deutlich in der beziehung zwischen macht und wort: denn wenn die sprache das genaue gegenteil der gewalt ist, muss das wort, außer als privileg des häuptlings, vor allem als das mittel interpretiert werden, das sich die gruppe verschafft, die macht außerhalb der zwangsgewalt zu halten, als die jeden tag erneuerte garantie, dass diese gefahr abgewendet ist. Das wort des anführers birgt in sich die ambiguität, von der der sprache immanenten kommunikationsfunktion abgeschnitten zu sein. Die rede des häuptlings bedarf des zuhörens so wenig, dass die indianer ihr häufig nicht die geringste aufmerksamkeit schenken. Die sprache der autorität, sagen die Urubu, ist ein ne eng hantan: eine harte sprache, die keine antwort erwartet. Doch diese härte kompensiert in keiner weise die ohnmacht der politischen institution. Der äusserlichkeit der macht entspricht die isoliertheit ihres worts, das, da es hart gesagt wird, damit es nicht durchdringt, von ihrer sanftmut zeugt.
Auf die gleiche weise lässt sich die polygynie interpretieren: jenseits ihres formalen aspekts eines reinen geschenks, dazu bestimmt, die macht als bruch des tauschs zu setzen, zeichnet sich eine positive funktion analog zu der der güter und der sprache ab: der häuptling, eigentümer der wichtigsten werte der gruppe, ist gerade aus diesem grunde ihr gegenüber verantwortlich, und vermittels der frauen ist er gewissermaßen der gefangene der gruppe

Doch ist außerdem anzumerken, dass diese kulturen, indem sie die `zeichen' ihres tauschwerts im bereich der macht berauben, den frauen, gütern und wörtern gerade ihre funktion als auszutauschender zeichen nehmen; und so werden diese elemente als reine werte begriffen, denn die kommunikation hört auf, ihr horizont zu sein. Der status der sprache zeigt besonders eindringlich diese wandlung vom zustand des zeichens in den zustand des werts: die rede des häuplings erinnert in ihrer einsamkeit an das wort des dichters, für den die wörter mehr werte als zeichen sind. Was also mag dieser doppelte prozess der aufhebung der bedeutung und der aufwertung der elemente des tauschs bedeuten? Vielleicht bringt er, über das festhalten der kultur an ihren werten hinaus, die hoffnung oder die sehnsucht nach einer mythischen zeit zum ausdruck, in der jeder einzelne zur fülle des genusses gelangen würde, der nicht von der notwendigkeit des tauschs begrenzt wäre.
Indianische kulturen, kulturen, die ängstlich besorgt sind, eine macht abzulehnen, die sie fasziniert: der wohlstand des häuptlings ist der tagtraum der gruppe. Und gerade weil die macht sowohl die sorge der kultur um sich selbst als auch den traum zum ausdruck bringt, über sich hinauszuwachsen, wird sie, ihrer natur nach paradox, in ihrer ohnmacht verehrt: metapher des stammes, imago seines mythos - das ist der indianerhäuptling

Propheten im Dschungel

.... das religiöse denken dieser indianer, das sich in der ersten frische einer welt entfaltet, in der götter und lebewesen noch als nachbarn verkehrten, verdichtet sich zu einer strengen und befreiten meditation

Unter der führung von inspirierten schamanen setzten sich die stämme in bewegung und versuchten, unter fasten und tanzen, zu den reichen wohnungen der götter zu gelangen, die im osten lagen .... Die Tupi-Guarani-schamanen hatten also einen großen einfluss auf die stämme, vor allem die größten von ihnen, die karai, deren wort, so klagten die missionare, die ganze kraft des dämons in sich barg .... dass das christentum in der geistigen welt der Tupi-Guarani, d.h. `primitiver' menschen, auf etwas stieß, das stark genug artikuliert war, um sich erfolgreich und gleichsam auf der gleichen ebene der missionierung entgegenzustellen ..... die Mbya, die vier jahrhunderte an verunglimpfungen nicht zu zwingen vermochten, sich zu demütigen ... ist es gelungen, ihre stammesidentität trotz allen unbilden und prüfungen ihrer vergangenheit zu bewahren .... Denn nur selten sieht man, dass eine indianerkultur nach den normen ihres eigenen glaubenssystems fortbesteht und diesen besonderen bereich fast frei von entlehnungen zu halten vermag. Aus der berührung der welt der weissen mit der der indianer erwächst meist ein verarmender synkretismus, in dem, unter einem stets oberflächlichen christentum, das eingeborenen-denken lediglich seinen tod hinauszuschieben sucht. Genau das ist bei den Mbya nicht geschehen, die bis heute jeden versuch der missionierung zum scheitern verurteilt haben.

