Die "New Economy" Amerikas fasziniert. Unablässig hören wir vom dortigen Entstehen einer neuen Wirtschaft mit ganz neuen Gesetzmässigkeiten, robust gegen Gefahren und Risiken. Diese Meinung stimmt bisher kaum mit den Tatsachen überein. Es gibt schon Neues, aber ob es die Wirtschaftsgesetze nachhaltig ausser Kraft setzt, bleibt noch abzuwarten.
Amerika hat nicht ein Sozialprodukt, sondern deren drei. Das Volumen des Aktienhandels beträgt etwas über 200 Prozent des Sozialproduktes. Für jeden Dollar, der für Güter und Dienstleistungen bezahlt wird, werden zwei Dollar für Aktien ausgegeben. Auf dieses gewaltige Handelsvolumen werden Kommissionen und Gebühren bezahlt. Würde man diese aus dem Sozialprodukt herausrechenen, wäre die amerikanische Wirtschaft in den letzten fünf Jahren nur wenig, wenn überhaupt gewachsen - das US-Wirtschaftswunder ist vor allem ein Börsenwunder.
Es spricht wenig dafür, dass das ein Normalzustand ist. Der Durchschnitt des Aktienhandelsvolumens beträgt für die vergangenen hundert Jahre nur knapp 30 Prozent des Sozialproduktes. Das letzte Mal, als es Volumina in vergleichbarer Größe gab, war in den späten Zwanzigerjahren. Sie lagen damals bei etwa 135 Prozent. Daraus mag man ableiten was man will - denn jetzt haben wir ja eine neue Wirtschaft!
Wofür wird soviel ausgegeben? Für Unternehmen, die keine Dividende zahlen. Im Hundertjahresschnitt richteten etwa 65 Prozent aller Unternehmen Dividenden aus. Seit 1990 liegt dieser Wert bei 30 Prozent, und zurzeit ist er auf fast 20 Prozent gesunken. Zum ersten Mal scheinen wir auch eine Wirtschaft zu haben, in der jene Firmen am meisten Kaufinteresse finden, die keine Gewinne machen. Aktien von Firmen, die Verluste machen, sind 1999 um gut 50 Prozent gestiegen, jene von Firmen, die Gewinne erzielen, sind um 2 Prozent gefallen. Und wenn man genau hinschaut, dann wollen die Leute auch gar keine steigenden Aktienkurse mehr, sondern nur noch einen steigenden Index. Die Indizes haben zwar fast vertikale Höhenflüge zu verzeichnen, aber 54 Prozent aller an US-Börsen gehandelten Aktien sind 1999 gesunken. Über ein Drittel der Aktien liegen 40 Prozent und mehr unter ihren Höchstkursen. Die Hälfte des gesamten Anstiegs des S&P-Index - 80 Prozent der Gesamtkapitalisierung Amerikas - stammt aus lediglich sieben Werten: Microsoft, Cisco, GE, Walmart, Nortel, Oracle und AOL.
Und womit wird alles bezahlt? Mit Schulden. 6 Prozent negative Sparquote, stagnierende Realeinkommen, Aktienkauf mit Krediten zu 8 bis 12 Prozent Zinsen auf Haus [cf Anmerkungen am Ende des Artikels, insbesondere No 6], Lebens- und Ausbildungsversicherungen, Höchststände von Unternehmens- und Privatschulden. Wenigstens ist der Staatshaushalt saniert und weist einen Überschuss von rund 120 Milliarden Dollar auf. Darf man leise fragen, warum dann die öffentlichen Schulden (Gross Public Debts) von rund 5550 Milliarden Dollar im Fiskaljahr 1998 auf rund 5670 Mrd im Jahr 1999 gestiegen sind und was mit dem Nettoschuldenzuwachs von 120 Milliarden geschehen ist? Hat man damit etwa ein Staatsdefizit in dieser Größe finanziert? Ja! [cf Anmerkung am Ende des Artikels] Und um noch ein Plus vorweisen zu können, werden die Überschüsse der Sozialversicherung in den Staatshaushalt transferiert: Man wird sie ja nicht mehr brauchen, weil alle ständig reicher werden. Durch immer stärker steigende Kurse von immer weniger Aktien von immer mehr Firmen, die immer weniger Gewinne machen und daher immer häufiger keine Dividende zahlen.
Früher hatten Realwirtschaft und Finanzwirtschaft einen engen
Zusammenhang. Das Volumen der Finanzwirtschaft stand in klaren Proportionen
zum Volumen des Welthandels und der Weltinvestitionen, die es zu finanzieren
galt. So ist es nicht mehr. Ob das normal und gesund ist und daher anhalten
kann, wird man sehen. Schöne neue Wirtschaft ...
Prof. Fredmund Malik, St. Gallen; aus 'Cash' (Schweiz) vom 14jan2000
Anmerkungen von menkaura:
1) Financial Times Europe, Friday May 30 2003 p15,
Avinash Persaud - `Deflation is a matter of national choice'
....
US officials and commentators often exhort the Japanese to inflate their
economy. This fails, not because the Japanese are deaf but because Japan is a
nation of creditors. If you are a creditor, voting for inflation is on a par
with a turkey voting for Christmas.
Arranging the world's biggest economies by their net creditor or debtor status
suggests deflation is most likely in Japan, Switzerland, Italy and Germany and
least likely in the US, Canada, Australia and the UK. On an international
basis, the US's net liabilities to the rest of the world are about 25 per cent
of its gross domestic product.
[Leistungsbilanzdefizit im Frühjahr 2003 1.5 bis 1.8 Milliarden $
täglich, finanziert zu einem Gutteil aus Japan, und China s.u. 4)
Nach einer Meldung der FTD vom 04dec2007 belaufen sich die Schulden der
US-Wirtschaft auf mehr als 300 Prozent des BIP]
Japan, by contrast, is running a net surplus of about 35 per cent of GDP.
Whether a country as a whole is a creditor or a debtor has much to do with the
age and wealth of its population. Since age and wealth are slow-moving
factors, this pattern is slow to change and easy to predict. ....
Deflation reduces the value of real assets and raises the value of nominal
assets. It is good for currency and bonds with good credit ratings and bad for
property and equities in general, especially the equity of companies whose
cash flows are small.
....
And therefore in the same issue see article
`Deflation sends Japanese investors running to bonds'
....
2) Financial Times Deutschland, Freitag, 30. Mai 2003 p23,
Thomas Fricke - Schwindel um den Dollar-Sturz - Die US-Regierung steuert in
eine Schwachwährungspolitik, mit der das Wachstum gestützt und das
astronomische Außendefizit abgebaut werden soll. Ein riskantes Spiel,
das im Desaster enden könnte
....
Kaum eine andere Wirtschaft kauft bei anziehender Inlandskonjunktur so schnell
so viele Waren im Ausland. In der Vergangenheit führte ein Plus von einem
Prozent bei der US-Nachfrage zu einem Einfuhrplus von 1,6 bis 2 Prozent ....
Nach Berechnungen des US-Experten der Dresdner Bank, David Milleker, reagieren
etwa die US-Einfuhren rund viermal so stark auf eine höhere Nachfrage wie
auf einen niedrigeren Wechselkurs. Will heißen: Je stärker im
globalen Vergleich die US-Wirtschaft wächst, desto schneller legen die
eigenen Importe zu - und desto langsamer die Exporte in die langsamer
wachsenden Abnehmerländer.
Die Konsequenz wirkt bedrohlich. ,,Solange das Wachstum in Übersee nicht
höher als in den USA ist, wird es keinen nennenswerten Abbau des
US-Defizits geben", so der US-Devisenexperte der Deutschen Bank, Michael
Rosenberg .... Laut Dresdner-Ökonom Milleker dürften die US-Firmen
ihren Wechselkursvorteil vor allem nutzen, indem sie Importkonkurrenz
verdrängen (was auch den Eifer von US-Lobbies erklären könnte,
französische Kriegsverweigerer-Waren zu boykottieren). Der Dollar-Sturz
drohe ,,wie eine Deglobalisierung zu wirken", sagte Milleker ....
