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Index / Stichworte
Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft
Vorläufiges zur Dynamik der Anpassung:
Alexander Mitscherlich, Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft
(1963) hier: R. Piper, München 1996
Der mensch kommt ungebildet und unkultiviert zur welt. Er ist - wie der biologe
in anlehnung an tierische verhaltensweisen sagt - ein
extremer nesthocker , das heisst, sein reifungszustand bei der geburt
ist sehr weit vom reifungsziel entfernt ....
Es ist unbekannt, wie viele
menschliche verhaltensweisen angeboren sind. Sicher ist nur eines, dass sie bei
weitem nicht ausreichen, unser leben unter unseresgleichen zu regeln. Die
eigentlichen regulative unseres verhaltens, der kodex des benehmens, werden
langsam erlernt. Angeborene begabungen und erworbene fähigkeiten spielen
dabei ineinander
Denn: `Darwins anpassung ist ihrem wesen nach nicht fortschrittliche
veränderung, sondern vielmehr ein dynamischer weg zur aufrechterhaltung des
status quo .' .... Wenn dagegen ein mensch jeder schwankung politischer
machtverhältnisse folgt und dabei ohne gewissenseinspruch bisherige freunde
aufgibt, ist dies zwar anpassungsgewandt, wohl auch vom standpunkt der
verteidiger der macht her gesehen eine positive, von der verlässlichkeit
als tugend aus eine schlechte eigenschaft
.... wir sind endgültig spezialisten der unvollkommenheit .
Der mensch kommt nicht mit erbgenetisch verankertem verhalten auf die welt,
das ihn in allen entscheidenden fragen des lebens definitiv einer umwelt
zuordnet, sondern, wie wir eingangs sagten, ungebildet und unkultiviert. Er ist
ein neuling in jeder seiner kulturen. Das ist vorerst ein naturgeschichtliches
faktum
Anpassung und Einsicht: Stufen der Bildung
....
Jede gruppe legt ihren mitgliedern verzichte auf. `Verzichten müssen' macht
feindselig. Feindseligkeit stört den inneren zusammenhalt der gruppe.
Um nicht zu neuen verzichten zwingen zu müssen, eröffnen die gruppen
dem einzelnen wege, auf denen er seine feindseligkeit ausagieren darf
[siehe vertiefend hier]
Schon wegen der ausserordentlichen gefahr der täuschungsmöglichkeiten
- vor allem über sich selbst - kann bildung im menschlichen leben nie
abgeschlossen sein. Es gibt eine abgeschlossene schulbildung, aber es gibt keine
abgeschlossene bildung und selbsterziehung. Der gebildete ist als ein mensch zu
charakterisieren, der seine jugendliche ansprechbarkeit auf neues und
unbekanntes behalten hat. Er ist auf der suche nach wissen und nach den
methoden, erfahrung zu prüfen. ....
Alles dogmatisch gewisse ist das ende der
bildung (davon werden wir auch die religiöse bildung nicht ausnehmen). Der
bildungsphilister ist so ungebildet wie der, der gar nichts weiss
cf hier
und hier
Betrachtet man diese einschüchterung des einzelnen bei seinen versuchen,
den dingen, vor allem den sakrosankten selbstverständlichkeiten in der
eigenen familie, im eigenen stand, in der politik und so weiter auf die spur
zu kommen, so kann man sich nicht einem eindruck verschließen:
Es gibt offenbar sehr viel mehr menschen, die durch früh übernommene
vorurteile in ihren neigungen zerstört und in ihrer natürlichen
neugier, in ihrem suchen nicht angesprochen
oder gar niedergeschrien wurden, als von der anlage her unbegabte und
unbewegliche
Die passive anpassung zur konformität wird meist mit wenig einfühlung
in die eigenwelt des anderen erzwungen, in die individuelle variante und ihre
probierenden versuche, sich zu entfalten. Erziehung ist unendlich
öfter terror als führung zur selbständigkeit.
Die unüberschaubare vielschichtigkeit und widersprüchlichkeit der
gegenwärtigen großgesellschaften wird in der öffentlichen
meinung kunstvoll verdeckt und verniedlicht. Die öffentliche meinung gibt
sich aufgeklärt, aber in wahrheit übt sie eine andere funktion aus
(wie seit je): über die abgründe, das heisst über
widersprüche, unkenntnis, das sinnlose vieler anstrengungen
hinwegzutäuschen, aber doch zugleich so viel angst zu erwecken, dass sich
das individuum zur masse hält
Alte freiheitsideale werden uns nicht beschützen, wenn wir sie nicht neu an
der wirklichkeit erproben. `Freiheit' ist ein stück der wahrheit, auch sie
haben wir nicht für immer und nicht als gewissheit; wir müssen sie
mit viel eingeständnis und überwindung von angst neu erfahren, um sie
verteidigen zu können
Es lässt sich jetzt schon voraussehen, dass viele mitglieder unserer
gesellschaft nicht für die religiöse glaubensgewissheit und viele
andere nicht für die besitzordnung auf die barrikaden steigen, um so
weniger als die machtkämpfe, von denen hier die rede ist, ganz im
gegensatz zur öffentlichen
meinung in wirklichkeit nicht durch drohgebärden und kriegerische
auseinandersetzungen, sondern vielmehr durch angleichung administrativer
praktiken, durch werbefeldzüge und sprach- beziehungsweise symbolkorruption
(zum beispiel des wortes `freiheit' oder `frieden' oder `partei' und
`parlament') entschieden werden.
Es wäre doch unrealistisch, um nicht zu sagen töricht, nun zu
glauben, man könne vom mann auf der straße, der weder hungert noch
friert, weder um seine altersversorgung bangt noch auf die nutzung seiner
begabungen verzichten muss, sondern in maßen am überfluss teilhat,
verlangen, rot für rot zu erklären,
wenn seine gesellschaft gebietet, dass er rot grün nenne. Es muss schon ein
entschlossener wahrheitskämpfer sein, der einer konvention um den preis des
verlustes von brot und stellung entgegentritt; und die konvention muss schon
drückend sein, damit er anderen mit seiner opposition mut macht.
Aber müssen denn die konventionen für das identitätsgefühl
des sozial geborgenen einzelnen in den überflussgesellschaften
drückend sein? Welcher hunger wird
hier und welcher dort trotzdem ungestillt bleiben?
Die pädagogische absicht dieses buches ist es, dem antipsychologischen
affekt in unserer sozialbildung entgegenzuarbeiten.
Unsere prämisse beruht darauf,
dass nur die stärkung wachen, kritischen denkens das erlöschen der
europäischen tradition verhindern kann. Diese tradition verlangt seit den
anfängen der aufklärung selbstverantwortung neben dem kollektiven
gehorsam - ehrfurchtsloses fragen angesichts von tabus, welche fragwürdige
herrschaftsansprüche sichern
Das wichtigste kennzeichen der bildung ist demnach folgendes.
Gebildet ist ein mensch, der in affekterregenden lebenslagen über
eine einigermaßen beständige selbstsicherheit im umgang mit den
eigenen triebregungen verfügt
Der mangel an erbgenetisch festgelegten auslösungen für ein
artspezifisches verhalten wird durch gruppenspezifisch erworbene
verhaltensweisen ersetzt
Der Instinkt reicht nicht aus - die Evolution zum Bewusstsein
....
Die bedeutung der verhaltensrollen und der attribute der rollenmarkierung als
leitlinien für das identitätserlebnis und als aufbaustoffe der
selbstgefühle kann kaum überschätzt werden
Bestechung mit besitz oder macht, die innerhalb der gruppe rang und prestige
geben, verleiht der verführung nachdruck. Schon dass man die
tatsächlich etwas gruppenunabhängigere existenz gern als
aussenseiter, bohemien, diogenesnatur, asket, also mit zügen einer
zweifelhaften vereinsamung beschreibt, verweist auf die schwierigkeiten,
denen sich das individuum gegenübersieht. Zunächst muss immer, wo von
individualismus und individueller freiheit die rede ist, geklärt werden,
ob es sich nicht um ein produkt der selbsttäuschung , des falschen
bewusstseins handelt
Denn im regelfall ist das individuum erschöpfend charakterisiert,
wenn man die gruppen kennt, deren schnittpunkt es ist. Dem vorwurf solcher
`niederziehenden' kritik setzt sich niemand gerne aus, denn die machtmittel
kollektiver ächtung haben auch in der moderne nichts an
gefährlichkeit verloren. Trotzdem bleibt
es dabei, dass das ich seine fragile leistung nur dann - letztlich für eine
gesellschaft von etwas freierem geist - vollbringen kann, wenn ihm nicht nur
die kritik der tatbestände erlaubt ist, sondern auch die der tabus, die
nichts weniger wollen, als ihm vorschreiben, wie es sich zu verstehen habe
Der soziale rollenzwang ist wie der informationszwang
(lernzwang) eine an die erweiterung der lernfähigkeit gebundene
kompensation fehlender angeborener arteigentümlicher verhaltensschemata.