Dieser jahrhunderte alte widerstand der Guarani gegenüber der religion der juru'a, der weissen, bezieht seine stärke also aus der überzeugung der indianer, dass ihr geschick sich nach dem versprechen der alten götter erfüllt: dass sie, wenn sie auf der schlechten erde, ywy mba'e megua, nach den vorschriften leben, von denen von oben die günstigen zeichen erhalten werden für die öffnung des weges, der sie, über den schrecken des meeres hinweg, zur ewigen erde führen wird .... die Mbya sind ein stamm, weil sie eine nicht-christliche religiöse minderheit sind, weil der zement ihrer einheit die gemeinschaft des glaubens ist .... die traditionellen lebensregeln ... beachten und andächtig den ermahnungen ihrer pa'i, ihrer schamanen zu lauschen. Denn diese sind die wahren weisen, die sich, von derselben leidenschaft durchdrungen wie die karai der alten zeit, der begeisterung hingeben, ihre götter zu befragen. Und hier zeigt sich erneut die liebe der indianer zum wort, sowohl als redner wie als zuhörer: als herren der wörter und glühende redner find die Kaziken-schamanen bei den übrigen indianern stets ein bereitwilliges publikum.

Zuweilen, aber nicht notwendig medizinmänner, trachten sie weit weniger danach, den kranken körper wieder gesund zu machen, als durch tänze, reden und meditationen jene innere stärke zu erwerben, jene kraft des herzens, die allein geeignet ist, Namandu, Karai Ru Ete sowie allen gestalten des Guarani-pantheons zu gefallen .... Der erstaunlichen tiefe ihrer rede geben diese pa'i, die man eher propheten als schamanen zu nennen geneigt ist, die form einer sprache, die durch ihren poetischen reichtum auffällt. Hier zeigt sich im übrigen deutlich die sorge der indianer, eine sphäre des heiligen zu definieren, in der die sprache, in der es gesagt wird, selbst eine negation der profanen sprache ist

Letzte menschen: so lautet der wahre name der Mbya, indianer, die entschlossen sind, ihre götter nicht zu überleben .... Wilde frühmessen im wald, die ernsten worte ihrer wehklage ziehen gen osten, der sonne zu begegnen, dem sichtbaren boten von Namandu, dem mächtigen herrn derer von oben: ihm gilt dieses exemplarische gebet

.... dass die menschen macht über die götter haben, dass alles noch möglich ist .... Rast auf der schwelle ihrer wahren behausung: das ist das wohnen der Jeguakava auf der schlechten erde. Die unvollkommenheit der körper und seelen verhindert, sie zu verlassen, nur sie hält sie diesseits der grenze, des metaphorischen meeres fest, das in seiner dem indianer meist unbekannten realität nicht so erschreckend ist, als dass es sie die vielleicht endgültige verteilung des menschlichen und des göttlichen ahnen ließe: dass jedes an sein eigenes ufer gefesselt ist

Und das ist, tragisch in der morgendlichen stille eines waldes, das meditierende gebet eines indianers: die klarheit seines rufs wird nicht gestört dadurch, dass in ihm unterirdisch der sinn und die neigung für den tod keimt, dem entgegenzugehen die grosse weisheit der Guarani sich bewusst ist.

Mein vater! Namandu! Du gibst, dass ich von neuem mich aufrichte!
Und ebenso gibst du, dass die Jeguakava von neuem sich aufrichten,
die geweihten männer, in ihrer gesamtheit.
Und die Jachukava, die geweihten frauen, du gibst, dass auch sie
von neuem sich aufrichten, in ihrer gesamtheit.
Und siehe: im namen der geweihten, im namen derer, die nicht dir
geweiht sind, in ihrer aller namen frage ich.
....
Du sprichst die worte nicht aus, in denen die künftigen regeln
unserer kraft ruhen, die künftigen regeln unseres eifers

Denn in wahrheit
lebe ich unvollkommen.
....
Die dinge sind so eingerichtet,
und damit mein unvollkommenes blut,
....

Infolgedessen drängt es mich zu sagen,
Karai Ru Ete, Karai Chy Ete:
jene, die nicht von kleiner zahl waren,
die bestimmt waren für die unzerstörbare erde, die ewige erde, die keine kleinlichkeit verdirbt,
du hast gegeben, dass sie alle in wahrheit fragen, einst, im namen der künftigen regeln ihres daseins.
Und gewiss kannten sie sie in ihrer vollkommenheit einst.