Spätestens wenn Europa krisenkursbedingt kein Geld mehr hat, um wie
bisher US-Waren zu kaufen, droht der fatale Dollar-Kurs auf die USA
zurückzuschlagen .... Bisher habe Bushs neuer Isolationismus vor allem
eines gebracht: mehr Unsicherheit für die weltweiten
Kapitalmärkte.
Die USA werden ihre Defizite aus vergangenen Exzess-Zeiten am Devisenmarkt
nicht wegzaubern können - so polternd die Regierung jetzt auch
auftritt
siehe auch hier
3) Nach der spekulationsblase an den aktienmärkten droht - neben der
US-leistungsbilanzdefiz(e)itbombe - die spekulationsblase an den
immobilienmärkten der falkenstaaten USA, Großbritannien und Spanien
zu platzen. Die analoge entwicklung führte Japan ende der 80er jahre in
die dauerkrise
- die marktkapitalisierung der an der Tokioter börse gehandelten
unternehmen fiel von etwa 40% der globalen börsenwerte auf unter 10% in
2002
[Nachtrag dec2007: inzwischen eingetreten in form der
"SubPrime"-Krise des US-immobilien- sowie der globalen
finanz-märkte]
[Nachtrag 23jan2008:
Die WirtschaftsWoche Online (http://www.wiwo.de) schreibt
bereits am 04dec2007:
Ein durchschnittliches Einfamilienhaus kostete in den USA im historischen
Mittel etwa drei Brutto-Jahreseinkommen eines Durchschnittsverdieners; dieser
Wert ist auf das siebenfache Gehalt gewachsen ....
Weltweit sind Papiere im Wert von 1200 Milliarden Dollar mit
Subprime-Krediten besichert. Allein darauf drohen Abschreibungen von mehr als
500 Milliarden Dollar. Hinzu kommen noch Abschreibungen auf höherwertige
Hypothekenkredite, auf Übernahmekredite und auf andere Derivate.
"Genaue Schätzungen gibt es nicht, aber ernst zu nehmende
US-Analysen zeigen, dass sich die Abschreibungen insgesamt auf
1000 Milliarden Dollar summieren könnten", sagt Eberhardt Unger,
Chefvolkswirt bei Fairesearch in Frankfurt. 1000 Milliarden Dollar - diese
Summe würde das gesamte Eigenkapital der etwa 50 größten
Banken der westlichen Welt vernichten ....
"Die faulen Papiere liegen aber keineswegs nur bei den Banken",
sagt Martin Stürner, Vorstand der PEH Wertpapier AG. "Stiftungen,
Pensionskassen, einfach alle, die regelmäßig 4,5 Prozent
ausschütten müssen, auf dem Markt aber nur 3,2 Prozent bekamen,
haben ihre Anlagen aufgepeppt."]
[Nachtrag 18oct2010:
Interview mit dem Chicagoer Starökonomen Raghuram Rajan,
" Die Sache könnte eskalieren"
in "Der Spiegel" 41/2010p86ff
Rajan zu den staatlichen immobilienfinanzierern Fredie Mac und Fannie Mae:
der erwerb von immobilien war viel einfacher zu bewerkstelligen als der
bevölkerung bessere bildung und bessere aufstiegschancen zu geben
- die bürger achteten nicht mehr darauf, dass ihre einkommen nicht
gestiegen waren - war doch ihr immobilienbesitz wertvoller geworden.
Desweiteren schaffte der immobilienboom zB arbeitsplätze für
ungelernte arbeitskräfte]
4) Financial Times Deutschland, Montag, 08. Dezember 2003 p21, Das Kapital -
China belastet den US-Arbeitsmarkt doppelt
.... Der Clou ist, dass die Kapitalkosten unter anderem deswegen so niedrig
sind, weil China die US-Leistungsbilanz finanziert - und das auch noch mit
Zentralbankgeld, wie die seit Ende 2002 von 286 auf 401 Mrd. $ gestiegenen
Devisenreserven Chinas zeigen. Konventionelle Ökonomen würden eher
argumentieren, dass die entwickelten Länder den Schwellenländern
Kapital zur Verfügung stellen, damit diese gedeihen mögen und die
Schulden bei größer werdendem Wohlstand dereinst wieder tilgen
.... und damit tendenziell die Substitution von Arbeit durch Kapital
fördern. Wegen der Verflechtung der Finanzmärkte gilt das
prinzipiell auch für Europa ....
5) The Economist Jan 22nd 2009 - A special report on the future of finance.
Article "Fixing finance"
.... Some people question whether financial innovation is worth very much
these days. Willem Buiter, of the London School of Economics, thinks a
stripped-down sort of finance could do most of what a modern economy needs.
In a remarkable lecture given in 1984, near the beginning of the boom,
James Tobin, a Nobel laureate (and Mr Buiter's former teacher), puts the case.
His conclusion is worth quoting:
I [suspect] we are throwing more and more of our resources, including the
cream of our youth, into financial activities remote from the production
of goods and services, into activities that generate high private rewards
disproportionate to their social productivity. I suspect that the immense
power of the computer is being harnessed to this `paper economy', not to do
the same transactions more economically but to balloon the quantity and
variety of financial exchanges ... I fear that, as Keynes saw even in his day,
the advantages of the liquidity and negotiability of financial instruments
come at the cost of facilitating nth-degree speculation which is short-sighted
and inefficient.
....
In the end the argument for embracing innovation is conceptual rather than
empirical. As a rule, innovation is a source of wealth. It would be odd if
financial services were an exception. Arguments in other fields that there is
nothing left to discover have usually proved false. You can imagine how
computer technology might lead to further financial innovation, even if it
also sometimes creates instability. In addition, Mr Lerner believes that
financial services need to be adapted to the economy of which they form part,
and the economy is always changing. Foreign-exchange derivatives came into
their own, for example, when exchange rates floated after 1971.
And even if you admire stripped-down finance, regulators cannot hold the line
for ever. Ultimately, they are likely to lose ground to financiers who will
use arbitrage to work their way around the best-laid defences. Hard as it is
to acknowledge at the moment, in the teeth of a recession, the judgment of
Clément Juglar, a 19th-century French business-cycle theorist, has
the ring of truth:
"The richness of nations can be measured by the violence of the crises
which they experience ..."
Looking back from the pit of recession, it is difficult to recall how the
investment banks' pre-eminence and the hedge-funds' wealth could ever have
seemed to be the natural order. A time will come when today's fear is equally
hard to fathom. Greedy once again, people will wonder why they did not buy
shares at that price, why they did not realise corporate bonds were a steal
and why they did not foresee a bout of inflation or a weak dollar
[What might come concerning the dollar hat US-Notenbankchef Bernanke bereits
am 21nov2002 beschrieben, siehe den letzten absatz des abschnittes
"Curing Deflation" in seiner Rede
"Deflation: Making Sure `It' Doesn't Happen Here", wiedergegeben
in http://www.federalreserve.gov/boarddocs/speeches/2002/20021121/default.htm
im Original. Ein Bericht über diese Rede auf Deutsch ist zu finden unter
http://www.heise.de/tp/r4/artikel/29/29399/1.html]
.
Such shifts in perception are the result not of madness or criminality, but of
individually rational responses to what Keynes saw as the inherent uncertainty
in financial markets. Finance feeds on trust and mistrust, and amplifies
whichever is ascendant. That is what makes financial markets dangerous.
Just now that probably seems like a reason to tie finance down. And indeed it
could be better regulated, as the crisis has shown. But a thoroughgoing effort
to tame finance would be futile and could come at a high cost. Frederic
Mishkin, a former Fed governor, once called finance "the brain of the
economy".
The image conjures up power and importance, but it also evokes complexity and
fragility. Finance is a remarkable creation. Do not suppress it, but use it
wisely
6) (Hintergrund: Spekulation der Finanzmärkte gegen Euro und Griechenland
im Februar 2010)
" Fakt bleibt jedoch, dass die USA insgesamt in einer ungleich
schwächeren finanziellen Position sind als der Euro-Raum.
Soeben hat das BEA die nationale US-Nettoersparnis für das dritte Quartal
auf minus 3.2 Prozent des Bruttonationaleinkommens revidiert.