Diese schemata sind, soweit sie sich auf das soziale verhalten beziehen, wie
erwähnt, in der tierwelt erblich besonders starr fixiert
Für die normale entwicklung des kindes sind beziehungspersonen von
konstantem aspekt gefordert.
Verfremden sie sich periodisch unter bestimmten reizsituationen, so wird das
kind eben jene gespaltenheit als identifikationsangebot übernehmen
müssen
Verglichen etwa mit den dörflichen verhältnissen, von denen man,
ohne sie zu beschönigen, sagen kann, dass sie durch jahrtausende eine
relativ konstante umwelt boten, ist der aktionsraum des bekannten und
gefühlshaft vertrauten für das stadtkind wesentlich geschrumpft.
Die ausweichmöglichkeiten auf mitglieder der weiteren familie sind
geringer. Mit anderen worten, die ganze ambivalente gefühlsspannung des
kindes konzentriert sich überwiegend auf die mutter, die sich dadurch oft
überfordert fühlt und ihrerseits ambivalenter
dem kind gegenüber wird. Zudem ist kinder zu haben eine unterbrechung der
arbeitstätigkeit, eine schwächung der wirtschaftskraft der familie
und bringt die mutter wieder in größere finanzielle
abhängigkeit
Das veranlasst zu dem schluss, dass die möglichkeit zur entwicklung des
spezifischen affektiven sozialkontaktes, den wir mit den worten `liebe zur
mutter' umschreiben, nur in einer beschränkten, definierbaren periode
besteht.
Die erfüllung der bedürfnisse, die sich mit der gestalt der mutter
verbindet, muss in den erfahrungen dieses lebensabschnittes gegeben sein;
Harlow meint dabei für den Rhesusaffen die zeit zwischen erstem und
viertem, für den menschen die spanne zwischen drittem und zwölftem
lebensmonat. Danach ist eine prägung, wie sie zuerst Konrad Lorenz in
seinen versuchen mit enten
gezeigt hat, in dieser richtung nicht mehr möglich. `Hat das kind in dieser
zeit nicht zu lieben gelernt, so wird es niemals lieben können.'
Wer nicht die erfahrung des vertrauens sammeln konnte, dem gelingt es offenbar
nur schwer, sich selbst über die entwicklungskrisen hinweg immer deutlicher
als identisches wesen zu begreifen
Die affen, die unter menschenähnlichen bedingungen insofern aufwachsen,
als ihnen ein verlust der mutter zustösst, den sie in ihrer umwelt nicht
überleben würden, oder die
auf eine mutterattrappe angewiesen sind, die in etwa einer ihrem kind
entfremdeten menschenmutter gleichgesetzt werden kann - diese affen enwickeln
im späteren leben seelische reaktionsdefekte, die menschlichen aufs haar
gleichen. Wir müssen hinzufügen, dass diese defekte beim menschen
durch die spezifischen ichleistungen, etwa durch einsicht, nicht korrigiert
werden können. Diesen verödungen gegenüber ist einsicht
machtlos. ....
Harlows rhesusaffen sind inzwischen, wie er unlängst mitteilte, zu physisch
voll gereiften tieren in bestem zustand herangewachsen. Aber trotzdem zeigen
sie keinerlei neigung zu einem paarungsverhalten. .... Harlow nimmt an, dass es
sich dabei um einen folgezustand der mutterlosigkeit handelt. `Auf irgendeinem
uns noch unbekannten weg übermittelt die mutter dem kind die
fähigkeit zu normalem geschlechtsverhalten.'
Aber mehr noch: Es gelang Harlow (1961), ein mutterlos im drahtkäfig und
mehrere mit attrappen [der mutter] aufgezogene weibchen schließlich zur
paarung zu bringen; wenn auch ihr verhalten nicht dem wilder affen glich, so
wurden sie doch trächtig. Zwei der tiere gebaren junge. Sowohl das ganz
mutterlos aufgewachsene tier wie das mit einer stoffattrappe aufgezogene
verhielten sich `völlig teilnahmslos' beziehungsweise `reagierten
überhaupt nicht auf ihr neugeborenes kind, obwohl das kind normal auf
sie reagierte'. Sie sahen nie auf das kind, `sondern starrten ins leere'.
Die mutterlos aufgewachsene mutter `wischte das kind von ihrem bauch oder
rücken ab in derselben gleichgültigen art, mit der sie fliegen
abwischen würde.' `Ihr verhalten zeigte eine auffallende ähnlichkeit
mit dem eines völlig affektlosen schizophrenen menschen.'
Man sagt etwa, es sei einem menschen nicht gegeben, zärtlich zu sein;
es wurde
ihm aber nicht von der natur, sondern von der mitwelt nicht gegeben. ....
Es scheint, wie bei den mutterlosen affen des experiments, kollektive
charakterprägungen zu geben, die fühllos und unzugänglich
für das erlebnis großer bereiche der sozialen wirklichkeit machen.
Der affektive appell, der von ideologisch markierten gruppen von mitmenschen[,]
etwa von missachteten minoritäten kommt, erreicht dann das individuum
nicht mehr; ihrer not gegenüber verhält es sich wahrnehmungsblind
``Kurz gesagt, der viktorianische mensch sah die sexualität nicht sosehr
als sünde, sondern als etwas bestialisches, verachtenswürdiges an.''
Nun, diese verachtung ist abgeklungen; sie hat in den roaring twenties
ihren gegenschlag in hektischer geschlechtsanarchie gefunden und ist teils zu
einer kleinbürgerlichen moralität, teils zu einer auffassung
verlaufen, in der geschlechtsgenuss nahe dem genuss anderer konsumgüter
rangiert, weder poetisch verklärt noch gewissensbelastet,
einfach langweilig
Das neurotische elend unserer zeit liegt in der präokkupation mit geld und
sexualität. Das anale besitzstreben kompensiert die sexuelle versagung;
andererseits sichert der besitz den genuss der `schlechten' frauen
Mit zunehmender vereinzelung der lebensformen ist der schutz gegen die
individuell neurotischen einflüsse nicht gewährleistet, weil jetzt die
sicherung durch kollektive handlungsanweisungen fehlt. Das korrektiv der
vereinzelung sind zunehmend die wissenschaftlichen ansschauungen und ihre
verbreitung .... Da es ein irrtum ist, die gesellschaftliche vereinzelung
unserer zivilisation einfach mit individualisierung im sinne
einer verstärkung der ichfunktionen im zusammenspiel mit den triebregungen
gleichzusetzen, ist die lage kritischer als in den zeiten geschlossener
sippen-, stammes- und provinzialkulturen
Von der Hinfälligkeit der Moralen
....
Manche erziehungsformen wirken offenbar toxisch
Mit dem wort identität ist also zugleich die fertigkeit gemeint,
sich durch integration neuer erfahrungen wandeln zu können
Ein solches training zu triebaufschub, zur askese verschiedener härte -
und das ist kultur - ist für ein alleinlebendes wesen undenkbar,
weil es unnötig wäre. Erst die notwendigkeit, mit anderen teilen zu
müssen, fordert den verzicht; aber nur dort kann mit dem verzicht ein
sinn verknüpft, kann verzicht selbst befriedigend erlebt werden,
wo die mitwelt bedeutung für den einzelnen hat, oder sagen wir
unverhohlen: wo er grund hat, diesen und jenen menschen zu lieben
Die vorherrschaft des lieblosen gewaltdenkens gehört vielmehr zu einer
umwelt, in der die deckung vitaler grundbedürfnisse schwerfällt und
periodisch oder dauernd materielle armut die große menge drückt.