Und wenn meine natur sich von ihrer gewohnten unvollkommenheit befreit,
wenn das blut sich von seiner vergangenen gewohnten unvollkommenheit befreit:
dann kommt das gewiss nicht von all den schlechten dingen,
sondern daher, dass mein unvollkommenes blut, mein unvollkommenes fleisch sich schütteln und ihre unvollkommenheit weit von sich werfen.

Deshalb wirst du im überfluss die worte aussprechen,
die worte der schönen seele,

für den, dessen gesicht kein zeichen entstellt.(*)
Im überfluss wirst du die worte aussprechen,
o du, Karai Ru Ete, und du, Karai Chy Ete,
für alle, die bestimmt sind für die unzerstörbare erde,
die ewige erde, die keine kleinlichkeit verdirbt.
Du, Ihr.

(*) d.h. für den, der die christliche taufe verweigert

Die Gesellschaft gegen den Staat

Doch die feststellung einer offenkundigen evolution begründet in keiner weise eine theorie, die, indem sie den zustand der zivilisation willkürlich mit der zivilisation des staates verknüpft, diesen letzteren als notwendiges ziel jeder gesellschaft bezeichnet. Man darf sich also fragen, was die letzten noch wilden völker zurückgehalten hat

Wenn man unter technik die gesamtheit der verfahren versteht, mit denen sich die menschen ausstatten, nicht um zur absoluten beherrschung der natur zu gelangen (dies gilt nur für unsere welt und ihr wahnsinniges kartesianisches projekt, dessen ökologische folgen wir gerade erst zu ermessen beginnen), sondern um zu einer beherrschung der natürlichen umwelt zu gelangen, die ihren bedürfnissen entspricht, dann kann man durchaus nicht von einer technischen unterlegenheit der primitiven gesellschaften sprechen: sie beweisen eine mindestens ebenso große fähigkeit, ihre bedürfnisse zu befriedigen, wie diejenige, auf die die industrielle und technische gesellschaft so stolz ist. Das heisst, dass es jeder gruppe von menschen notgedrungen gelingt, das zur beherrschung ihrer umwelt notwendige minimum zu leisten .... eine technologische ausrüstung lässt sich nur an ihrer fähigkeit messen, in einer bestimmten umwelt die bedürfnisse der gesellschaft zu befriedigen .... sehen wir, dass die entdeckung der landwirtschaft und die pflanzenzüchtung in Amerika und der alten welt fast in die gleiche zeit fallen

.... man behauptet, dass diese gesellschaft fortwährend die gesamtheit ihrer produktivkräfte aufbietet, um ihren mitgliedern das zum überleben notwendige minimum zu verschaffen.
Es ist ein hartnäckiges vorurteil, das sich seltsamerweise mit der dazu im widerspruch stehenden und nicht minder gängigen vorstellung deckt, dass der wilde faul ist. Wenn man in unserer volkssprache sagt, ``wie ein neger herumlungern'', sagt man in Südamerika: ``faul wie ein indianer''. Aber entweder - oder: entweder lebt der mensch der amerikanischen oder anderer primitiver gesellschaften in einer subsistenzwirtschaft und verbringt seine meiste zeit mit der suche nach nahrung; oder aber er lebt nicht in einer subsistenzwirtschaft und kann sich also lange mußestunden rauchend in seiner hängematte gestalten .... Tatsächlich scheinen zwei axiome den gang der westlichen zivilisation von ihrem beginn an zu leiten: das erste setzt, dass die wahre gesellschaft sich im schützenden schatten des staates entfaltet; das zweite verkündet einen kategorischen imperativ: du sollst arbeiten .... Also ist eine subsistenzwirtschaft vereinbar mit einer beträchtlichen begrenzung der zeit, die auf produktive tätigkeiten verwendet wird .... die männer, dh die hälfte der bevölkerung, arbeiten etwa zwei monate alle vier jahre! Die übrige zeit widmen sie tätigkeiten, die nicht als last sondern als lust empfunden werden: jagd, fischfang; feste, trinkgelage; schliesslich der befriedigung ihrer leidenschaftlichen liebe zum krieg .... Ob es sich um nomaden-jäger aus der Kalahari-wüste oder um sesshafte ackerbauern im indianischen Amerika handelt, die ermittelten zahlen ergeben eine durchschnittliche arbeitszeit von weniger als vier stunden pro tag