Im vierten Quartal war die reale inländische Endnachfrage noch
schwächer als zunächst geschätzt; sie liegt um
mehr als ein Zehntel unter ihrem exponentiellen Trend. Die Sparquote der
Verbraucher wurde von 4.6 auf 4.1 Prozent im vierten Quartal revidiert, obwohl
die Konsumausgaben niedriger waren als ursprünglich vermutet. Das
weitgehend deindustrialisierte Land, dessen nichtfinanzielle Sektoren Schulden
von 243 Prozent des BIPs angehäuft haben, ist also nicht mal mehr in der
Lage, den Kapitalstock aus eigener Kraft zu erhalten. Pleite."
(Das Kapital - Hollywood und nichts dahinter - Nicht Griechenland, sondern
Amerika; Artikel in der Financial Times Deutschland vom 01mar2010 p15)
Und drei Jahre darauf:
Die Malik-Kolumne:
Lasst falsche Theorien sterben und nicht Unternehmen
www.manager-magazin.de (Dezember 2002)
Diese Wirtschaftskrise ist wie keine andere zuvor eine Krise des Managements.
Sie hat ihre Ursachen in falschen Theorien über Unternehmensführung,
die aus falschen ökonomischen Theorien abgeleitet wurden. Aber statt
Fehler auszumerzen, versuchen die Verantwortlichen, den Teufel mit dem
Beelzebub auszutreiben
Ihre Anwendung ist begrenzt auf einige - zum Glück längst
nicht alle -
Großkonzerne und auf die Finanzwirtschaft. Im Großteil der
Wirtschaft, nämlich jenen zwei Dritteln, die unabhängig von
Rechtsform und Größe
unternehmerisch und realwirtschaftlich geführt werden, gab es zwar
Lippenbekenntnisse, aber diese Irrlehren wurden nie angewendet.
Ihre schädlichen Wirkungen müssen allerdings von allen
mitgebüßt werden.
Wir sollten, wie der Philosoph Karl Popper es empfohlen hat, die falschen
Theorien ausrotten, statt unsere Unternehmen von primitivem
Wirtschaftsdarwinismus in den Ruin führen zu lassen.
Der nachweislich falsch verstandene, dafür umso vollmundiger als "Neo"
bezeichnete Liberalismus ist schneller am Ende, als ich es in einem meiner
Bücher 1997 vorhersagte und schneller als je ein anderes Ordnungsmodell.
Die aus ihm durch falsche Logik abgeleitete Karikatur der
Unternehmensführung ist tot.
Die Ruinen werden aber noch lange sichtbar sein. Es ist
tragikomisch und rührend zugleich, mit welchem verbalen Heroismus nun
versucht wird, den Kadaver vor der Verwesung zu schützen. Die dabei zum
Vorschein kommenden Denkweisen sind grotesk.
Das System ist gut, nur die Menschen sind schlecht.
Erstens, so hört man, habe nicht das System versagt, sondern die Moral.
Das System sei gut, nur einige Menschen seien schlecht. Wer alt genug
ist oder die Geschichte kennt, wird hier das Kernargument der
unverbesserlichen Marxismusverteidiger wieder erkennen: Das System ist
gut, man muss nur die Menschen verändern.
Die Frage muss aber sein, was ein System wert ist, wenn es Leute,
denen es so deutlich an Moral mangelt, in so kurzer Zeit in so großer Zahl
in so hohe Positionen bringt und sie dort so lange wirtschaften lässt,
bis so große Schäden angerichtet sind.
Dass Moral wichtig ist und dass es dafür Regeln braucht,
haben die großen
liberalen Ökonomen immer behauptet. Die Forderung nach den richtigen
Regeln haben die Deregulierer aber verächtlich beiseite geschoben.
Es ist bemerkenswert, dass Neoliberale jetzt altmarxistische Denkgirlanden
bemühen, um ihre pseudointellektuellen Besitzstände zu bewahren,
statt aus den Fehlern zu lernen, wie es sich für Liberale gehören
würde.
Zweitens wird gesagt, man dürfe nicht vom Einzelfall auf das System
schließen, dies sei ein induktiver Kurzschluss.
Nun dürfen wir zwar vom Einzelfall des
versagenden Managers nicht auf alle Manager schließen, das ist richtig
und niemand - außer einigen Demagogen - hat es getan.
Der andere Schluss hingegen, vom versagenden Einzelfall der
Unternehmensführung zurück auf das System ist erstens nicht
induktiv und zweitens ist es die entscheidende Schlussweise,
durch die die Wissenschaft vorankommt: Es ist die falsifizierende
Beobachtung, die die Theorie zu Fall bringt. Auch das kann man
von Karl Popper lernen.
Abgesehen davon geht es längst nicht mehr um Einzelfälle. Praktisch
sämtliche, nach Shareholder-Prinzip geführten Unternehmen
sind in Schwierigkeiten, während es die anderen nicht sind. Die
jüngst an renommierter Stelle beklagten "strategischen
Fehlentscheidungen" und "unternehmerisches Versagen" haben
ihre Wurzeln exakt darin.
Den Teufel mit dem Beelzebub austreiben
Die dritte Groteske ist der Salto Mortale vom Regen in die Traufe,
vom Shareholder-Ansatz zum Stakeholder-Ansatz. Die Ironie der
Geschichte will es, dass jetzt - nicht durch Nachdenken, sondern
unter dem Druck aktueller Ereignisse - viele der bisher dogmatischen
Verfechter der Shareholder-Theorie - einsehend, dass ihre Lehre
zu kurz greift - mit staatsmännischer Manier zur großen "Reform"
schreiten. Sie besteht darin, dass sie zur Stakeholder-Theorie
mutieren - nicht sehend und offenbar nicht wissend, dass es exakt
das praktische Versagen des Stakeholder-Ansatzes war, das dem
Shareholder Value seine Plausibilität verschaffte.
Der Stakeholder-Ansatz wurde 1952 von Ralph Cordiner, dem damaligen
Chef von General Electric, als Antwort auf die Frage entwickelt,
wem gegenüber das Management verantwortlich sei. Die Frage war
richtig, die Antwort war es nicht. Sie hat zu den Corporate-Raidern
der achtziger Jahre geführt und von dort zum nun ebenfalls scheiternden
Shareholder-Ansatz. Deutlicher wollte man noch nie den Teufel mit
dem Beelzebub austreiben.
Zur Person: Fredmund Malik gilt als einer der international
renommiertesten Management-Consultants und -Lehrer. An der
Elite-Uni St. Gallen lehrt der Professor seit 1978 Betriebswirtschaft
mit Schwerpunkt Unternehmensführung, seit 1984 leitet er außerdem
das Management Zentrum St. Gallen. Malik berät zahlreiche Unternehmen in
Fragen des General-Management, der Strategie und der Personalentwickung.
www.manager-magazin.de (Dezember 2002)
Choose again
Profits without honour
- Shareholder value has produced distortions reminiscent of Soviet planning
....
When Soviet production units, or the economy as a whole, fell seriously short
of the plan, managers and their advisers responded by making the numbers up. It
is a wry paradox that today's failures of capitalism so closely resemble
yesterday's failures of socialism.
....
How could companies operating in a competive market have continually increased
profits more rapidly than the growth of their underlying business? .... The
profit of established companies should grow more slowly than the world enonomy,
because new businesses are constantly taking share from them .... and the
business environment is becoming more competitive, not less.
Analysts at investment banks struggled to square this circle: they explained
how the genius of men such as Ken Lay of Enron and Bernie Ebbers of WorldCom
had changed the rules of the competitive game. Stalin's statisticians similarly
recorded and applauded the heroic endeavours of individual Soviet workers ....
They produced a rich tapestry of imaginary feats and bogus figures, like the
shareholder value movement 50 years later.
In the capitalist fantasy, companies achieved impossible earnings growth by
cutting the fat from their businesses. Only gradually will it emerge how much
muscle they cut at the same time. ....
Well established businesses, with strong competitive advantages, can use such
tactics to take short-term profits at the expense of future growth. Newer
companies without the opportunity have instead employed legitimate accounting
wheezes .... But these devices require rising stock markets .... In this more
hostile environment companies such as Enron and WorldCom were forced to the
conclusion that the only way to produce the numbers the markets required was to
invent them.
The danger now is of imploding corporations that disguise the continual erosion
of their core business by consolidation and acquisition ....