Armut ist das produkt einer begrenzten kulturentwicklung
In sozialformen, die auf magischem denken beruhen, wird der triebanteil im
verhalten traditionell ritualisiert und eingefangen. Die techniken der
einübung geschehen in einem relativ gleichbleibenden bezugsrahmen. Wie
verhält sich das in der technisierten, zweckrationalisierten
massengesellschaft, die scharf trennt zwischen einem alltagsleben, dessen
instrumentarium voraussehbar funktioniert, und einem `privatleben' emotionell
bestimmter entscheidungen, die sich zwar auch in der spielbreite einer
vorauserwartung bewegen sollen, für die aber die sinnorientierung schwer zu
finden ist? Ihre inhalte sind weitgehend herübergenommen aus historischen
traditionen der magischen orientierung
Die gesamtkonzeption der herrschenden moral ist tief durchdrungen von der
(weitgehend unbewusst bleibenden) absicht, bestehende gewaltprivilegien den
anschein der rechtmäßigkeit zu verleihen. Von der kritischen
vernunft her betrachtet, nimmt sich die moralität, wie sie
getätigt wird, höchst atavistisch aus; der einzelne
fragwürdige vorstoß, die schlichte gemeinheit, die einer begeht,
findet ihn wohl vorbereitet, er verfügt über
eine gute abwehrroutine gegen schlechtes gewissen und kann sich dabei auf die
doppelmoral berufen, wie sie gang und gäbe ist ....
Ein langsam historisch werdendes beispiel beispiel wird dabei nur zu leicht
vergessen: der faule arbeiter. Der arbeiter muss faul und dumm sein, sonst
könnte die ausbeutung gegen ihn nicht so gewissenlos, gewissensbefreit vor
sich gehen. Und sekundär bleibt dem arbeiter auch kein anderer weg offen,
als wirklich `faul', das heisst interesselos zu werden, weil er ausgebeutet wird
Die zahl der menschen, die konstitutionell den kulturanforderungen nicht
gewachsen sind, scheint ungleich geringer als die jener, die aus ihrem
sozialschicksal heraus liebesunfähig wurden
Das nichtsozialisierte ist dann aber .... keineswegs das `natürliche' an
ihm, sondern das unter den kulturzwängen entstellte.
Triebverleugnung, wie sie weitgehend in unserer moral erzwungen wird, ist auch
nicht identisch mit den kulturnotwendigen triebverzichten. `Verleugnung' im
sinne des `nicht sein kann, was nicht sein darf' ist ein infantiler modus des
umgangs mit der welt. In den moralen, wie sie in unseren breiten gelebt werden,
wird der mensch psychisch infantil gehalten, um ihm den schweren verzicht
leichter abfordern zu können. Es ist mehr als zweifelhaft, ob die
menschheit bei dieser moral die krisen der zukunft meistern wird.
Sie ist zu sehr an den zwang zur bösen tat gekettet.
Wir werden also zeigen müssen, dass eine moral,
die zu einem anwachsen der verantwortung im ich statt zu einem verharren unter
den geboten im über-ich erzieht, vom soziogenetischen prozess der
evolution gefordert ist ..... Dem skeptiker .... wird man in der tat nur eben
diese hoffnung als ein prinzip entgegenhalten können.
Denn hoffnung ist die psychische korrespondenz zu
der biologischen offenheit der menschlichen natur
Die ursprüngliche unempfindlichkeit von kindern gegenüber
rassenmerkmalen ist wohlbekannt
Exkurs über die Triebdynamik
....
In psychologischer einschätzung erscheinen bisher die
intelligenzleistungen,
denen wir das kulturelle inventar verdanken, ungleich besser entwickelt, als
die intelligenzleistungen, die sich auf die sozialisierung des affektiven
menschen, auf die soziale erzeugung einer affekt- oder gemütsverfassung
richten. Die erschreckende begegnung mit der triebnatur hat nachhaltiger als
alle schrecken der welt sonst seine ichfähigkeiten gelähmt.
Die abwehrleistung gegen diesen schrecken ist die einübung in gewohnheiten,
welche die erziehung besorgt. Im gewohnten erlischt meist die frage.
Insbesondere auch die frage nach der herkunft der gewohnheit selbst. Aber
selbstverständnis aus der gewohnheit ist trügerisch, denn gewohnheit
verdeckt die unlust ihres zustandekommens. Das ist ihre ökonomische
ersparnis, unter umständen aber auch ihre fatale intelligenzlosigkeit
Die tendenzen einer erziehung zur einsicht sind insofern dieser
erziehungspraxis konträr, als sie die erweckung von schuldangst, soweit
es uns möglich ist, in der führung des kindes zu meiden suchen.
Die affektive zuwendung läuft nicht auf eine besitznahme des kindes
hinaus, sondern auf die freilassung zu eigener initiative
Um das zärtliche verhalten als beispiel zu nehmen: Wo es kulturell minder
geachtet wird, unterbleibt eine form der triebbefriedigung, in der
aggressive triebwünsche von libidinösen gemildert
werden und eine ganz bestimmte, eben die zärtliche äusserungsform
annehmen. Es entfällt damit aber ebenso die icherfahrung, die aggressive
und sexuelle regungen bremsen und in einer neuen verhaltensgestalt -
der zärtlichkeit - vereinen kann. Weil die erinnerungsspuren dieser
leistung fehlen, kann später in situationen, die ein solches verhalten
nahelegen würden, auf sie nicht zurückgegriffen werden. Je intensiver
diese neigungen in der kindheit verdrängt werden mussten, je stärker
die reaktionsbildung dagegen ist - zum beispiel abscheu vor weichlichkeit -,
desto weniger können zärtliche gefühle
später erlernt, überhaupt erlebt, geschweige denn kundgegeben werden
In abwandlung des Kantischen satzes `Begriffe ohne anschauung sind leer' kann
man sagen: Ein ich ohne die erfahrung der im selbst wirkenden
libidinösen und aggressiven triebregungen (und ihres
speziellen gehabens) wäre leer; triebimpulse schaffen erst die verbindung
zur welt und lassen zugleich das ich sich selbst erfahrbar werden
Man bedenke, zu welcher rücksichtslosen strenge im urteil unsere
gesellschaft sexuellen perversionen gegenüber bereit ist und wieviel
entschuldigungen bei politisch-ideologisch begründeten untaten
größten ausmaßes geltend gemacht und akzeptiert werden
Viel kollektives ritual, viele von der gesellschaft gestützte meinungs-
und lebensformen sind ebenso krank, wie einzelpersonen krankhaft sein
können ....
Weiterer konfliktstoff zwischen eltern und ihren kindern entsteht, wenn diese
mehr oder weniger eingestanden oder unbewusst gehasst werden, weil sie einen
abgelehnten teil der eigenen person verkörpern und in ihrem verhalten
szenisch darstellen. Also in ihrer haltung, ihrem aussehen schwächen und
mängel anschaulich machen, an denen mutter oder vater selbst gelitten und
für die sie sich später blind gemacht haben. Auf die unvorhergesehene
wiederbegegnung in den eigenen kindern reagieren sie hassvoll. Dies ist
wahrscheinlich der häufigste störfaktor. Durch ihn wird die
möglichkeit einer positiven identifizierung mit dem eigenen kinde
eingeschränkt; das kind widerspricht dem ichideal, das man in sich selbst
als reaktionsbildung gegen die eigene schwäche errichtet hatte
In vorwiegend bäuerlichen kulturen sind kinder kapital, natürliche,
billige hilfskräfte, eine sicherung für das alter; in der modernen
industriegesellschaft verzehrt ihre immer länger dauernde ausbildung
kapital, die alterssicherung ist weitgehend auf institutionen
übergegangen; jede generation muss die sicherung für sich selbst
schaffen
Ich und Ichideal
....