Wozu sollte ihnen das nützen? Was würde ihnen der so akkumulierte mehrwert einbringen? Die menschen arbeiten immer nur unter zwang mehr, als ihre bedürfnisse erfordern. Und gerade dieser zwang fehlt in der welt der primitiven, und das fehlen dieses äusseren zwangs definiert sogar die natur der primitiven gesellschaften .... Und als die indianer die produktive überlegenheit der äxte der weissen männer entdeckten, wollten sie sie nicht haben, um in derselben zeit mehr zu produzieren, sondern um in zehnmal weniger zeit dasselbe zu produzieren. Es geschah genau das gegenteil, denn mit den metalläxten drangen in die primitive welt der indianer die gewalt, der zwang, die macht ein, welche die neu gekommenen zivilisten auf die wilden ausübten.
Die primitiven gesellschaften sind, wie J. Lizot bezüglich der Yanomami schreibt, gesellschaften der arbeitsverweigerung: ``Die verachtung der Yanomami für die arbeit und ihr desinteresse an einem autonomen technischen fortschritt steht außer zweifel.'' Erste freizeitgesellschaften, erste überflussgesellschaften, wie M. Sahlins richtig sagt

Für den menschen der primitiven gesellschaften .... ist .... die produktion .... beschränkt auf die wiederherstellung der verausgabten energie. Mit anderen worten, das leben als natur begründet und bestimmt - bis auf die produktion der güter, die sozial bei den festen verbraucht werden - die menge an zeit, die aufgewendet wird, es zu reproduzieren .... Unter welchen bedingungen gibt sich die gesellschaft ein anderes ziel als die befriedigung der energetischen bedürfnisse? Dies bedeutet, die frage nach dem ursprung der arbeit als entfremdeter arbeit stellen ....
In der primitiven gesellschaft, einer dem wesen nach egalitären gesellschaft, sind die menschen herren über ihre tätigkeit, herren über die zirkulation der produkte dieser tätigkeit: sie handeln nur für sich selbst, auch wenn das gesetz des gütertauschs das unmittelbare verhältnis des menschen zu seinem produkt mediatisiert. Alles gerät folglich durcheinander, wenn die produktive tätigkeit von ihrem ursprünglichen ziel abgelenkt wird, wenn der primitive mensch, statt ausschließlich für sich selbst zu produzieren, auch für die anderen produziert, und zwar ohne austausch und ohne gegenseitigkeit. Dann erst kann man von arbeit sprechen: wenn die egalitäre tauschregel nicht mehr den `code civil' der gesellschaft bildet, wenn die produktive tätigkeit darauf zielt, die bedürfnisse der anderen zu befriedigen, wenn an die stelle der tauschregel der terror der schuld tritt. Und genau hier liegt der unterschied zwischen dem amazonischen wilden und dem indianer des Inka-reichs. Der erste produziert, um zu leben, während der zweite außerdem noch arbeitet, um die anderen leben zu lassen, jene, die nicht arbeiten, die herren, die ihm sagen: du musst zahlen, was du uns schuldest, du musst uns ewig deine schulden zurückzahlen.
.... Bevor die entfremdung ökonomisch ist, ist sie politisch, vor der arbeit steht die macht, das ökonomische ist ein ableger des politischen, das auftauchen des staats bestimmt das entstehen der klassen