Great businesses - such as Merck, Procter & Gamble, Shell and Marks and Spencer
- were not built in the three-to-five-year time scale of a so-called long-term
incentive scheme for managers. The massive shareholder value they generated
was a by-product of their competitive strengths, not the object of the
business itself, and for that reason was sustainable for long enough to provide
our pensions.
Henry Ford - no mean creator of shareholder value - wrote that a business run
only for profit would die because it had no long-term reason to exist. He might
have been talking about Enron and WorldCom.
[Umso mehr muss dies zutreffen für all die hedge-fonds und sonstigen
"Heuschrecken" der finanzwelt. Ein besonders anschlauliches beispiel
der geschäftspraktiken dieser lediglich am Profit interessierten
marktteilnehmer zeigt der fall des Stuttgarter familienunternehmens und
technologiekonzerns M+W Zander (tochter von JenOptik)
in den Jahren 2006 und 2007.
Verkauft an Springwater Capital, Genf (Martin Gruschka).
Dann an den hedge-fonds Absolute Capital Managment - ACM (Florian Homm), dann
an die beteiligungsgesellschaft Victory (Ronny Pecik und Georg Stumpf).
Siehe Financial Times Deutschland 04dec2007p29 "Schrecken ohne Ende"
]
[ Anmerkung von men-kau-ra:
Short Squeeze - Die Wirtschaft schlägt zurück ?
Im Oktober 2008, mitten in der SubprimeKrise, steigen die Aktien der
Volkswagen AG (VW) sprunghaft von etwa 200 auf kurzzeitig bis zu 1005 Euro,
machen den Konzern damit zum teuersten Unternehmen der Welt.
Dabei schätzen Analysten den realen Wert der Aktie auf 80 bis 150
Euro.
Porsche hatte Monate zuvor angekündigt, eine maßgebliche Beteiligung
an VW anzustreben und begonnen, Aktien zu erwerben. Im Oktober 2008 gibt
Porsche bekannt, 42.6 Prozent der VW-Stammaktien zu halten, und
zusätzlich über Banken Zugriff auf weitere 31.5 Prozent an
"cash-settled Options" zu halten, insgesamt also 74.1 Prozent.
Weitere 20.2 Prozent der VW-Aktien werden vom Land Niedersachsen gehalten.
Mithin bleiben lediglich 5.7 Prozent der VW-Aktien auf dem Markt
(Streubesitz).
Da HedgeFonds auf fallende Kurse der VW-Aktie gesetzt hatten, sind
gleichzeitig schätzungsweise 15 Prozent der Stammaktien an
Leerverkäufer verliehen. Dies führt zu einer starken Nachfrage
und dem überhöhten Kurs.
Porsche kündigt am 29oct2008 an, je nach Marktlage VW-Stammaktien
in Höhe von bis zu fünf Prozent aus der Auflösung besagter
Kurssicherungsgeschäfte auf den Markt zu bringen um weitere Turbulenzen
des VW-Kurses zu verhindern.
Bei einem sich im Nachgange der Turbulenzen auf etwa 400 Euro einpendelnden
Kurs entsprechen 5 Prozent der Aktien einem Sechstel der über die Banken
für, wie zu hören war, je 100 Euro gesicherten Stammaktien.
Damit finanziert sich der Kauf des Konzernanteiles von 31.5 Prozent nahezu
selbst, da der Verkauf dieser 5 Prozent Aktien den Bankenpreis von 15 der
verbleibenden 26.5 Prozent einbringt. Porsche, bereits zuvor als Gegner
kurzfristigen "Quartalsdenkens" in Erscheinung getreten, hat damit
die Hedgefonds auf ihrem eigenen Terrain geschlagen
]
John Kay in The Financial Times Europe, June 29 / June 30 2002
Choose again
Von spekulativen Investitionen und Ponzi-Finanzierung
Hyman P. Minsky - Instabilität und Kapitalismus
diaphenes, Zürich 2011, 2. Auflage
Enthält die Essays
- Die Hypothese der finanziellen Instabilität: Kapitalistische Prozesse
und das Verhalten der Wirtschaft - ab Seite 21
(The Financial Instability Hypothesis: Capitalist Processes and the
Behaviour of the Economy, aus: C.P. Kindleberger / J.-P. Laffargue (eds.),
Financial Crises. Theory, History and Policy, 1982. © Maison des
Sciences de l'Homme and Cambridge University Press)
- Finanzielle Instabilität: Die Ökonomie der Katastrophe
- ab Seite 67
(Financial Instability Revisited: The Economics of Desaster, 1970, aus:
Hyman P. Minsky, Can “It” Happen Again?, Essays on Instability
and Finance (Armonk, NY: M.E. Sharpe, 1982)
Note: Folgend der Erkenntnis “Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod”
sind hier Dativ-Konstruktionen - ohne eigens kenntlich gemacht zu
sein - bisweilen durch den zugehörigen Genitiv ersetzt
Zinserhöhungen beeinflussen jedoch die Zahlungsverpflichtungen und
können daher in Einheiten mit spekulativer oder Ponzi-Finanzierung einen
positiven Barwert in einen negativen verwandeln. Einheiten mit spekulativer
oder Ponzi-Finanzierung müssen Schulden aufnehmen, um ihren
Zahlungsverpflichtungen nachkommen zu können. (45)
[Note Menkaura: Ponzi scheme in etwa “Ponzi Trick”;
in den USA synomym mit “Schneeballsystem” und
“Pyramidenspiel”.
Nach Charles Ponzi (geboren 03mar1882 in Parma, Italien als
Carlo Pietro Giovanni Guglielmo Tebaldo Ponzi;
gestorben 18jan1949 in Rio de Janeiro, Brasilien), einer der
größten Schwindler und Betrüger der amerikanischen Geschichte,
mit Schneeballsystem]
Banken und andere Finanzinstitute handeln mit Schulden. Sie verkaufen ihre
Schulden an die Besitzer von Vermögenswerten und finanzieren diverse
wirtschaftliche Aktivitäten. Ungenutztes Geld oder Überschussreserven in
den Portfolios sind ein potentielles Rohmaterial für ihre
Kreditgewährung. Indem sie zur Finanzierung der Erhaltung von
Assetbeständen und laufenden Investitionen kurzfristige Verbindlichkeiten
durch langfristige ersetzen, entsteht ein Markt für ihre Darlehen. Deshalb
haben Banken und andere Finanzinstitute den Antrieb, zu spekulativer oder
Ponzi-Finanzierung zu verleiten.
Stabilität wirkt destabilisierend, aber zunächst nicht auf den
Rückgang, sondern auf die Ausweitung des Investitionsaufkommens. Da die
heutige Finanzstruktur durch das frühere Verhalten der Wirtschaft
determiniert ist, wird sie gerade dann anfälliger für eine Krise,
wenn Banken und Unternehmen aufgrund des Erfolgs bei der Erfüllung der
finanziellen Verpflichtungen den Schutz gegen eine Finanzkrise verringern zu
können glauben. (46)
Die Verschiebung eines Finanzsystems von einer für Finanzkrisen nicht
anfälligen in eine dafür anfällige Struktur hat zwei
charakteristische Merkmale: zum einen das zunehmende Gewicht spekulativer
Finanzierung und zum anderen die größere Abhängigkeit von
Banken, Finanzinstituten und normalen Unternehmen von ihrer Fähigkeit,
Positionen eher durch den Verkauf von Verbindlichkeiten zu schaffen als mittels
Geld oder flüssigen und garantierten Vermögenswerten. (56)
Die Finanzierungsmodalitäten eines Investitionsprojekts weisen ziemlich
genau die Merkmale auf, die wir als Ponzi-Finanzierung bezeichnet haben. In der
Bauphase übersteigen die Zahlungsverpflichtungen die aus dem Projekt
erwirtschafteten Einnahmen. Am Ende der Bauphase werden dann vom Auftraggeber
Pauschalsummen gezahlt, welche die vom Bauunternehmer in der Bauzeit
geleisteten Zahlungen voraussichtlich decken. Die Finanzierungsmodalitäten
in der amerikanischen Baubranche, in der klar zwischen Baufinanzierung und
langfristiger Immobilienfinanzierung nach Bauabschluss unterschieden wird,
gleichen den Modalitäten, die als Ponzi-Finanzierung bezeichnet wurden.