Der vater, der den kindern zurückhaltung und bescheidenheit predigt, um
dann bei tisch sich als erster das beste stück zu nehmen, übermittelt
beides: die norm und den trick, wie man sie umgeht. Das erklärt die
haltbarkeit gerade der identifizierungen mit den (von der gesellschaftlichen
norm aus beurteilt) `negativen' zügen eines vorbildes
Ein mensch, der sich mit `leidenschaft' oder dauerndem interesse auch an
schwierigen aufgaben versucht und der zugleich die realität angemessen
einzuschätzen lernt, kann lust aus diesen tätigkeiten gewinnen - und
zwar ausgesprochene `ich-lust'. Er wird die momentane unlust aus dem es, die
nicht zu vermeiden ist, wo befriedigungsaufschub verlangt wird, besser
hinnehmen. Ein gutes gegenbeispiel sind die lernschwierigkeiten vieler kinder.
Der drohende verlust des gruppenkontaktes ist ein erschreckendes erlebnis und
löst panische angst und jede erdenkliche anstrengung aus, die
Übereinstimmung wiederzufinden - nur nicht die zu einer besonnenen
kontrolle der lage .... Die mittelalterliche strafe der ächtung zeigt,
dass die gefahr, die dem individuum bei verlust der gruppenzugehörigkeit
droht, tod heisst. Und das wissen selbstverständlich diejenigen, die die
große menge zu manipulieren verstehen, genau
[Wednesday Martin, Primates of Park Avenue, Simon & Schuster, New York,
2014,
p173 “Lena's story taught me that like the social worlds of the
Bedouin and the Roma, the world of the Upper East Side
[New York's most wealthy neighborhood]
is an honor/shame culture. Shame and the fear of not fitting in or of falling
out or of being ostracized, rather than the fear of going to hell or prison,
are the main means of social control.”
p176f “The cult of "intensive mothering", peculiar to the West
and specific to the wealthy, is certainly a plague upon the mommies I studied.
Sociologist Sharon Hays, who coined the term, defines intensive mothering as
"a gendered model that [compels] mothers to expend a tremendous amount of
time, energy and money in raising their children." .... just letting them
be, borders on neglect. .... It's hard to imagine anything further off the
evolutionary script of mothering - kids hanging out in multiage groups all
day, the younger ones learning skills from the older ones so they can lend a
hand at home, while moms spend time with their sisters and cousins, parenting
together - than the plague of intensive motherhood. ....
It eventually dawned on me that having choices and the money to make them was
another plague upon my mommy tribe. ... As the choice set grows larger, those
negative effects escalate, leading to anxiety. Only one factor mitigates
this effect: if participants are not held accountable for their choices.
Privileged, intensive motherhood presents just the opposite situation. You are
utterly responsible for the potentially life-altering choice of the best and
safest car seat, stroller, and organic carrots. ....
Call it a "first-world problem", but only if you understand that it
is literally that: in much of the world, child care is not an issue, because
"it takes a village" is a way of life, not just a bumper sticker.
This allows women to work, feel fulfilled, and have lives apart from mothering
without guilt. Or anxiety.]”
Die statische sozialstruktur, die fatalistisch hingenommen werden musste, fand
eine dynamische gegentendenz, die dem einzelnen einen relativ großen
bewegungsspielraum zwischen leistungsrollen eröffnet hat. Damit wird aber
die ichidealbildung nicht einfacher. Nicht nur hat jeder den
marschallstab im tornister, was heute heisst, er hat die chance, auf allen
möglichen ebenen des establishment - etablierter sozialer
machtgruppen - mitspielen zu können; es fällt ihm zugleich auch die
möglichkeit, scheitern zu können, in reicher vielfalt zu. In diesen
fällen des misslingens, des zurückbleibens hinter idealentwürfen
des erfolges, verfestigt sich die regressive, realitätsabgewandte
neigung jeder ichidealbildung. Dem phantastisch aus der wirklichkeit entfernten
ideal entspricht im verhalten regelhaft das ressentiment, das noch einmal
verhindert, erreichbares zu erreichen.
Da dieser fehlzirkel ein wichtiges ingrediens neurotischer charakterentwicklung
ist - das ideal, das im dienste passiv phantasierter ersatzbefriedigung steht,
statt als vorentwurf aktiver , realitätsgerechter
`selbstverwirklichung' mit all ihren enttäuschungen zu wirken ....
Zwei entwicklungslinien sind durch die verfolgbare geschichte der menschheit
hindurch als konstanten erkennbar: dass sie in geometrischer progression
anwächst, dass aber der anteil des ichs am seelischen geschehen nur sehr
viel langsamer wächst
Keine der älteren sozialformen hatte eine machtausstattung, die der
unseren vergleichbar war. Keine bedurfte so zwingend der vernunft, das heisst
entwickelter ichleistungen bei jedermann. Dieser unterschied ist es, der eine
orientierung an tradierten ordnungsformen nur recht beschränkt fruchtbar
erscheinen lässt.
Aus unseren Überlegungen folgern wir deshalb die notwendigkeit, einen
erziehungsstil zu entwickeln, der sich schon in den frühesten
entwicklungsschritten des menschen seiner `ichbedürfnisse' annimmt. Die
ist der erkenntnisbeitrag, den die psychoanalyse zur lehre vom menschen
geleistet hat: Wir haben mit der stärke der triebregungen und der art, wie
sie ans ziel zu kommen trachten, als einer überhistorischen macht zu
rechnen und deshalb die notwendigkeit sozialer zwänge, welche ein leben in
der gruppe erst möglich machen, anzuerkennen. Worum es geht ist, welche art
von sozialzwängen den triebzwängen entgegengestellt wird
Mit dem erlebnis, in seinen ichbedürfnissen verstanden zu sein -
auch wenn er sich ganz anderen gegenständen, tätigkeiten zuwendet als
der vater -, erwirbt der sohn eine lebenserfahrung, mit der er immer, in jedem
beruf, in jeder sozialen stellung, etwas anzufangen vermag und die ihn nicht
zuletzt davor bewahren wird, einst den eigenen kindern unter allerlei rational
klingenden (in wahrheit rationalisierenden) begründungen das bestreiten zu
wollen, was ihm selbst nicht zuteil wurde.
Erziehung zur Ichstärkung
Es kann keinem zweifel unterliegen, dass die erziehung zur ichstärkung
in dem gesamt von tradierten und aktuell wirksamen stereotypen unserer
gesellschaft schwach, sehr schwach gesichert ist. Das wird nicht durch den kult
der persönlichkeit, als höchstes glück der erdenkinder,
widerlegt
Der unsichtbare Vater
....
Hier sei angefügt, dass wir in diesem kapitel nur eine soziale
beziehung, die zwischen vater und sohn, behandeln. Sie steht beispielhaft
für die anderen verhältnisse in der familiengruppe .... Wenn wir
gerade die kommunikation von vater und sohn herausgegriffen haben, so hat dies
seine ursache in der gesellschaftlichen sonderstellung dieser beziehung in
einer paternistischen gesellschaft. An der veränderung, welche
die gesellschaftlichen prozesse in diesem verhältnis erzwungen haben, kann
man mit besonderer deutlichkeit ablesen, wie die paternitäre
gesellschaftsordnung sich selbst in eine kritische lage manövriert hat.
Aus ihr wird sie nicht mit dem gleichen festgegründeten bewusstsein einer
unumstößlichen ordnungsform hervorgehen, das der hinter uns
liegende äon besaß ....
Je vielfältiger sich eine zivilisation entfaltet, in desto mehr
situationen übernehmen andere die lehraufgabe des vaters - bis es
schliesslich den lehrer als selbständigen beruf gibt. Lehrer
verkörpern dabei genaugenommen aspekte des fehlenden vaters
Das arbeitsbild des vaters verschwindet, wird unbekannt. Gleichzeitig mit
diesem von geschichtlichen prozessen erzwungenen verlust der anschauung
schlägt die wertung um. Der hymnischen verherrlichung des vaters - und des
vaterlandes! - folgt in der breite ein `sozialisierter vaterhass', die
`verwerfung des vaters', die entfremdung und deren seelische entsprechungen:
`angst' und `aggressivität'.