.... die ethnologie wächst hier zu den dimensionen einer (zu konstruierenden) allgemeinen theorie der gesellschaft und der geschichte heran .... Es gibt einerseit die primitiven gesellschaften oder gesellschaften ohne staat, andererseits die gesellschaften mit staat. .... Das auftauchen des staats bewirkte die große typologische teilung in wilde und zivilisierte, es hat den unauslöschlichen schnitt gezogen, jenseits dessen alles anders ist, denn die zeit wird geschichte. Oftmals und zu recht hat man in der bewegung der weltgeschichte zwei entscheidende beschleunigungen ihres rhythmus entdeckt. Der motor der ersten war die sogenannte neolithische revolution (viehzucht, ackerbau, entdeckung der weberei und töopferei, allmähliches sesshaft werden der menschengruppen usw). Noch heute leben wir, und immer mehr, (wenn man so sagen darf), in der verlängerung der zweiten beschleunigung, der industriellen revolution des 19. jahrhunderts.
Es besteht natürlich kein zweifel, dass der neolithische schnitt die materiellen lebensbedingungen der zuvor paläolithischen völker erheblich umgewälzt hat. Doch war diese veränderung fundamental genug, um das wesen der gesellschaft in ihrer tiefe zu berühren? .... eine ökonomie der jagd, des fischfangs, des sammelns setzt nicht unbedingt ein nomadisches leben voraus. Das bezeugen beispiele sowohl in Amerika wie anderswo: das fehlen von ackerbau ist durchaus mit sesshaftigkeit vereinbar. Das ließe nebenbei vermuten, dass, wenn einige völker den ackerbau nicht erworben haben, während er ökologisch möglich war, dies nicht unfähigkeit , technologische zurückgebliebenheit, kulturelle unterlegenheit bedeutet, sondern einfach, dass sie ihn nicht brauchten.
Die nachkolumbianische geschichte Amerikas zeigt das beispiel sesshafter pflanzer-populationen, die sich unter dem einfluss einer technischen revolution (eroberung des pferds und zeitweilig der feuerwaffen) entschieden haben, den ackerbau aufzugeben, um sich fast ausschließlich der jagd zuzuwenden, deren ertrag durch die durch das pferd verzehnfachte mobilität stark erhöht wurde ....
.... diese bewegung .... sich zu vollziehen scheint, ohne irgend etwas an der natur der gesellschaft zu ändern; dass diese sich selbst gleich bleibt, wenn sich lediglich ihre materiellen existenzbedingungen verändern .... Der amerikanische kontinent veranschaulicht deutlich die jeweilige autonomie von wirtschaft und gesellschaft .... verschiedener `unterbau', identischer `überbau' .... identischer `unterbau', verschiedener `überbau' ....
Also ist der politische schnitt entscheidend und nicht die ökonomische veränderung. Die wirkliche revolution in der protogeschichte der menschheit ist nicht die neolithische, da sie die alte soziale organisation durchaus intakt lassen kann, sonden die politische revolution, jenes geheimnissvolle, irreversible, für die primitiven gesellschaften tödliche auftauchen dessen, was wir unter dem namen staat kennen. Und wenn wir die marxistischen begriffe von basis und überbau beibehalten wollen, dann müssen wir vielleicht zugeben, dass die basis das politische, der überbau das ökonomische ist ....
Diese modifizierung der ökonomischen basis ist nicht nur hypothetisch, sondern weit mehr noch unmöglich. Damit sich in einer gegebenen gesellschaft die produktionsform in richtung einer größeren arbeitsinetensität zum zwecke einer erhöhten güterproduktion verwandelt, müssen die menschen dieser gesellschaft diese veränderung ihrer traditionellen lebensweise entweder wünschen oder, wenn sie sie nicht wünschen, durch äussere gewalt dazu gezwungen werden

Der staat, so heisst es, ist das instrument, das es der herrschenden klasse erlaubt, ihre gewaltsame herrschaft über die beherrschten klassen auszuüben. Zugegeben. Damit der staat entstehen kann, muss also zuvor eine teilung der gesellschaft in antagonistische soziale klassen vorliegen, die durch ausbeutungsbeziehungen miteinander verbunden sind. Folglich müsste die struktur der gesellschaft - die teilung in klassen - dem auftauchen der staatsmaschine vorausgehen .... Doch weshalb sollte es zum auftauchen des privateigentums in einem gesellschaftstypus kommen, der das eigentum nicht kennt, weil er es ablehnt? .... Was wir heute über die primitiven gesellschaften wissen, lässt es nicht mehr zu, den ursprung des politischen auf der ebene des ökonomischen zu suchen .... denn niemand verspürt hier den absonderlichen wunsch, mehr zu leisten, zu besitzen, zu scheinen als sein nachbar

Aus dem primitiven häuptlingstum lässt sich der staatsapparat im allgemeinen gewiss nicht ableiten ....
Doch prestige bedeutet natürlich nicht macht, und die mittel, die der häuptling besitzt, um seine aufgabe als friedensstifter zu erfüllen, beschränken sich auf den ausschließlichen gebrauch des worts: nicht, um zwischen den entgegengesetzten parteien zu schlichten, denn der häuptling ist kein richter und darf sich nicht erlauben, für den einen oder anderen partei zu ergreifen; sondern um allein mit den waffen seiner beredsamkeit die leute davon zu überzeugen zu suchen, dass sie sich beruhigen, auf die beleidigungen verzichten, den vorfahren nacheifern sollen, die stets in gutem einvernehmen gelebt haben. Ein unternehmen, dem der erfolg nie sicher ist, eine jedesmal ungewisse wette, denn das wort des häuptlings hat keine gesetzeskraft

``.... Ich ziehe es vor, von ihnen geliebt statt gefürchtet zu werden''

