Die "New Economy" Amerikas fasziniert. Unablässig hören wir vom dortigen Entstehen einer neuen Wirtschaft mit ganz neuen Gesetzmässigkeiten, robust gegen Gefahren und Risiken. Diese Meinung stimmt bisher kaum mit den Tatsachen überein. Es gibt schon Neues, aber ob es die Wirtschaftsgesetze nachhaltig ausser Kraft setzt, bleibt noch abzuwarten.
Amerika hat nicht ein Sozialprodukt, sondern deren drei. Das Volumen des Aktienhandels beträgt etwas über 200 Prozent des Sozialproduktes. Für jeden Dollar, der für Güter und Dienstleistungen bezahlt wird, werden zwei Dollar für Aktien ausgegeben. Auf dieses gewaltige Handelsvolumen werden Kommissionen und Gebühren bezahlt. Würde man diese aus dem Sozialprodukt herausrechenen, wäre die amerikanische Wirtschaft in den letzten fünf Jahren nur wenig, wenn überhaupt gewachsen - das US-Wirtschaftswunder ist vor allem ein Börsenwunder.
Es spricht wenig dafür, dass das ein Normalzustand ist. Der Durchschnitt des Aktienhandelsvolumens beträgt für die vergangenen hundert Jahre nur knapp 30 Prozent des Sozialproduktes. Das letzte Mal, als es Volumina in vergleichbarer Größe gab, war in den späten Zwanzigerjahren. Sie lagen damals bei etwa 135 Prozent. Daraus mag man ableiten was man will - denn jetzt haben wir ja eine neue Wirtschaft!
Wofür wird soviel ausgegeben? Für Unternehmen, die keine Dividende zahlen. Im Hundertjahresschnitt richteten etwa 65 Prozent aller Unternehmen Dividenden aus. Seit 1990 liegt dieser Wert bei 30 Prozent, und zurzeit ist er auf fast 20 Prozent gesunken. Zum ersten Mal scheinen wir auch eine Wirtschaft zu haben, in der jene Firmen am meisten Kaufinteresse finden, die keine Gewinne machen. Aktien von Firmen, die Verluste machen, sind 1999 um gut 50 Prozent gestiegen, jene von Firmen, die Gewinne erzielen, sind um 2 Prozent gefallen. Und wenn man genau hinschaut, dann wollen die Leute auch gar keine steigenden Aktienkurse mehr, sondern nur noch einen steigenden Index. Die Indizes haben zwar fast vertikale Höhenflüge zu verzeichnen, aber 54 Prozent aller an US-Börsen gehandelten Aktien sind 1999 gesunken. Über ein Drittel der Aktien liegen 40 Prozent und mehr unter ihren Höchstkursen. Die Hälfte des gesamten Anstiegs des S&P-Index - 80 Prozent der Gesamtkapitalisierung Amerikas - stammt aus lediglich sieben Werten: Microsoft, Cisco, GE, Walmart, Nortel, Oracle und AOL.
Und womit wird alles bezahlt? Mit Schulden. 6 Prozent negative Sparquote, stagnierende Realeinkommen, Aktienkauf mit Krediten zu 8 bis 12 Prozent Zinsen auf Haus [cf Anmerkungen am Ende des Artikels, insbesondere No 6], Lebens- und Ausbildungsversicherungen, Höchststände von Unternehmens- und Privatschulden. Wenigstens ist der Staatshaushalt saniert und weist einen Überschuss von rund 120 Milliarden Dollar auf. Darf man leise fragen, warum dann die öffentlichen Schulden (Gross Public Debts) von rund 5550 Milliarden Dollar im Fiskaljahr 1998 auf rund 5670 Mrd im Jahr 1999 gestiegen sind und was mit dem Nettoschuldenzuwachs von 120 Milliarden geschehen ist? Hat man damit etwa ein Staatsdefizit in dieser Größe finanziert? Ja! [cf Anmerkung am Ende des Artikels] Und um noch ein Plus vorweisen zu können, werden die Überschüsse der Sozialversicherung in den Staatshaushalt transferiert: Man wird sie ja nicht mehr brauchen, weil alle ständig reicher werden. Durch immer stärker steigende Kurse von immer weniger Aktien von immer mehr Firmen, die immer weniger Gewinne machen und daher immer häufiger keine Dividende zahlen.