Die vorgefasste meinung, die paternitäre ordnungsreform sei gleichsam das
unumstößliche strukturprinzip jeder gesellschaft, wird leicht dazu
führen, diesen entfremdungsvorgang zwischen vätern und söhnen zu
bagatellisieren. Die auffallende unzugänglichkeit vieler jugendlicher,
ihre provokatorischen allüren, ihre indifferenz für alles, was
denÄlteren wertvoll war, ihr leiden unter einer einsamkeit, die sie in
hektischem erlebnishunger zu übertönen suchen - kurz, der schwere und
lange verlauf der adoleszenzkrise geht dann als psychopathologisches
phänomen auf das konto der jugendlichen. Bei ihnen liegt das übel, zu
dessen erklärung hauptsächlich vererbungsmythologien (der tunichtgut
im stammbaum) ins feld geführt werden. Die heiklere frage, ob nicht etwa
die lebensgewohnheiten der familie an diesem überraschenden ergebnis, dass
gute vorbilder so bedauerliche folgen zeitigen, schuld sind, bleibt
ausgeklammert. Ausgeklammert bleibt auch die logischerweise daraus folgende
frage, inwieweit gesamtgesellschaftliche prozesse an der gestaltung der
familiären lebensgewohnheiten mitwirken. Die affektive fixierung auf das
tradierte modell einer gesellschaft, in der väter vorherrschen, vorleben,
erschwert es so, die realität zu beobachten, in der von solcher
sinnfälligkeit wenig geblieben ist
.... hätte als das reale erlebnis des vaters im kinde zwei spuren
hinterlassen. Ein entfaltungsschema geordneten verhaltens, das wir
gewissen (`über-ich') nennen, wäre angelegt, und zweitens:
Ein stück bewältigungspraxis des lebens wäre vom vater
auf den sohn übermittelt worden. In sozialen verhältnissen, in denen
der bestand an jahreszeitlich gebundenen aufgaben gleichförmig durch die
generationen hindurch weitergegeben wird, scheint diese bildende seite der
erziehung kaum der beachtung wert. Sie ist dann eine art sozialer
selbstverständlichkeit. Erst wenn diese bewältigungspraxis dauernden
revolutionen unterliegt, wird sie zum problem. Besteht dann noch die
revolutionierung der praktiken des tätigen lebens in einer
fragmentierung der arbeitsleistung und in einem anwachsen
`nicht-anschaulicher' sozialleistungen - wie sie zum beispiel die ganze
verwaltungsarbeit darstellt -, so ist die folge davon ein defizit an
anschaulichkeit. Für den heranwachsenden menschen bedeutet das ein
defizit an sozialbildung. Dieser mangel - und dies wäre die these
unserer überlegungen - bleibt nicht ohne rückwirkungen auf die
gesamte formung und prägung der jeweiligen generation der söhne
durch ihre väter
Zweifellos lag der anlass der amerikanischen kulturentwicklung in der
auflehnung gegen das despotische England. Was sich dann aber nach der trennung
in Amerika vollzogen hat, war der vorgang des sichüberantwortens an
neue praktiken der lebensbewältigung, die schliesslich die wirksamkeit
eines inbegriffs der kulturellen traditionsmacht, die potestas des
vaters selbst, ungestraft paralysieren konnten - ungestraft jedenfalls durch
die väter selbst.
`Die schaffung eines Amerikaners', sagt Gorer, `verlangte, dass der vater
sowohl als vorbild wie als quelle der autorität verworfen wurde.' `Vater
wusste es nie am besten.'
`Und als sich die mutation einmal herausgebildet hatte,
wurde sie beibehalten: Wie viele generationen immer einen Amerikaner von seinen
eingewanderten vorfahren trennen mögen, er verwirft seinen vater als
autorität und vorbild und erwartet, dass seine söhne ihn verwerfen.'
Die subtile analyse Gorers ist trotz allem zu generalisierungen gezwungen. In
altbesiedelten bäuerlichen gegenden Amerikas nämlich, wie zum
beispiel in Pennsylvanien, finden sich durchaus gruppen, in denen sich
religiös verankerte sozialnormen weitgehend erhalten haben.
Die Sozialnorm der Religiosität an sich allerdings blieb den USA
bislang als allgemeine Grundlage erhalten
(siehe die Macht der Evangelicals / Religiösen Rechten in der
Ära George W. Bush).
So schreibt der SPIEGEL 30/2011p106f im Beitrag
"Gottlose Trendsetter - Worin unterscheiden sich Ungläubige von
Gläubigen?":
Die Konfessionslosen sind das am schnellsten wachsende Segment auf dem Markt
der `Weltanschauungen'. In den vergangenen zehn Jahren hat sich ihre Zahl in
den USA auf 15 Prozent verdoppelt."
....
Ungläubige rangieren in den USA ganz unten auf der Beliebtheitsskala,
noch hinter Muslimen und Schwulen. In South Carolina und Arkansas dürfen
Gottlose kein öffentliches Amt bekleiden.
Wie die
schilderungen John Gunters deutlich machen, hat hier ein Europa der
vorrevolutionären epoche überdauert, das an seinen ursprungsorten
längst von späteren sozialen wirklichkeiten überdeckt wurde.
Manche der Pennsylvania Dutch stehen noch unter dem diktat der
väterlichen autorität wie die bauernsöhne im dem jahrhundert vor
dem eindringen der maschinentechnischen revolution. Es ist also nicht das
abschütteln der bevormundung durch die auctoritas des alten Europa,
die in Amerika diesen schockierenden zerfall der vaterautorität mit sich
gebracht hat, sondern es ist nach interessanten ansätzen einer eigenen
stilentwicklung der prozess der ungehemmten ausbreitung der
maschinentechnischen organisation mit ihrer diktatur der ununterbrochenen
umstellung der lebensbewältigungspraktiken, der solches hervorrief. Die
technische entwicklung vollzog und vollzieht weiter die auflösung
jahrhundertelang tradierter handwerklicher produktionsformen und `lebensstile'.
Der an sie geknüpfte konservatismus als stil sozialer erfahrung
kann nicht aufrechterhalten werden.
Da die verbindliche, anschauliche väterliche unterweisung im tätigen
leben fehlt, hier also keine verlässliche tradition mehr besteht,
orientieren sich die altersgenossen aneinander. Die peer group, das
heisst die gruppe der altersgenossen in schule und nachbarschaft und im beruf,
wird zur richtschnur des verhaltens. Das gilt für erwachsene wie kinder
.... Von diesen beobachtungen her hat sich David Riesman zu einer neuen
`kulturtypologie' vorgetastet. Neben dem typus des traditionsgelenkten
menschen (`tradition-directed') unterscheidet er die typen des
`inner-directed', das heisst des vorwiegend gebotsgebundenen menschen,
und des `other-directed', das heisst des durch die konformität mit
seinen gruppengenossen gelenkten menschen, der zugleich der
durchschnittsbürger der neuen mittelklasse ist, wie sie die technische
massenzivilisation heraufgebracht hat .... In diesem sehr anschaulichen
vergleich spricht Riesman davon, dass bei diesem neuen menschentyp, der bei
seiner massenhaften verbreitung der typus des modernen, man möchte sagen
klassenlosen massenmenschen ist, die lenkung `anstelle durch lebenslang
gültige ziele, auf die man sich hinbewegt, durch radar erfolgt.'
Dabei kann ein dauernder richtungswechsel erfolgen: Denn zum lebensraum des
`other-directed' gehört der überraschende zuruf neuer kurzfristiger
ziele, die er schnell ergreift und aufgibt. Auch diese art der beeinflussung
wir natürlich von kindheit an gelernt. Durch sie entsteht dann neben
anderem jenes bild eines vaterverachtenden, technischen progressisten,
der in sich keinen anspruch auf `entwicklung' vorfindet, sondern für den
es gewissermaßen nur noch zwei kategorien der beurteilung gibt: ein
soziales `in-form-sein', polpulärsein, und ein vergessen-,
übergangen-, wertlossein. Der begriff des reifens als kollektiv
anerkannter ausformung beginnt zu verschwimmen
.... bäuerliche traditionswelt .... Vergleicht man diese welt mit der
unseren, so sind in der geschichte zwei stufen der entfremdung beobachtbar.