Ist alles vorbei, gleich welchen ausgang der kampf genommen hat, so wird der kriegshäuptling wieder ein häuptling ohne macht, in keinem fall verwandelt sich das einem sieg folgende prestige in autorität .... Die quelle, welche den durst eines kriegers nach prestige am ehesten zu löschen vermag, ist der krieg. Gleichzeitig kann ein häuptling, dessen prestige vom krieg abhängt, dieses ansehen nur im krieg bewahren und verstärken: es ist eine art erzwungene flucht nach vorn, die ihn veranlasst, unaufhörlich kriegsexpeditionen organisieren zu wollen, deren mit dem sieg verbundene (symbolische) vorteile er zu ernten gedenkt ....
Wenn sein wunsch nach krieg mit dem wunsch der gesellschaft übereinstimmt, folgt ihm diese auch weiterhin .... Er ist sowohl der gefangene seines wunsches nach prestige wie seiner ohnmacht, ihn zu verwirklichen. Was kann nun passieren? Der krieger ist zur einsamkeit verdammt, zu jenem zweifelhaften kampf, der ihn nur zum tode führt. Dies war das schicksal des südamerikanischen kriegers Fousiwe. Weil er den seinen einen krieg aufzwingen wollte, den sie nicht wünschten, sah er sich von seinem stamm im stich gelassen. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als diesen krieg allein zu führen, und er starb von pfeilen durchbohrt. Der tod ist das schicksal des kriegers, denn die primitive gesellschaft ist so beschaffen, dass sie nicht zulässt, den wunsch nach prestige durch den willen zur macht zu ersetzen. Oder mit anderen worten, in der primitiven gesellschaft ist der anführer, als möglichkeit des willens zur macht, von vornherein zum tode verurteilt. Die losgelöste politische macht ist unmöglich in der primitiven gesellschaft, es gibt keinen platz, keinen leeren raum, den der staat ausfüllen könnte

Die Apachen, die aufgrund der umstände die führung von Geronimo wegen seiner gewandtheit als kämpfer akzeptierten, drehten ihm systematische den rücken, als er seinen persönlichen krieg führen wollte. Geronimo, der letzte große nordamerikanische kriegshäuptling, verbrachte dreissig jahre seines lebens damit, den ``häuptling spielen'' zu wollen, und es gelang ihm nicht ...

Die wesentliche (d.h. die das wesen berührende) eigenschaft der primitiven gesellschaft besteht darin, eine absolute und vollständige macht über alles auszuüben, aus dem sie besteht; darin, die autonomie irgendeiner ihrer untergruppen zu verbieten; darin, alle bewussten und unbewussten, inneren regungen, die das soziale leben nähren, in den von der gesellschaft gewollten grenzen und richtungen zu halten .... Eine gesellschaft, die sich folglich ewig reproduzieren müsste, ohne dass irgend etwas wesentliches sie im lauf der zeit berührt ....
Es ist nämlich sehr wahrscheinlich, dass eine grundvoraussetzung für die existenz der primitiven gesellschaft in ihrer relativ geringen demographischen größe liegt. Die dinge können allein dann nach dem primitiven modell funktionieren, wenn es nur wenige leute gibt. Oder mit anderen worten: damit eine gesellschaft primitiv ist, muss sie zahlenmäßig klein sein. Und tatsächlich stellen wir in der welt der wilden eine außergewöhnliche zersplitterung in ``nationen'', stämme, gesellschaften in lokale gruppen fest, die peinlich darauf achten, ihre autonomie innerhalb der gesamtheit zu bewahren, zu der sie gehören, auf die gefahr hin, provisorische bündnisse mit den benachbarten ``landsmännern'' schließen zu müssen, falls die umstände - insbesondere kriegerische - es erfordern ....
Es mag uns genügen, dass wir am einen ende der gesellschaft, wenn man so sagen darf, das demographische wachstum entdecken und am anderen das langsame erscheinen der politischen macht

Häuptlingstum und sprache sind in der primitiven gesellschaft innerlich miteinander verbunden .... aber es gibt ein anderes wort, eine andere rede ....: die rede der karai , das prophetische wort, das virulente wort, das in höchstem maße subversive wort .... Die apelle der propheten, die schlechte erde zu verlassen, dh die gesellschaft, so wie sie war, um zur erde ohne böses zu gelangen, zur gesellschaft des göttlichen glücks, implizierte das todesurteil für die struktur der gesellschaft und ihr regelsystem. Dieser gesellschaft prägte sich nun aber immer stärker der stempel der autorität der häuptlinge auf, das gewicht ihrer beginnenden politischen macht. Vielleicht sind wir nun berechtigt zu sagen, dass, wenn die propheten, dem herzen der gesellschaft entsprungen, die welt, in der die menschen lebten, für schlecht erklärten, dies deshalb geschah, weil sie das unglück, das böse in jenem langsamen tod erkannten, zu dem das auftauchen der macht, früher oder später, die Tupi-Guarani-Gesellschaft als primitive gesellschaft, als gesellschaft ohne staat verurteilte. Von dem gefühl durchdrungen, dass die alte wilde welt in ihren grundfesten bebte, von der vorahnung einer soziokosmischen katatrophe gequält, beschlossen die propheten, dass man die welt verändern müsse, dass man die welt wechseln müsse, die der menschen aufgeben und die der götter gewinnen müsse
[eigene anmerkung: dieses phänomen wird aber von anderen autoren durchaus anders gesehen]