Die Cashflow-Beziehungen im Gange befindlicher Investitionen machen die
Ponzi-Finanzierung zu einem grundlegenden, nicht peripheren Charakteristikum
der Finanzstruktur des Kapitalismus. Die Kosten für die erzeugte
Investitionsgüterproduktion, die als Kapitalvermögenswert durch den
Verkaufspreis des Investitionsguts wieder eingebracht werden müssen,
stehen in positiver Relation zum Zinssatz für kurzfristige Anleihen,
obwohl der Marktpreis des Kapitalvermögenswerts in negativer Relation zum
Zinssatz für langfristige Anleihen steht. Wenn die Finanzierung von
Investitionsgütern unserem Modell der Ponzi-Finanzierung ähnelt, wenn
ein Investitionsboom zu einem Anstieg sowohl der kurzfristigen als auch der
langfristigen Zinssätze führt und wenn ein solcher Investitionsboom
innerhalb einer durch spekulative und Ponzi-Finanzierung stark belasteten
Finanzstruktur stattfindet, dann ist der obere Wendepunkt vollständig endogen.
Unter diesen Umständen bewirkt ein Zinsanstieg ein Umkippen des Barwerts;
der positive Barwert einiger Ponzi-finanzierter im Gange befindlicher
Investitionen wird negativ. Änliches erfahren dann auch manche
Wirtschaftseinheiten, die zwar spekulativ finanziert sind, aber keine
Investitionen finanzieren. Darüber hinaus führt der Anstieg der
Zinssätze zu einer Wertminderung abgesichert finanzierter Unternehmen;
dadurch verringern sich die Sicherheitsspielräume und die
Kreditwürdigkeit sinkt. Des Weiteren erfolgt eine Verschlechterung
bestimmter Finanzierungsbedingungen im Vergleich zu den in der Zeitreihe
typischerweise aufgeführten Zinssätzen.
Der Anstieg der Kosten eines Investitionsprojekts über den antizipierten
Wert der fertiggestellten Kapitalanlage hinaus führt zu einem
Rückgang neuer Investitionsunternehmungen und verhindert, dass im Gange
befindliche Investitionsprojekte das Geld erhalten, das sie brauchen, um
abgeschlossen zu werden. Da Wirtschaftseinheiten mit spekulativer oder
Ponzi-Finanzierung ihre Positionen nicht refinanzieren können,
unterschreiten die Geldeingänge bei Banken und anderen Finanzinstituten
die vertraglich vereinbarten Nettosummen. Diese Einheiten müssen sich dann
Geld beschaffen, indem sie neue Schulden aufnehmen oder Vermögenswerte
verkaufen. Mittlerweile versuchen sich die Einheiten mit
Refinanzierungsschwierigkeiten über Wasser zu halten, indem sie
Vermögenswerte verkaufen. In der Folge sinken die Preise der
Vermögenswerte, mittels derer versucht wird, Positionen zu schaffen, und
die Bedingungen, zu denen der Markt Verbindlichkeiten anbietet, verschlechtern
sich.
Das ausblutende Finanzsystem und die Barmittelknappheit führen zu einer
Verringerung der Investitionstätigkeit, wodurch die Profite sinken. Die
realisierten Quasi-Renten unterschreiten die erwarteten. Der Rückgang der
Gewinne mindert den Barwert der Unternehmen zusätzlich. Einheiten mit
konservativer, abgesicherter Finanzierung geraten in die Verlegenheit,
plötzlich spekulativ finanziert zu sein.
Der obere Wendepunkt ist ab dem Moment vollständig endogen, in dem
akzeptiert wird, dass während eines Investitionsbooms die Zinsen steigen
und das profitable Funktionieren der Wirtschaft nach Gewinn strebende Banken
und deren Kunden dazu anregt, sich auf spekulative
Finanzierungsmodalitäteten einzulassen und die Haltung von Geld und
geschützten Finanzanlagen einzuschränken. Um zu verhindern, dass
wärend eines Investitionsbooms die Zinsen steigen, muss das Finanzangebot
unbegrenzt elastisch sein, was bedeutet, dass es entweder zu einer Flut von
Finanzinnovationen kommt (Minsky 1957a) oder dass die Zentralbank Reserven in
unbegrenzter Höhe zur Verfügung stellt. Das aber wiederum bedeutet,
dass Investitionen einen ständig wachsenden Anteil an der Produktion
darstellen und eine zunehmende Inflation tolerierbar ist (Minsky 1957b).
Endogene Marktprozesse führen zu beginnenden Finanzkrisen und zu einem
oberen Wendepunkt, doch das Ausmaß der jeweiligen Krise und das Einsetzen
einer Schuldendeflation hängen davon ab, wie rasch und geschickt die
Zentralbank als Kreditgeber letzter Instanz interveniert und ob die
Staatsdefizite die Profite stabilisieren oder nicht. (57ff)
Das passive Management von Verbindlichkeitsstrukturen, durch das sich ein
hochliquides, vorwiegend abgesichert finanziertes Finanzsystem auszeichnet, ist
ein vorübergehender Zustand, der entweder auf eine schwere, anhaltende
Depression nach einer Schuldendeflation oder auf einen starken Anstieg der
Staatsverschuldung aufgrund eines großen Krieges folgt. Aktives
Verbindlichkeitsmanagement bedeutet, dass ein moderates Defizit an operativem
Cashflow oder andere Gründe für eine Verminderung der Quasi-Renten
die Notwendigkeit mit sich bringen, Barkapital durch Aktivitäten in
positionenschaffenden Instrumenten zu beschaffen. (60)
Die wichtigste Aufgabe der Zentralbank als Kreditgeber letzter Instanz
besteht darin, eine ausreichende Höhe der Assetwerte sicherzustellen,
damit Insolvenzen ein lokales Phänomen bleiben und nicht zum
Allgemeinzustand werden. Die Funktion des Kreditgebers letzter Instanz zielt
insbesondere darauf, zu verhindern, dass es zu einem allgemeinen Verfall der
Kapitalanlagewerte kommt, wenn diese Werte von Einheiten, die Geld für die
Schaffung von Positionen brauchen, zum Kauf angeboten werden.
Je größer der Anteil spekulativer und Ponzi-Finanzierung an
der Struktur der Finanzbeziehungen, umso wichtiger die Funktion des
Kreditgebers letzter Instanz. (63)
Kurz gesagt führt die innere Dynamik eines kapitalistischen
Wirtschaftssystems zu Finanzstrukturen, die einer Finanzkrise und
Einkommensinstabilität förderlich sind. Der Kreditgeber letzter
Instanz muss verhindern, dass die Schwierigkeiten einiger Institute bei der
Schaffung von Positionen ein allgemeines Absinken der Assetwerte nach sich
ziehen, und den Aufschwung aus einer Rezession ermöglichen, indem er die
Neustrukturierung der Schulden so begünstigt und unterstützt, dass
der Anteil spekulativer und Ponzi-Finanzierung innerhalb des Systems
kleiner wird.
Die Hypothese der finanziellen Instabilität ist eine ökonomische
Theorie, die den Nachdruck auf die spezifisch kapitalistischen
Finanzbeziehungen legt. Als solche ist sie eine Alternative zur derzeit
etablierten Theorie, in der versucht wird, Erkenntnisse über
kapitalistische Volkswirtschaften anhand von Theorien zu gewinnen, die die
kapitalistischen Aspekte der Wirtschaft ignorieren.
.... Die Hypothese der finanziellen Instabilität führt zu der
Auffassung, dass die Geldpreise die grundlegende Funktionsweise der Wirtschaft
widerspiegeln und nicht an bereits festgelegte Preise gebunden sind. (65)
Zur Chronologie wirtschaftlicher Depressionen vgl. M. Friedman und
A.J. Schwartz: “ Money and Business Cycles”.
Gemäß dieser Chronologie
standen alle eindeutig schweren wirtschaftlichen Depressionen im Zusammenhang
mit einer Finanzkrise, alle eindeutig schwachen Depressionen hingegen nicht.