Zuerst wird die arbeitswelt von der welt des familiären lebens
weggerissen. Das wird als ereignis schon in der romanliteratur der ersten
hälfte des 19. jahrhunderts erlebt. Für das kind ist die für die
lebensfristung wichtigste lebenspraxis, die berufsausübung des vaters,
nicht mehr unmittelbar anschaulich. Aber vielleicht kann der vater noch davon
berichten und teile seiner erlernten handfertigkeiten im milieu der familie zur
anschauung bringen. Für die väter, denen der nächste schritt der
technisierung den beruf bestimmt, die in verwaltungen tätig sind, ist
nicht einmal dies mehr möglich, da ihr beruf keinerlei anschaulichkeit
mehr in sich birgt und also auch von ihm, ausser ärger und
büroklatsch, nichts mehr in die familiäre welt mit nach hause
gebracht werden kann
Charakteristisch genug sind die wenigen glücklichen erinnerungen des
patienten an seinen vater mit den kurzen stunden gemeinsamer bastelarbeit
verbunden. Aber in dieser hinsicht gab es eben keine zusammenhängende,
verbindende tätigkeit, vielmehr stand ganz die leistungsdressur als
leitmotiv über der jugend dieser kinder
....
Ein solches kind erfährt kein `urvertrauen', und es hat dann später
keinen sicheren standort, von dem aus es seine autonomie entwickeln könnte
Der ausweg, den er vorher aus dieser qual suchte, ist der, dass er die eine,
die negative seite in der beziehung zu den alten beziehungspersonen - den
eltern - belässt, die positive seite auf neue idealisierte
vorbildfiguren überträgt
Es ist wahrscheinlich keine sentimentalität, in diesen
erfahrungsgrundlagen - bei denen ja zugleich die gestaltung der landschaft
selbst durch arbeit mitvollzogen wird - den ursprung jenes
zugehörigkeitsgefühls zu suchen, den das wort `heimat' symbolisiert
.... Nun wäre es bestimmt ein verträumter irrtum, die bäuerliche
welt zu verklären - ihre dörfliche enge und inzucht, ihre rigideste
konformität und besitz- beziehungsweise selbstbewusstseinsstaffelung, die
lastende körperarbeit, die gefühlsstumpfheit und den aberglauben. Und
doch hatte sie - je ferner sie uns rückt, je mehr die technisierung die
bauernwirtschaft zu einem sich spezialisierenden wirtschaftszweig neben anderen
umformt - in allem permanenten elend eine chance, den ambivalenzkonflikt
produktiv zu schlichten. Eben durch diesen einheitlichen handlungsraum. Die
rivalität mit dem vater konnte in einer ausserverbalen, aber direkt
anschaulichen konkurrenz mit ihm, im umgang mit werkzeugen ausgetragen werden.
Der sohn konnte dem vater auf dessen eigenem feld vorpflügen und beweisen,
was er konnte. Diese direkte konkurrenz, die zur bewältigung der
affektiven gespanntheit beitrug, brauchte nicht den direkten ausdruck, den
streit; sie konnte auf dem umweg über eine beiden partnern gleichvertraute
tätigkeit geschehen.
Die trennung der väterlichen von der kindlichen welt in unserer
zivilisation lässt eine derartig anschauliche erfahrung auf beiden seiten
nicht zu; das kind weiss nicht, was der vater tut; der vater nicht, wie das
kind in seinen fertigkeiten heranwächst. Eine selbstgebaute scheune ist
auf eine andere weise zum besitz geworden als ein eisschrank oder ein automobil
.... Alles das muss ihm das gefühl der vereinsamung geben und legt ihm den
schluss nahe, dass der vater schwach, unfähig ist, dass man mit ihm nicht
rechnen kann. Umgekehrt fühlen die väter eine verständnislose
verschlossenheit an den söhnen, die es schwer oder unmöglich macht,
das rechte wort im rechten augenblick zu finden
Den `feld-anthropologen' - und als solcher fühlt sich der psychoanalytisch
tätige arzt - bewegen die in der einkleidung der individuellen situation
sich in zahlloser variation wiederholenden gleichen
entfremdungsvorgänge
Gehorsam - Autonomie - Anarchie
Gehorsam ist so notwendig, wie er ganz offensichtlich nicht
selbstverständlich ist. Er ist der stärksten und unversieglichen
leidensquellen eine .... Recht zum ungehorsam? Das kann doch nur ein so
unglaublicher sonderfall sein, dass es sich nicht lohnt, solche situationen
ernstlich ins ordnungsbewusstsein aufzunehmen. Wann sind eigentlich
`vormünder' so schlecht, dass ihnen der denkzettel des ungehorsams
gebührt? Im rechtsmodell ist das vielleicht nicht allzu schwer zu
präzisieren - aber in der unwürdigen lage selbst gehört
kälteres blut, als die meisten haben, dazu, sich der paragraphen zu
erinnern, die von der würde handeln, von der würde des
schwächeren. Man arrangiert sich auf den krummen wegen
Die schwächliche nachsicht der folgenden generation gegenüber
entstammt aber auch einem zunehmenden, aber vagen unbehagen und
schuldgefühl, in einer der tradierten bekanntheit entschlüpfenden
welt dem kind ebensowenig wie sich selbst eine innere ordnung vermitteln zu
können, was von vielen menschen regressiv mit einem rückzug auf
egoistische befriedigung ihrer triebwünsche beantwortet wird.
Weil dieses aus narzisstischer interesselosigkeit am anderen und aus
hilflosigkeit gemischte gewährenlassen wie güte aussieht und sich
unversehens mit errungenschaften fortschrittlicher erziehung vermengt, lohnt es
sich, hartnäckig die zwei grundtatsachen, an denen keine gesellschaft
vorbeikommt, zu betonen: Sie muss auch versagend ihren gliedern gegenüber
sein, muss sie lehren, versagungen zu verarbeiten, ohne sich dabei von
sich selbst zu entfremden, also weder nur passiv sich anzupassen noch sozial zu
ignorieren; und sie muss lehren, wie gruppen mit der durch diese versagungen
erregten ambivalenz der gefühlseinstellung fertig werden, wie sie sich
produktive lösungen durch sublimierung erarbeiten können. Dazu wird
nicht zuletzt gehöhren, dass man den gehorsam nicht als
selbstverständlichkeit ansieht und nicht als dressat durch
einseitiges kommunizieren vom befehlenden zum gehorchenden erzwingt,
sondern bewusste rücksicht auf den schwächeren nimmt. Der
jetzt noch schwächere soll aber einst kraftvoll, nicht unangemessen
anspruchsvoll werden
Unverstand und brutalität, die wir in der kindheit erfahren, hinterlassen
für immer spuren in unserem charakter. Wir sind eingedenk des früher
erwähnten Pascalschen satzes: `Niemals tut man so vollständig und so
gut das böse, als wenn man es mit gutem gewissen tut.' Jetzt ermessen wir
die ganze schwierigkeit der orientierung durch das ich, die im verhalten der
erwachsenen und der kinder zutage tritt. Das `böse' ist für die
eltern Luthers das moralisch gerechtfertigte gute. Für das kindliche ich
entsteht die unendlich lebenserschwerende aufgabe, zwei unvereinbar
antagonistische introjektionen als zentren seiner verhaltenssteuerung zu
gehorchen: dem introjekt, das gehorsam fordert und sich darauf beruft, es
`herzlich gut' zu meinen, und dem anderen, das unersättlich strafend,
demütigend gegen das selbst vorgeht, unversöhnlich bleibt,
einschüchtert und den selbstwert zerstört. Das sind die aspekte des
entarteten gewissens, dessen gehorsamsforderung nicht von einsicht gelenkt ist,
sondern wiederum ein unzugängliches absolutum darstellt
Unsere wege zur einsicht, unsere einübung zur selbstkontrolle in den
sozialen kontakten vollzieht sich gleichsam eingehüllt in affekte, die uns
von anderen menschen entgegenkommen ... wurde mit dem begriff des `introjektes'
angedeutet; er meint, dass in sehr frühen etappen der erfahrung eine
forderung, der wir in der umwelt begegnen, während wir unseren
bedürfnissen folgen, zu einer inneren stimme zu werden vermag .... die
introjekte werden teile des selbst, des ganzen charakters, und halten das ich
so fest umklammert, dass es ihm kaum oder gar nicht gelingt, zu ihnen in
kritischen abstand zu gelangen
Freud hat darauf hingewiesen, dass `das über-ich des kindes eigentlich
nicht nach dem vorbild der eltern, sondern des elterlichen über-ich
aufgebaut' wird.; das über-ich wird damit `zum träger der tradition,
all der zeitbeständigen wertungen, die sich auf diesem wege über
generationen fortgepflanzt haben'.