Früher hatten Realwirtschaft und Finanzwirtschaft einen engen
Zusammenhang. Das Volumen der Finanzwirtschaft stand in klaren Proportionen
zum Volumen des Welthandels und der Weltinvestitionen, die es zu finanzieren
galt. So ist es nicht mehr. Ob das normal und gesund ist und daher anhalten
kann, wird man sehen. Schöne neue Wirtschaft ...
Prof. Fredmund Malik, St. Gallen; aus 'Cash' (Schweiz) vom 14jan2000
Anmerkungen von menkaura:
1) Financial Times Europe, Friday May 30 2003 p15,
Avinash Persaud - `Deflation is a matter of national choice'
....
US officials and commentators often exhort the Japanese to inflate their
economy. This fails, not because the Japanese are deaf but because Japan is a
nation of creditors. If you are a creditor, voting for inflation is on a par
with a turkey voting for Christmas.
Arranging the world's biggest economies by their net creditor or debtor status
suggests deflation is most likely in Japan, Switzerland, Italy and Germany and
least likely in the US, Canada, Australia and the UK. On an international
basis, the US's net liabilities to the rest of the world are about 25 per cent
of its gross domestic product.
[Leistungsbilanzdefizit im Frühjahr 2003 1.5 bis 1.8 Milliarden $
täglich, finanziert zu einem Gutteil aus Japan, und China s.u. 4)
Nach einer Meldung der FTD vom 04dec2007 belaufen sich die Schulden der
US-Wirtschaft auf mehr als 300 Prozent des BIP]
Japan, by contrast, is running a net surplus of about 35 per cent of GDP.
Whether a country as a whole is a creditor or a debtor has much to do with the
age and wealth of its population. Since age and wealth are slow-moving
factors, this pattern is slow to change and easy to predict. ....
Deflation reduces the value of real assets and raises the value of nominal
assets. It is good for currency and bonds with good credit ratings and bad for
property and equities in general, especially the equity of companies whose
cash flows are small.
....
And therefore in the same issue see article
`Deflation sends Japanese investors running to bonds'
....
2) Financial Times Deutschland, Freitag, 30. Mai 2003 p23,
Thomas Fricke - Schwindel um den Dollar-Sturz - Die US-Regierung steuert in
eine Schwachwährungspolitik, mit der das Wachstum gestützt und das
astronomische Außendefizit abgebaut werden soll. Ein riskantes Spiel,
das im Desaster enden könnte
....
Kaum eine andere Wirtschaft kauft bei anziehender Inlandskonjunktur so schnell
so viele Waren im Ausland. In der Vergangenheit führte ein Plus von einem
Prozent bei der US-Nachfrage zu einem Einfuhrplus von 1,6 bis 2 Prozent ....
Nach Berechnungen des US-Experten der Dresdner Bank, David Milleker, reagieren
etwa die US-Einfuhren rund viermal so stark auf eine höhere Nachfrage wie
auf einen niedrigeren Wechselkurs. Will heißen: Je stärker im
globalen Vergleich die US-Wirtschaft wächst, desto schneller legen die
eigenen Importe zu - und desto langsamer die Exporte in die langsamer
wachsenden Abnehmerländer.
Die Konsequenz wirkt bedrohlich. ,,Solange das Wachstum in Übersee nicht
höher als in den USA ist, wird es keinen nennenswerten Abbau des
US-Defizits geben", so der US-Devisenexperte der Deutschen Bank, Michael
Rosenberg .... Laut Dresdner-Ökonom Milleker dürften die US-Firmen
ihren Wechselkursvorteil vor allem nutzen, indem sie Importkonkurrenz
verdrängen (was auch den Eifer von US-Lobbies erklären könnte,
französische Kriegsverweigerer-Waren zu boykottieren). Der Dollar-Sturz
drohe ,,wie eine Deglobalisierung zu wirken", sagte Milleker ....
Spätestens wenn Europa krisenkursbedingt kein Geld mehr hat, um wie
bisher US-Waren zu kaufen, droht der fatale Dollar-Kurs auf die USA
zurückzuschlagen .... Bisher habe Bushs neuer Isolationismus vor allem
eines gebracht: mehr Unsicherheit für die weltweiten
Kapitalmärkte.