Friedman und Schwartz haben es vorgezogen, dieses Phänomen zu ignorieren
und stattdessen eine monolithische Erklärung für die Depressionen von
1929-1933 und 1960-1961 vorzubringen. .... (67 Fn1)
[Note Menkaura: s.a. Carmen M. Reinhart / Kenneth Rogoff, “ This Time is
Different, A Panoramic View of Eight Centuries of Financial Crises” ,
16apr2008 www.nber.org/papers/w13882]
Verschiebungen mögen nun das Ergebnis von Systemverhalten oder
menschlichen Versagens sein: Sobald die starke finanzielle Reaktion aufgetreten
ist, treten die institutionellen Unzulänglichkeiten klar zutage. Nach
einer Krise wird es also - indem man die auslösenden Ereignisse oder
institutionellen Schwächen hervorhebt - stets möglich sein, plausible
Argumente dafür zu konstruieren, dass Pannen, Fehler oder leicht zu
korrigierende Mängel für die Katastrophe verantwortlich waren.
(hierzu Fußnote 3: Ein recht erstaunliches Beispiel für eine solche
Argumentation findet sich in M. Friedman und A.J. Schwartz: A Monetary History
of the United States 1867-1960, S. 309 u. S. 310 Fn 9) (68)
Dabei stellt sich heraus, dass die fundamentale Instabilität einer
kapitalistischen Ökonomie in einer Explosionstendenz besteht - also darin,
in einen Boom oder einen “ euphorischen” Zustand einzutreten.
(70)
Eine euphorische neue Phase bedeutet, dass ein Investitionsboom mit um sich
greifenden liquiditätsabsenkenden Portfolio-Umschichtungen einhergeht. Die
Geldmarktzinsen steigen, weil die Nachfrage nach Investitionen steigt, und die
Elastizität dieser Nachfrage sinkt hinsichtlich der Marktzinsen und
Vertragsbedingungen. In einem komplexen Finanzsystem ist es möglich,
Investitionen durch Portfolio-Umschichtungen zu finanzieren. Wenn es zu einer
euphorischen Erwartungsänderung kommt, kann deshalb der Umfang an
finanzierten Investitionen kurzfristig von der Geldpolitik unabhängig
sein. Der Wunsch, zu expandieren und die Bereitschaft, Expansion durch
Portfolio-Umschichtungen zu finanzieren, kann so groß sein, dass eine
inflatorische Explosion wahrscheinlich wird, sofern es keine
Rückkopplungen mit ernsthaften Begleiterscheinungen gibt.
Jede euphorische Boom-Wirtschaft steht unter dem Einfluss des finanziellen
Erbes einer vorausgehenden Phase größerer Ungewissheit. Die Welt
entsteht niemals komplett neu. Portfolio-Entscheidungen der Vergangenheit und
die Bedingungen auf den Finanzmärkten sind fester Bestandteil des
Repertoires an Finanzinstrumenten. Im Besonderen werden Assets, die
Absicherungen gegen äußere Umstände enthalten, deren Eintreten
nun für unwahrscheinlich gehalten wird, an Marktwert verlieren, oder aber
es müssen höhere Zinsen gezahlt werden, um Portfolios zu veranlassen,
neugeschaffene Assets mit diesen Eigenschaften zu halten. (77f)
Der Finanzierungsbedarf eines Investitionsbooms lässt die Zinsen steigen.
Dies wiederum senkt den Marktwert langfristiger Schulden und
beeinträchtigt einige Finanzinstitute. Höhere Zinsen erhöhen
auch die Kosten des Kapitals, das verwendet wird, um in Aktien zu investieren.
Anfangs begünstigt der Wettbewerb um Finanzmittel zwischen verschiedenen
Finanzsektoren die schnelle Expansion der Wirtschaft; wenn dann allerdings die
Zinsen zu steigen beginnen, begrenzt er die Profite der Investoren und
verteuert das Halten von Aktien. Hieraus folgt, dass sich die Wachstumsrate der
Aktienkurse zunächst verringert und dass schließlich die Aktienkurse
fallen. (79)
Die einschlägigen Aspekte einer euphorischen Periode können wie folgt
beschrieben werden:
1. Die Geldknappheit der euphorischen Periode ist eher eine Folge der
außer Kontrolle geratenen Nachfrage als von
Angebotsbeschränkungen. Es wäre somit irreführend, beim
Einschätzen der Geldmarktsituation die Geldversorgung
überzubetonen.
2. Der Anstieg kurz- und langfristiger Zinsen setzt die Intermediäre von
Spareinlagen unter Druck und wirkt störend auf Industrien, die sich
über diese Intermediäre finanzieren.
3. Ein wesentlicher Aspekt einer euphorischen Ökonomie besteht in der
Konstruktion von Verbindlichkeitsstrukturen, die Zahlungen nach sich ziehen,
die direkt oder indirekt, d.h. qua Rückversicherungen, eng an Cashflows
gebunden sind, die auf erzielte Erträge zurückgehen. Wenn der Effekt
der Störung von Finanzierungswegen auftritt, nachdem Finanzlagen bereits
signifikant angespannt sind, wird ein weiterer depressiver Faktor wirksam.
(80)
Ein Unternehmen kann Schatzwechsel oder andere Geldmarktinstrumente in Reserve
halten, um außergewöhnlichen Liquiditätsbedarf erfüllen
oder einen unerwarteten Einnahmeausfall ausgleichen zu können. Ungenutzte
Bargeldbestände erfüllen diesen Zweck für alle Einheiten.
Bargeld hat den besonderen Vorzug, dass seine Verfügbarkeit nicht vom
normalen Funktionieren irgendeines Marktes abhängt. (84)
Finanzielle Instabilität entsteht immer dann, wenn eine große Zahl
von Wirtschaftseinheiten auf außergewönliche Bargeldquellen
zurückgreift. Die Bedingungen, unter denen außergewönliche
Bargeldquellen angezapft werden müssen - die für Finanzunternehmen
hauptsächlich die Bedingungen bedeuten, unter denen Positionen liquidiert
(abgewickelt oder verkauft) werden müssen -, sind gerade die Bedingungen,
die finanzielle Instabilität auslösen können.
Die Angemessenheit des Cashflows aus den Einnahmen im Verhältnis zu den
Schulden, die Angemessenheit der Refinanzierungsmöglichkeiten relativ zur
Position und das Verhältnis ungeschützter zu geschützten
finanziellen Vermögenswerten sind Determinanten der Stabilität des
Finanzsystems.
Der Trend oder die Entwicklung der Wahrscheinlichkeit finanzieller
Instabilität hängt vom Trend oder der Entwicklung der Determinanten
finanzieller Stabilität ab. (86f)
Der wesentliche Unterschied zwischen der keynesianischen und der klassischen
sowie neoklassischen Ökonomie ist die Bedeutung, die der Ungewissheit
zugemessen wird. Grundlegende Thesen der klassischen und neoklassischen
Ökonomie abstrahieren von Ungewissheit; sie wird einzig in einigen
kleineren Modifikationen der Behauptungen der Theorie berücksichtigt.
(87)
Man hat die Stagnation, die auf eine schwere wirtschaftliche Depression folgt,
durch sehr niedrige Erträge - also hohe Preise - ausfallsicherer
Assets charakterisiert.
Eine Interpretation der Liquiditätsfalle besagt,
dass sie Ausdruck der Unfähigkeit sei, durch das weitere Absenken der
Erträge ausfallsicherer Assets eine bedeutende Differenz zwischen den
Erträgen von Sachwerten und ausfallsicherer Assets zu erreichen.
Eine gleichwertige, aber aufschlussreichere Sichtweise auf die
Liquiditätsfalle ist, dass Umstände auftreten, in denen es nicht
möglich ist, durch das Erhöhen der Geldmenge die Preise der Einheiten
im Bestand des bestehenden Kapitals zu erhöhen und auf diese Weise
Investitionen zu veranlassen. Eine expansionistische Finanzpolitik und
insbesondere Staatsausgaben erhöhen auf diese Weise die Cashflows, die
Einheiten im Bestand des Realkapitals generieren. Unter diesen Bedingungen, die
ansonsten solche einer Stagnation wären, zielt diese realisierte
Gewinnverbesserung darauf ab, den relativen Preis von Innen-Kapital zu
erhöhen, und trägt dadurch dazu bei, Investitionen auszulösen.