Die trennung von arbeits- und wohnplatz schafft die entfremdung in der
familiengruppe, die identifikationslockerung macht den einzelnen
anpassungsgeschmeidiger, aber auch kritik- und verantwortungsscheuer. Das
wieder treibt bemächtigungspraktiken im sozialen grossraum hervor, die
eine verfassung des einzelnen zur voraussetzung haben, in der die inhalte
des über-ichs leicht austauschbar sind. Erinnert man sich der eide, die
einem heute sechzigjährigen im laufe seines lebens abgenötigt werden
konnten und die er meist widerspruchslos leistete, so erkennt man einen fast
attrappenhaften charakter der über-ich leistungen .... Damit ist das
eigentliche merkmal der `kulturheuchelei' angedeutet. Die kulturforderung ist
nicht assimiliert, mit dem ich leistungsverknüpft, sondern ihr wird nur
zeitweilig gehorcht. Der `aussengelenkte' mensch in der Riesmannschen
terminologie darf kein über-ich bleibender inhalte haben. Oder genauer:
seine inneren leitwerte entwickeln sich nicht evolutionär, sondern
sie werden katastrophisch aneinandergereiht, wie die katastrophengeborenen
ideologien es fordern. Das mag im prinzip seine gültigkeit in allen zeiten
gehabt haben, und nur die häufung dieser um- und zusammenbrüche in
kurzem zeitraum kann als besonderheit unserer epoche gelten. Aber solche
häufigkeit der neuorientierungszwänge hat eben doch qualitative
auswirkungen auf die strukturierung der charaktere, die sie zu bewältigen
haben
Das faktische gegenbild zu den für unsere zeitläufte typischen helden
der massen sind die initiativearmen `frühpensionäre', die in ihren
wohlfahrtsstaaten nie flügge werden wollen
In einer spezialistisch organisierten grossgesellschaft mit rascher wandlung
des technischen produktionsinventars spielt gehorsam eine nicht geringere,
wahrscheinlich eine bedeutendere rolle als in einer statusgefestigten, in
begrenztere funktionsräme gegliederten gesellschaft
Die einfühlung in das kleinkind und in den jugendlichen in den krisen der
pubertät ist die unterentwickeltste sozialbeziehung in unserer
gesellschaft
Weil die sozialisierung des menschen unserer gesellschaft teils verbietend,
teils achtlos geschieht und die haltgebenden kontakte fehlen, weil dem kinde
von frühester jugend an schuldgefühle eingeflößt werden,
ohne dass ihm zugleich guter rat und eine sanfte hand zuteil würden, die
ihm zeigen würden, wie man schuld vermeidet und wie man überhaupt zu
unterscheiden lernt, wo schuld und wo ein einschüchterungsversuch
vorliegt,
[siehe auch hier]
schließlich: weil eine arbeitsteilige sozialstruktur den
verengten spezialisten braucht, der nur auf einem kleinen sektor kritisch
denken, sonst aber in unauffälligem konformismus gehorsam zeigen soll -
weil diese einflüsse sich überschichten und verwirren, vermag die
mehrheit der menschen nicht vernünftige möglichkeiten zu
verwirklichen, deren sie potentiell fähig wäre.
Das erprobte system, frühzeitig `denkhemmungen' zu setzen, das durch
jahrhunderte von den herrschenden gruppen als erziehungsleitsatz für die
massen entwickelt wurde, wird gegenwärtig mit hilfe der massenmedien,
ihrer art der nachrichtenaufbereitung, mit hilfe des einschleifens von
konsumgewohnheiten auf allen ebenen erfolgreich fortgesetzt .... Nur wer dem
prinzip der denkhemmung früh unterworfen wurde, neigt dazu, die eigene
unvollkommenheit dem anderen anzuhängen - und darüber ziemlich gewiss
die wahrung der eigentlichen chancen zu verpassen ....
Einfühlung und Distanz
Das erlebnis der nähe setzt die überwindung des triebgehorsams
voraus, in dem der andere immer nur funktionswert - und nicht mehr - für
mich hat, ein mittel zum zweck meiner befriedigung ist. Wo das aufsuchen des
mitmenschen, wie auch immer vor uns selbst begründet, aus diesem motiv
erfolgt, bleibt der andere fremd; und indem wir uns in der rechenschaft
über unsere motivation betrügen, bleiben wir uns dunkel. Mit grosser
scharfsicht hat Goethe in einem brief diesen unterschied formuliert zwischen
einsicht (und damit annäherung) und einem autistisch triebhaft motivierten
verhalten, das sich im überwurf der mitmenschlichen rücksicht
versteckt: ``Und was das gute herz, den trefflichen charakter betrifft, so sage
ich nur so viel: wir handeln eigentlich nur gut insofern wir mit uns selbst
bekannt sind; dunkelheit über uns selbst lässt uns nicht leicht zu,
das gute recht zu tun, und so ist es denn ebenso viel, als wenn das gute nicht
gut wäre.'' Charakterologisch können wir die selbstgewissheit, mit
der an der rationalisierung festgehalten wird, als ``dünkel'' bezeichnen.
Goethe fährt entsprechend fort: ``Der dünkel aber führt uns
gewiss zum bösen, ja, wenn er unbedingt ist, zum schlechten, ohne dass man
gerade sagen könnte, dass der mensch, der schlecht handelt, schlecht
sei.''
Sehr genau beschreibt Nietzsche diesen tradierten gewissensgehorsam: ``Der
inhalt unseres gewissens ist alles, was in den jahren der kindheit von uns ohne
grund regelmässig gefordert wurde, durch personen, die wir verehrten
oder fürchteten. Vom gewissen aus wird also jenes gefühl des
müssens erregt (`dies muss ich tun, dieses lassen'), welches nicht fragt:
warum muss ich? - in allen fällen, wo eine sache mit `weil' und `warum'
getan wird, handelt der mensch ohne gewissen; deshalb aber noch nicht
wider dasselbe. - Der glaube an autoritäten ist die quelle des gewissens:
es ist also nicht die stimme gottes in der brust des menschen, sondern die
stimme einiger menschen im menschen.'' Wo ein solches gewissen gut
funktioniert, sichert es die praktische anpassung und kaschiert mehr oder
weniger erfolgreich die szenen kollektiver gewissenlosigkeit. ``Alle
sogenannten praktischen menschen'', sagt Nietzsche wenig später, ``haben
ein geschick zum dienen: das eben macht sie praktisch, sei es für andere
oder für sich selbst. Robinson besaß noch einen besseren diener, als
Freitag war: das war Crusoe.''
Der einfluss der westlich aufklärerischen idee vom selbstbestimmungsrecht
der völker trifft an manchen orten auf autochthone soziale und politische
traditionen, die keineswegs vor dieser idee kapitulieren, sondern sie auf
internationaler ebene vorerst zur erpressung verwenden und sie damit in ihren
puren unsinn verwandeln .... Den grossgruppen gegenüber erscheint der
anspruch produktiver einordnung wie eine beleidigung des selbstwertes. Es gibt
keinen internationalen umgangsstil der mäßigung, der wie alle stile
zwänge in sich schließen müsste, denen die tonangebenden
gruppen vorbildlichen nachdruck verleihen müssten. Da die
großmächte jedoch fast durchgängig keineswegs
größere reife in der bewältigung internationaler konflikte an
den tag legen, tragen sie dazu bei, dass ein brutaler irrationalismus -
Vietnam! - zum internationalen verhaltensstil wird. Der aufgeblasene
nationalismus der kleinen ist die ohnmachtsgeste der hilflosigkeit in
machtkonstellationen übernationaler art, in denen der kleine entdeckt,
dass er so einflusslos bleibt, wie er es in den zeiten des kolonialismus
war.