Warum ist die welt schlecht? Was können wir tun, um dem bösen zu entrinnen? Fragen, die diese indianer sich über generationen hinweg immer von neuem stellen: die karai von heute halten pathetisch und hartnäckig daran fest, die reden der einstigen propheten zu wiederholen .... Wir finden also bei den Tupi-Guarani zur zeit der entdeckung einerseits eine praxis - die religiöse wanderung -, die unerklärlich ist, wenn man in ihr nicht die ablehnung des weges sieht, auf den das häuptlingstum die gesellschaft zog, die ablehnung der losgelösten politischen macht, die ablehnung des staats; auf der anderen seite eine prophetische rede, die das Eine als die wurzel des übels identifiziert und die möglichkeit verkündet, ihm zu entrinnen. Unter welchen bedingungen ist es möglich, das Eine zu denken? Seine anwesenheit, ob gehasst oder begehrt, muss auf irgendeine weise sichtbar sein. Und deshalb meinen wir, hinter der metaphysischen gleichung, die das böse mit dem Einen gleichsetzt, eine andere, geheimere, politische gleichung zu entdecken, die besagt, dass das Eine der staat ist. Die Tupi-Guarani-prophetie ist der heroische versuch einer primitiven gesellschaft, das unglück durch die radikale ablehnung des Einen als universalen wesens der macht zu beseitigen .... das denken der wilden propheten und das der alten Griechen denken dasselbe, das Eine; doch der Guarani-indianer sagt, dass das Eine das böse ist, während Heraklit sagt, dass es das gute sei. Unter welchen bedingungen ist es möglich, das Eine als das gute zu denken?

Auf der einen seite die häuptlinge, auf der anderen und gegen sie die propheten: dies ist in den wesentlichen zügen das bild der Tupi-Guarani-gesellschaft gegen ende des 15. jahrhunderts. Und die prophetische ``maschine'' funktionierte ausgezeichnet, denn die karai waren in der lage, erstaunliche indianermassen mit sich zu reissen, die, wie man heute sagen würde, so fanatisiert waren durch das wort dieser männer, dass sie sie in den tod begleiteten.
Was heisst das? Die propheten, einzig mit ihrem logos bewaffnet, konnten ein ``mobilisierung'' der indianer bewirken, sie konnten jenes in der primitiven gesellschaft unmögliche erreichen: in der religiösen wanderung die große vielfalt der stämme vereinen. Es gelang ihnen, mit einem schlag das ``programm'' der häuptlinge zu verwirklichen! .... Jedenfalls verlieh der aufstand der propheten gegen die häuptlinge, wie in einer merkwürdigen umkehrung der dinge, den ersteren unendlich mehr macht, als die letzteren je besaßen. Vielleicht müssen wir nun die vorstellung vom wort als dem gegenteil der gewalt berichtigen .... In der rede der propheten ruht vielleicht im keim die rede der macht, und hinter den schwärmerischen zügen des menschenführers, der den wunsch des menschen ausspricht, verbirgt sich vielleicht die stumme gestalt des despoten ....
Die geschichte der völker, die eine geschichte haben, ist, wie es heisst, die geschichte des klassenkampfs. Die geschichte der völker ohne geschichte ist, wie man mit mindestens ebenso großer wahrheit sagen kann, die geschichte ihres kampfes gegen den staat.


Pierre Clastres, Staatsfeinde, Studien zur politischen Anthropologie, Theorie - Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main, erste Auflage (1976)
Original: La societe contre l'Etat (1974)



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Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus - Georg Wilhelm Friedrich Hegel
(sprachlich und formal bereinigte Fassung)

Da die ganze Metaphysik künftig in die Moral fällt - wovon Kant mit seinen beiden praktischen Postulaten nur ein Beispiel gegeben, nichts erschöpft hat - so wird diese Ethik nichts anderes als ein vollständiges System aller Ideen, oder, was dasselbe ist, aller praktischen Postulate sein. Die erste Idee ist natürlich die Vorstellung von mir selbst als einem absolut freien Wesen. Mit dem freien, selbstbewussten Wesen tritt zugleich eine ganze Welt - aus dem Nichts hervor; die einzig wahre und gedenkbare Schöpfung aus nichts . Hier werde ich auf die Felder der Physik herabsteigen; die Frage ist diese: Wie muss die Welt für ein moralisches Wesen beschaffen sein? Ich möchte unserer langsamen, an Experimenten mühsam schreitenden Physik einmal wieder Flügel geben.