Die USA werden ihre Defizite aus vergangenen Exzess-Zeiten am Devisenmarkt
nicht wegzaubern können - so polternd die Regierung jetzt auch
auftritt
siehe auch hier
3) Nach der spekulationsblase an den aktienmärkten droht - neben der
US-leistungsbilanzdefiz(e)itbombe - die spekulationsblase an den
immobilienmärkten der falkenstaaten USA, Großbritannien und Spanien
zu platzen. Die analoge entwicklung führte Japan ende der 80er jahre in
die dauerkrise
- die marktkapitalisierung der an der Tokioter börse gehandelten
unternehmen fiel von etwa 40% der globalen börsenwerte auf unter 10% in
2002
[Nachtrag dec2007: inzwischen eingetreten in form der
"SubPrime"-Krise des US-immobilien- sowie der globalen
finanz-märkte]
[Nachtrag 23jan2008:
Die WirtschaftsWoche Online (http://www.wiwo.de) schreibt
bereits am 04dec2007:
Ein durchschnittliches Einfamilienhaus kostete in den USA im historischen
Mittel etwa drei Brutto-Jahreseinkommen eines Durchschnittsverdieners; dieser
Wert ist auf das siebenfache Gehalt gewachsen ....
Weltweit sind Papiere im Wert von 1200 Milliarden Dollar mit
Subprime-Krediten besichert. Allein darauf drohen Abschreibungen von mehr als
500 Milliarden Dollar. Hinzu kommen noch Abschreibungen auf höherwertige
Hypothekenkredite, auf Übernahmekredite und auf andere Derivate.
"Genaue Schätzungen gibt es nicht, aber ernst zu nehmende
US-Analysen zeigen, dass sich die Abschreibungen insgesamt auf
1000 Milliarden Dollar summieren könnten", sagt Eberhardt Unger,
Chefvolkswirt bei Fairesearch in Frankfurt. 1000 Milliarden Dollar - diese
Summe würde das gesamte Eigenkapital der etwa 50 größten
Banken der westlichen Welt vernichten ....
"Die faulen Papiere liegen aber keineswegs nur bei den Banken",
sagt Martin Stürner, Vorstand der PEH Wertpapier AG. "Stiftungen,
Pensionskassen, einfach alle, die regelmäßig 4,5 Prozent
ausschütten müssen, auf dem Markt aber nur 3,2 Prozent bekamen,
haben ihre Anlagen aufgepeppt."]
[Nachtrag 18oct2010:
Interview mit dem Chicagoer Starökonomen Raghuram Rajan,
" Die Sache könnte eskalieren"
in "Der Spiegel" 41/2010p86ff
Rajan zu den staatlichen immobilienfinanzierern Fredie Mac und Fannie Mae:
der erwerb von immobilien war viel einfacher zu bewerkstelligen als der
bevölkerung bessere bildung und bessere aufstiegschancen zu geben
- die bürger achteten nicht mehr darauf, dass ihre einkommen nicht
gestiegen waren - war doch ihr immobilienbesitz wertvoller geworden.
Desweiteren schaffte der immobilienboom zB arbeitsplätze für
ungelernte arbeitskräfte]
4) Financial Times Deutschland, Montag, 08. Dezember 2003 p21, Das Kapital -
China belastet den US-Arbeitsmarkt doppelt
.... Der Clou ist, dass die Kapitalkosten unter anderem deswegen so niedrig
sind, weil China die US-Leistungsbilanz finanziert - und das auch noch mit
Zentralbankgeld, wie die seit Ende 2002 von 286 auf 401 Mrd. $ gestiegenen
Devisenreserven Chinas zeigen. Konventionelle Ökonomen würden eher
argumentieren, dass die entwickelten Länder den Schwellenländern
Kapital zur Verfügung stellen, damit diese gedeihen mögen und die
Schulden bei größer werdendem Wohlstand dereinst wieder tilgen
.... und damit tendenziell die Substitution von Arbeit durch Kapital
fördern. Wegen der Verflechtung der Finanzmärkte gilt das
prinzipiell auch für Europa ....
5) The Economist Jan 22nd 2009 - A special report on the future of finance.
Article "Fixing finance"
.... Some people question whether financial innovation is worth very much
these days. Willem Buiter, of the London School of Economics, thinks a
stripped-down sort of finance could do most of what a modern economy needs.
In a remarkable lecture given in 1984, near the beginning of the boom,
James Tobin, a Nobel laureate (and Mr Buiter's former teacher), puts the case.