(96, Fußnote 27)
Da die indirekte Rendite von Geld hauptsächlich in dem Wert der impliziten
Versicherung besteht, die es enthält, mindert ein Rückgang der
Ungewissheit diese indirekte Rendite und damit auch den Anteil an Geld, der
für ein Portfolio angestrebt wird. Da alles Geld einen Besitzer haben
muss und die Banken stets bestrebt sind, seine Menge zu erhöhen, und da
der Nominalwert des Geldes nicht sinken kann, muss der Geldwert anderer Assets,
im Besonderen von Realwerten, steigen. (97)
“Knappheit” von Geld bezieht sich auf die Kosten (einschließ
der Vertragsbedingungen) für die Finanzierung durch Schulden. Anzeichen
knappen Geldes sind hohe und steigende Zinsen sowie restriktivere
Vertragsbedingungen. Knappheit hat nicht direkt etwas mit der Veränderung
der Geldmenge oder der Geldbasis oder womit auch immer zu tun. Nur insoweit
diese Geldmengenphänomene Vertragsbedingungen berühren, beeinflussen
sie auch die Geldknappheit. (107 Fußnote 33)
Hier soll behauptet werden, dass der Stabilitätsbereich des Finanzsystems
hauptsächlich ein endogenes Phänomen ist, das von
Verbindlichkeitsstrukturen und institutionellen Vorkehrungen abhängt. Die
exogenen Elemente in der Bestimmung des Bereichs finanzieller Stabilität
sind staatliche Maßnahmen und Maßnahmen der Zentralbank: Nach der
Jahresmitte 1966 ist deutlich geworden, dass das exogene Instrument der
Einlagensicherung ein kraftvolles Mittel gegen Ereignisse ist, die das
Potential haben, eine Finanzkrise hervorzurufen. (117)
Der Stabilitätsbereich des Finanzsystems ist umso kleiner, je enger die
Zusammenhänge von Zahlungen sind, je geringer die Bedeutung
geschützter Assets ist und je größer das Ausmaß ist, in
dem Assetpreise Wachstumserwartungen und realisierte vergangene
Wertsteigerungen abbilden. Die Entwicklung dieser Eigenschaften der
Finanzstruktur im Laufe der Zeit beeinflusst die Größe des
Stabilitätsbereichs des Finanzsystems. Eine Hypothese hierzu lautet, dass
der Stabilitätsbereich des Finanzsystems kleiner wird, wenn die private
Nachfrage die Vollbeschäftigung aufrecht erhält.
Zusätzlich zur Wirkung der Vollbeschäftigung wird eine euphorische
Wirtschaft mit ihrer Nachfrageinduzierten Geldknappheit von einem schnellen
Ansteigen der Verflechtungen von Finanzobligationen begleitet sein, woraus
ebenfalls die Tendenz folgt, dass sich der Stabilitätsbereich verkleinert.
(118)
Minsky 1957a: Central Banking and Money Market Changes,
Quarterly Journal of Economics, Mai 1957
Minsky 1957b: Monetary Systems and Accelerated Models,
American Economic Review 57
Choose again
Reicht die Hierarchie bis unter die (Netz-)Haut?
Arbeit und soziale Inklusion - Richard Sennett
...
Vielleicht sieht es so aus, dass die flexible Bürokratie einfach eine
Rückkehr zu den Instabilitäten eines früheren,
anarchischen Kapitalismus Balzacscher Prägung ist, aber das ist nicht
ganz richtig. Unter den
konvulsivischen Bedingungen des Kapitalismus im 19. Jahrhundert suchten
Investoren wie J.P.Morgan oder Rockefeller nach Möglichkeiten, die
Aktivitäten der Unternehmen vorhersagbar zu machen;
Stabilität war das Ziel des Monopolkapitals.
Heute wird das Finanzkapital eher von jenen Unternehmen
angezogen, die bereit sind, sich umzustrukturieren oder sich neu zu erfinden;
Firmen, die in den Strom unvorhersehbarer Veränderungen eintauchen wie zum
beispiel Internet-Firmen, sind für Investoren viel attraktiver als stabile
Unternehmen, selbst wenn letztere viel profitabler sind - sie versprechen
nichts Neues
...
Doch flexible Bürokratien spalten ihre Befehlsfunktion von ihrer
Leitungsfunktion. Ein innerer Kern setzt Produktions- oder Profitziele, gibt
Befehle für die Reorganisation bestimmter Aktivitäten und
überlässt es dann
den isolierten Zellen oder Teams im Netzwerk, diese Direktiven - so gut wie es
jeder Gruppe gelingt - zu erfüllen.
Denen, die außerhalb des Elitecorps
stehen, wird gesagt was sie erreichen sollen, aber nicht, wie
sie es erreichen können. High-Tech-Unternehmen wie Microsoft, die auf
mental work beruhen, praktizieren diese Trennung genauso wie
Low-Tech-Industrien wie Allied Signal. Der Ökonom Bennet Harrison
charakterisiert diese Spaltung als eine Konzentration des Befehls ohne eine
Zentralisierung der Leitung
...
Andererseits unterscheidet sich die flexible Firma von Webers Modell der
militärischen Befehlskette: Wenn die Offiziere, die die Befehle geben, dann
auch auf dem Schlachtfeld bleiben, um sie auszuführen,
verdienen sie sich den tiefen Respekt ihrer kämpfenden Truppen.
Der Trend im modernen Management ist der, erst zu befehlen und dann abzureisen;
das Management opfert Autorität und Führungsqualität,
um sich selbst zu schützen. Auf der anderen Seite legen
flexible Firmen genau in ihrer Struktur wenig Wert auf kollektives
Überleben mit einer langfristigen Zeitperspektive.
Sowohl Autorität als auch Solidarität welken, wenn die Last des
Überlebens auf Individuen verlagert wird
...
[Wolf Lotter in
`brand eins' 04/2005 p50ff, Stoffwechsel:
Die Frage ist ohnehin eine andere: Was killt die alte Hierarchie?
Die meisten Menschen suchen nämlich kein neues Organisationsmodell,
sondern Dinge, die es im alten System nicht gibt: Freiheit, Respekt,
Anerkennung, eine Chance. All das fällt nicht vom Himmel.
.... Respekt ist der Feind der Beliebigkeit, also dem, was Gleichheit
wirklich meint, aber Respekt ist auch der Feind der Hierarchie, die
einfach ist, wie sie ist.
`Eine Hierarchie darf sich nicht zur Kenntlichkeit entstellen'
(Reinhard K. Sprenger). Das wäre der verhasste Machtmissbrauch.
]
Ich glaube, dass die soziale Kohäsion in der Arbeit insgesamt abnimmt,
weil die soziale Ehre, die am Status des Angestellten haftet, abnimmt. Heute
symbolisiert eher der Unternehmer als der Angestellte ehrenhafte Arbeit. In
brutalen Fakten: Es gibt weit weniger Menschen, die Unternehmer sind, als
Menschen, die Angestellte sind, und die meisten Versuche, sich
selbständig zu machen, scheitern; in den USA, wo der
self-made man zu Hause ist, gehen über neunzig Prozent der neu
eröffneten kleinen Firmen innerhalb von
drei Jahren bankrott. Die meisten von uns sind dazu bestimmt, als Angestellte
zu arbeiten, und das bedeutet, dass wir darauf angewiesen sind, von
Organisationen abhängig zu sein, und dass wir innerhalb dieser
Organisationen von Menschen mit mehr Macht abhängig sind.
Diese Realität wird mit jener
Kultur der sozialen Ehre, die den modernen Kapitalismus durchzieht, fundamental
aus den Angeln gehoben. Und aus diesem Grund glaube ich, dass die fundamentale
Aufgabe einer Sozialreform heute darin liegt,
die Würde von Männern und Frauen als Arbeitnehmer wiederherzustellen.
Richard Sennett, in `Geschichte und Zukunft der Arbeit', Jürgen Kocka u.