So - wenn die Philosophie die Ideen, die Erfahrung die Daten angibt, können wir endlich die Physik im Großen bekommen, wie ich von späteren Zeitaltern erwarte. Es scheint nicht, dass die jetzige Physik einen schöpferischen Geist, wie der unsrige ist, oder sein soll, befriedigen könne.

Von der Natur komme ich aufs Menschenwerk . Die Idee der Menschheit voran, will ich zeigen, dass es keine Idee vom Staat gibt, weil der Staat etwas mechanisches ist, so wenig, als es eine Idee von einer Maschine gibt. Nur was Gegenstand der Freiheit ist, heisst Idee. Wir müssen also auch über den Staat hinaus - Denn jeder Staat muss freie Menschen als mechanisches Räderwerk behandeln; und das soll er nicht; also soll er aufhören. Ihr seht von selbst, dass hier alle die Ideen, vom ewigen Frieden usw, nur untergeordnete Ideen einer höheren Idee sind. Zugleich will ich hier die Prinzipien für eine Geschichte der Menschheit niederlegen, und das ganze elende Menschenwerk von Staat, Verfassung, Regierung, Gesetzgebung - bis auf die Haut entblößen. Endlich kommen die Ideen von einer moralischen Welt, Gottheit, Unsterblichkeit, Umsturz alles Afterglaubens, Verfolgung des Priestertums, das neuerdings Vernunft heuchelt - durch die Vernunft selbst. Das ist die absolute Freiheit aller Geister, welche die intellektuelle Welt in sich tragen, und weder Gott noch Unsterblichkeit außer sich suchen dürfen.

Zuletzt die Idee, die alle vereinigt, die Idee der Schönheit, das Wort in höherem platonischem Sinne genommen. Ich bin nun überzeugt, dass der höchste Akt der Vernunft, indem diese alle Ideen umfasst, ein ästhetischer Akt ist, und dass Wahrheit und Güte nur in der Schönheit verschwistert sind - Der Philosoph muss eben so viel ästhetische Kraft besitzen als der Dichter. Die Menschen ohne ästhetischen Sinn sind unsere BuchstabenPhilosophen. Die Philosophie des Geistes ist eine ästhetische Philosophie. Man kann in nichts geistreich sein, selbst über Geschichte kann man nicht geistreich raisonieren - ohne ästhetischen Sinn. Hier soll offenbar werden, woran es eigentlich den Menschen fehlt, die keine Ideen verstehen - und treuherzig genug gestehen, dass ihnen alles dunkel ist, sobald es über Tabellen und Register hinaus geht.

Die Poesie bekommt dadurch eine höhere Würde, sie wird am Ende wieder, was sie am Anfang war - Lehrerin der Menschheit; denn es gibt keine Philosophie, keine Geschichte mehr, die Dichtkunst allein wird alle übrigen Wissenschaften und Künste Überleben.

Zu gleicher Zeit hören wir so oft, der große Haufen müsse eine sinnliche Religion haben. Nicht nur der große Haufen, auch der Philosoph bedarf ihrer. Monotheismus der Vernunft und des Herzens, Polytheismus der Einbildungskraft und der Kunst, dies ist, was wir bedürfen!

Zuerst werde ich hier von einer Idee sprechen, die, soviel ich weiss, noch in keines Menschen Sinn gekommen ist - wir müssen eine neue Mythologie haben; diese Mythologie aber muss im Dienste der Ideen stehen, sie muss eine Mythologie der Vernunft werden.

Ehe wir die Ideen ästhetisch, dh mythologisch machen, haben sie für das Volk kein Interesse; und umgekehrt, ehe die Mythologie vernünftig ist, muss sich der Philosoph ihrer schämen. So müssen endlich Aufgeklärte und Unaufgeklärte sich die Hand reichen, die Mythologie muss philosophisch werden, und das Volk vernünftig, und die Philosophie muss mythologisch werden, um die Philosophen sinnlich zu machen. Dann herrscht ewige Einheit unter uns. Nimmer der verachtende Blick, nimmer das blind Zittern des Volkes vor seinen Weisen und Priestern. Dann erst erwartet uns gleiche Ausbildung aller Kräfte, des Einzelnen sowohl als aller Individuen. Kein Kraft wird mehr unterdrückt werden, dann herrscht allgemeine Freiheit und Gleichheit der Geister! - Ein höherer Geist vom Himmel gesandt muss diese neue Religion unter uns stiften. Sie wird das letzte, größte Werk der Menschheit sein.

Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus
             cf
Platon - Politeia





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