His conclusion is worth quoting:
I [suspect] we are throwing more and more of our resources, including the
cream of our youth, into financial activities remote from the production
of goods and services, into activities that generate high private rewards
disproportionate to their social productivity. I suspect that the immense
power of the computer is being harnessed to this `paper economy', not to do
the same transactions more economically but to balloon the quantity and
variety of financial exchanges ... I fear that, as Keynes saw even in his day,
the advantages of the liquidity and negotiability of financial instruments
come at the cost of facilitating nth-degree speculation which is short-sighted
and inefficient.
....
In the end the argument for embracing innovation is conceptual rather than
empirical. As a rule, innovation is a source of wealth. It would be odd if
financial services were an exception. Arguments in other fields that there is
nothing left to discover have usually proved false. You can imagine how
computer technology might lead to further financial innovation, even if it
also sometimes creates instability. In addition, Mr Lerner believes that
financial services need to be adapted to the economy of which they form part,
and the economy is always changing. Foreign-exchange derivatives came into
their own, for example, when exchange rates floated after 1971.
And even if you admire stripped-down finance, regulators cannot hold the line
for ever. Ultimately, they are likely to lose ground to financiers who will
use arbitrage to work their way around the best-laid defences. Hard as it is
to acknowledge at the moment, in the teeth of a recession, the judgment of
Clément Juglar, a 19th-century French business-cycle theorist, has
the ring of truth:
"The richness of nations can be measured by the violence of the crises
which they experience ..."
Looking back from the pit of recession, it is difficult to recall how the
investment banks' pre-eminence and the hedge-funds' wealth could ever have
seemed to be the natural order. A time will come when today's fear is equally
hard to fathom. Greedy once again, people will wonder why they did not buy
shares at that price, why they did not realise corporate bonds were a steal
and why they did not foresee a bout of inflation or a weak dollar
[What might come concerning the dollar hat US-Notenbankchef Bernanke bereits
am 21nov2002 beschrieben, siehe den letzten absatz des abschnittes
"Curing Deflation" in seiner Rede
"Deflation: Making Sure `It' Doesn't Happen Here", wiedergegeben
in http://www.federalreserve.gov/boarddocs/speeches/2002/20021121/default.htm
im Original. Ein Bericht über diese Rede auf Deutsch ist zu finden unter
http://www.heise.de/tp/r4/artikel/29/29399/1.html]
.
Such shifts in perception are the result not of madness or criminality, but of
individually rational responses to what Keynes saw as the inherent uncertainty
in financial markets. Finance feeds on trust and mistrust, and amplifies
whichever is ascendant. That is what makes financial markets dangerous.
Just now that probably seems like a reason to tie finance down. And indeed it
could be better regulated, as the crisis has shown. But a thoroughgoing effort
to tame finance would be futile and could come at a high cost. Frederic
Mishkin, a former Fed governor, once called finance "the brain of the
economy".
The image conjures up power and importance, but it also evokes complexity and
fragility. Finance is a remarkable creation. Do not suppress it, but use it
wisely
6) (Hintergrund: Spekulation der Finanzmärkte gegen Euro und Griechenland
im Februar 2010)
" Fakt bleibt jedoch, dass die USA insgesamt in einer ungleich
schwächeren finanziellen Position sind als der Euro-Raum.
Soeben hat das BEA die nationale US-Nettoersparnis für das dritte Quartal
auf minus 3.2 Prozent des Bruttonationaleinkommens revidiert.
Im vierten Quartal war die reale inländische Endnachfrage noch
schwächer als zunächst geschätzt; sie liegt um
mehr als ein Zehntel unter ihrem exponentiellen Trend. Die Sparquote der
Verbraucher wurde von 4.6 auf 4.1 Prozent im vierten Quartal revidiert, obwohl
die Konsumausgaben niedriger waren als ursprünglich vermutet. Das
weitgehend deindustrialisierte Land, dessen nichtfinanzielle Sektoren Schulden
von 243 Prozent des BIPs angehäuft haben, ist also nicht mal mehr in der
Lage, den Kapitalstock aus eigener Kraft zu erhalten. Pleite."
(Das Kapital - Hollywood und nichts dahinter - Nicht Griechenland, sondern
Amerika; Artikel in der Financial Times Deutschland vom 01mar2010 p15)