Claus Offe (Hrsg), Campus, Frankfurt/New York, 2000
[Armin Nassehi in
`brand eins' 04/2005 p60ff; Wollen, was wir sollen:
Die Paradoxie des Führens besteht darin, Leistungsfähigkeit
freizusetzen, ohne zu wissen, worin diese genau besteht.
.... Die rein sachliche Führung kennt nur die Gesamtlösung, sie
weiß immer schon, was wo geschehen muss. Die Führungskräfte von
heute wissen das nicht - und kompensieren ihr Nichtwissen durch
einen ästhetischen Kommunikationsstil, der auf die
Eigendynamik der jeweiligen kleinen Lösung setzen muss ....
Ein wenig ähnelt diese Umstellung des Führungsdiskurses
der Entwicklung bürgerlicher Gesellschaften seit dem 19.
Jahrhundert. Deren unglaublicher Erfolg bestand darin, dass den
Menschen weder befohlen wurde, was sie zu tun haben, noch dass sie
schlicht taten, was sie wollten. Sie hatten sich vielmehr an
Hierarchien, an Autoritäten abgearbeitet - an geistlichen
und moralischen Standards, an Besitzklassen. Was den Bürger
zum Subjekt machte, war jene Lebensform, in der man wollte, was
man sollte - das ist der Prototyp des klassischen
politisch-öffentlichen Diskurses ebenso wie der des
Unternehmertums.
.... Die Hierarchie von heute rechnet mit Menschen und
Kommunikationsformen, die die Logik des Handelns nicht aus der
Hand geben, mit Menschen, die wollen, was sie sollen. Zu wollen,
was man soll, setzt allerdings Hierarchien voraus, die das Sollen
symbolisieren, zumindest inszenieren - auch wenn sie oft genug nicht
einmal wissen, was es ist.
.... Erstaunlicherweise scheint es heute nur noch in Unternehmen und
Verwaltungen überhaupt denkbar und legitimierbar zu sein, die
notwendige Illusion einer Hierarchie zu etablieren, in der eine Idee
davon entsteht, zu wollen, was man soll. Andernorts, im öffentlichen
raum etwa, in Erziehung und Familie, in Kunst und Kultur, in
ethisch-moralischen Diskursen scheint so etwas nicht mehr möglich
zu sein.
Das als die Erfüllung der Freiheitsversprechen der westlichen
Moderne zu feiern, ist über alle Maßen naiv.
Es stellt die Welt auf den Kopf. Und sollte zu denken geben.
]
[Torsten Riecke im Handelsblatt vom 17apr2014, p60ff,
Die große Zerreißprobe
Nicht nur der Papst, auch Ökonomen warnen: Die wachsende Kluft zwischen
Reich und Arm ist die größte Gefahr für die Weltwirtschaft
- und die marktwirtschaftliche Ordnung. Wie lässt sich das Problem
lösen, ohne die Freiheit des Einzelnen einzuschränken?
Und das ist kein Problem semi-seriöser Schwellenländer, wo Eliten
schnell zu Geld kamen und diese Chancen auf Kosten der Mehrheit nutzten - der
russische Oligarch, der chinesische Bürokraten-Milliardär, der
lateinamerikanische Boss haben Gesellschaft aus den Zentren der westlichen
Marktwirtschaft bekommen: Investmentbanker, die irrwitzig reich wurden,
Manager, die sich zu Vermögenden machen, Internetgröszlig;en, die
den Hype ums Netz in Milliarden fürs eigene Depot ummünzten.
Gleichzeitig stagnieren oder sinken die Einkommen der Mittelschicht. ....
Die Technologie, Motor des menschlichen Fortschritts, könnte
.... zu einem Keil werden, der unsere Gesellschaft in wenige Gewinner und
viele Verlierer spaltet. Welche gravierenden Folgen das haben kann, hat
Ralf Dahrendorf Ende der 90er-Jahre beschrieben: " Es ist schwer zu sagen,
an welchem Punkt Ungleichheiten Solidarität in einer Gesellschaft
zerstören. Sicher aber ist, dass keine Gesellschaft es sich ungestraft
leisten kann, eine beträchtliche Zahl von Menschen
auszuschließen."
Und der weise Lord warnte: "In modernen Staatsbürgergesellschaften
bedeutet solcher Ausschluss die praktizierte Leugnung von sozialen Grundwerten.
Das heißt aber, dass eine solche Gesellschaft nicht mehr überzeugend
verlangen kann, dass ihre Mitglieder sich an die Regeln von Recht und Ordnung
halten." ....
Angesichts dieser Risiken wundert es nicht, dass der Global Risk Report des
World Economic Forums die soziale Ungleichheit bereits als das
größte Risiko der nächsten Dekade ausgemacht hat.
"Die Führungskräfte in Wirtschaft und Politik sollten im Kopf
behalten, dass in viel zu vielen Ländern die Früchte des Wachstums
viel zu wenigen zugutekommen", kritisierte IWF-Chefin Christine Lagarde
in Davos. ....
Aus dieser Armutsfalle fand die Weltwirtschaft jedoch einen Ausweg, der die
These des amerikanischen Ökonomen Simon Kuznets zu bestätigen
scheint: Ungleichheit wächst demnach zunächst parallel zur
wirtschaftlichen Entwicklung, sinkt dann aber rapide. ....
Wenn eine Wirtschaftsordnung solche Exzesse produziert, muss der Fehler
im System liegen, meinten die neuen Kapitalismus-Kritiker, zu denen selbst
Frank Schirrmacher, Mit-Herausgeber der konservativen "FAZ"
zählt. Nicht nur die Marktwirtschaft hat seitdem ein Legitimationsproblem,
auch die führenden Eliten werden immer weniger akzeptiert. Prominente
Fälle von Steuerhinterziehung und Bilanzbetrug haben ihr Ansehen noch
weiter beschädigt. In Russland, China und Indien ist vor allem die
Korruption zwischen Wirtschaft und Politik zu einem Krebsgeschwür
der Gesellschaft geworden. Der "Economist" warnt vor einem
neuen Zeitalter des "crony capitalism".
Dass davon auch die reichen Industrieländer nicht frei sind, zeigen die
Hunderte Milliarden Dollar, die von den westlichen Regierungen in marode
Banken gepumpt wurden. Staat und Finanzindustrie sind längst eine
Schicksalsgemeinschaft eingegangen.
Besonders eng sind die Bande zwischen Geld und Macht in den USA. Gerade
erst hat der Oberste Gerichtshof in Washington die Regeln für politische
Spenden weiter gelockert. ....
Bereits in der 30er-Jahren hat der liberale britische Ökonom
John Maynard Keynes konstatiert, dass die ungleiche Einkommensverteilung
"zu den hervorstechendsten Fehlern unserer Wirtschaftsordnung"
gehört. US-Nobelpreisträger Krugman formuliert es heute noch
deutlicher: "Der amerikanische Kapitalismus in seiner heutigen Form
unterminiert das Fundament der Mittelklasse-Gesellschaft." ....
Das Ungleichgewicht geht auf Ideologien zurück, die die absolute
Autonomie der Märkte und die Finanzspekulation verteidigen ....
Doch Buffetts Sohn Peter reicht das [Spenden von Bill Gates, Warren Buffets und
anderen für wohltätige Zwecke] nicht aus: " Das dient nur dazu,
das schlechte Gewissen zu beruhigen. Aber zugleich wird die bestehende Struktur
der Ungleichheit zementiert. Es wäre besser, das Geld dafür
auszugeben, diese Strukturen zu zerschlagen.".
Die Ökonomen des Internationalen Währungsfonds brechen deswegen
nun mit einem lange gepflegten Dogma: Sie wollen dem Prinzip der Umverteilung
das Stigma nehmen, das ihm liberale Ökonomen und Politiker über
Jahrzehnte angeheftet haben. "Je größer die Ungleichheit ist,
desto geringer und instabiler ist das Wirtschaftswachstum",
sagt IWF-Research-Direktor Jonathan Ostry.
Umgekehrt sei das Wachstum in Ländern mit einer ausgeglicheneren
Einkommensverteilung meist höher. Eine moderate Umverteilung von Reich
zu Arm nütze dem Wachstum. Die Forscher stützen sich dabei auf
Einkommensdaten aus Entwicklungsländern und Industrienationen
(siehe hierzu auch Thomas Piketty)
]