So kommt es, dass die alten nationen, denen die errichtung der untergehenden
imperialen systeme gelungen war, keine überzeugende, d.h.
problemlösende autorität mehr besitzen. Sie gleichen eltern, die sich
mit ihren adoleszenten kindern in dauerfehde befinden, erpresst werden, weil
ihre doppelmoral nicht zu verhüllen ist. Die der adoleszenz vergleichbaren
entwicklungskrisen kollektiver gebilde scheinen aber um so
krisengefährdeter, je weniger ambivalenz in der periode bis zur
gewaltsamen erlangung der autonomie geschlichtet und in inneren leitbildern
organisiert wurde. Die rivalisierenden paternitären konstruktionen der
imperialen kolonialmethode waren offenbar keine gute vorbereitung für die
autonomie, nicht der beste initiationsritus.
Wenn irgendein slogan irreführend ist, dann doch der von der
``völkerfamilie''. Denn es gibt kein volk, das bereit wäre, seine
``kindlichkeit'' und ``unmündigkeit'' freiwillig anzuerkennen
Die neue entmündigung wird verführerisch mit versorgungsanspruch
bezahlt
Exkurs: Vom geahnten zum gelenkten Tabu
....
(Freud) Das erste menschenpaar, das den apfel pflückte, verletzte das
tabu. Die abgrenzung eines verbotenen bezirkes gehört ebenso uralt zur
lebensart des menschen wie der wunsch, in den heilig-unheimlichen bereich
einzudringen. ``Das tabu ist ein uraltes verbot, von aussen (von einer
autorität) aufgedrängt und gegen die stärksten gelüste des
menschen gerichtet. Die lust, es zu übertreten, besteht in deren
unterbewusstem fort; die menschen, die dem tabu gehorchen, haben eine
ambivalente einstellung gegen das vom tabu betroffene.''
Doch ist ausser dem - zwar in seiner reichweite ausserordentlich schwankenden,
aber überall gültigen - inzesttabu in den verschiedenen kulturgruppen
sehr verschiedenes von tabuschranken geschützt. Dafür steht keine
andere erklärung offen als die, dass den ``stärksten gelüsten''
des menschen nur eine prinzipielle schranke, aber keine inhaltlich genau
festgelegte entgegengesetzt ist. Seine triebe sind nicht definitiv
objektgebunden und zyklisch reguliert; er lebt von einer geschichtlichen
anpassung zur nächsten und schafft sich zugleich die zur anpassung
herausfordernden neuen lebensbedingungen .... Aber schon das verbotene zu
denken ist ein angstauslösender schock; oft fordert das vorwegnehmende
phantasieren einer tabuverletzung mehr mut als die spätere handlung
Rollen
....
Wir sehen diese xenophobie, diese furcht vor dem fremden, darin begründet,
dass abweichende lebens- und urteilsgewohnheiten das mühsam
aufrechterhaltene gleichgewicht zwischen versagungen und gewährungen der
eigenen sozialen ordnungen zu stören drohen. Besondere missbilligung
findet dann etwa eine eheliche verbindung über die schranken der eigenen
sozialgruppe hinweg oder auch die ausübung eines berufes, der nicht als
standesgemäß gilt. Die starke binnenorientierung der stände,
kasten, klassen, konfessionen, aber auch der berufsgruppen mit langer
traditionsordnung - von den binnenorientierungen der sprachgruppen zu schweigen
- erweckt ein sicherheitsgefühl, das nur in der reizbarkeit gegen
abweichungen etwas von der anstrengung verrät, die es kostet, durch
konformität seiner selbst gewiss zu sein. Das fremde ist nicht nur
draussen, sondern auch im individuum stets gegenwärtig. Die mühe,
welche die tonangebenden schichten auf die erzieherische beeinflussung des
jungen menschen, auf seine indoktrinierung mit der moral und dem gebilligten
verhaltenskodex aufwenden, beweist uns, dass bei dieser kultivierenden
einpassung ``bedingte reflexe'' eingeschliffen werden; was nichts anderes
bedeuten kann als die organisierung des individuums auf einer psychischen
ebene, die das kritische ich weitgehend ausschaltet. Das potentielle ich jedes
einzelnen wird damit zum feind und fremden erklärt, jede von ihm
ausgehende ``aufklärung'' erfährt erst einmal den widerstand durch
die communis opinio
Neue formen der knechtschaft sind aber mit dem selbstgefühl deshalb
leichter zu verbinden, weil die privilegierte schicht, die sich zu etablieren
beginnt, aus den eigenen reihen hervorgegangen ist und ihr machteinfluss nicht
den beigeschmack von fremdherrschaft hat. Als solche wurde aber, wegen der
sozialen berührungsfurcht, die sie zeigten, das regime der herrschenden
klassen in der feudalgesellschaft und das kapitalistisch-imperiale
bürgertum erlebt
Wir beobachten also, dass die möglichkeit zur kritischen durchdringung der
eigenen lage unentwegt dem übernehmen von rollen und stereotypen
vorurteilen geopfert wird. Die zwänge, die hier wirken, entstammen
älteren evolutionsstufen und geschichtlich langen epochen: Sie
konkurrieren übermächtig mit der bewussteren entscheidung
Keine rolle kann - ohne vergewaltigung der wirklichkeit - einen schlüssel
für alle situationen bieten, die dem begegnen möchten, der in ihr
steckt. Wer sich so in ihr verstecken will, versteckt in der rolle sein selbst.
Bis zur groteske verzerrt zeigt sich dieses verstecken des selbst unter
umständen an der rolle des richters, der sich in seinen gesetzen definiert
wähnt und auf diese weise die wirklichkeit beugt. Die faktische
unsicherheit des rollenverhaltens in einer welt nicht vorausgesehener
konfliktsituationen befördert aber den ängstlichen rückzug in
stereotypes handeln und urteilen von trostloser originalitätsarmut.
Der ausserordentliche reibungsverlust in der von mammutbürokratien
gelenkten großgesellschaft wird oft beklagt. Darin wird aber die
erfahrungsarmut in der handhabung neuer lagen sichtbar; genügsamkeit mit
der rolle heisst hier vermehrte scheu vor verantwortung, die vage nach ``oben''
delegiert wird. Das fördert eine phantasiearmut, der es nicht
einfällt, auf angemessenere lösungen zu sinnen
Unsere bisherigen beobachtungen lassen sich dahin summieren, dass alte
rollenschemata eine lebensdauer über die tiefgreifenden änderungen
der sozialen wirklichkeit hinweg beweisen; obgleich sie dann nicht mehr
funktionen im dienst einer lebenden, sondern einer vergangenen ordnung
vollbringen lassen - ihr schema wird festgehalten, weil die unlust, neues,
störendes erfahren zu müssen, die neugier auszulöschen vermag
.... Rollen können festgefügten ordnungen angemessen sein; wenn die
fundamente erschüttert sind, treten die bizarrsten rollenmuster auf, in
denen regressiv angstlinderung gesucht wird ....
Evolution zum bewusstsein heisst aufklärung ....
An die stelle einer im
menschen sich selbst verwirklichenden vernunft tritt also der versuch, in
beharrlicher analyse zu erforschen, wieviel vernunft zu zeigen ihm seine welt
eigentlich gestattet
Die sozialen rollenschemata, von denen man in den modernen
gesellschaftswissenschaften spricht, sind komplexe gehorsamsgestalten .... Das
problem, das die evolution zum bewusstsein ebenso wie die
unübersichtlichkeit der bestimmenden einflüsse in den
großgesellschaften stellt, kann in nuce formuliert werden: Wie
gelingt es, ein reziprokes verzahnen der rollen und der statuspositionen
herzustellen, das nicht allein oder überwiegend einem hierarchischen
vostellungsmodell folgt? Weisung von oben und befolgung in den tieferen
sozialen positionen ist eine ordnungsidee, deren einwegsystem, wie wir zeigten,
nicht mehr ausreicht. Reichere und zu den normen auf allen ebenen beitragende
initiativen, die eine integration durch absprache finden, wären die
alternative leitidee .... Psychologisch können wir von rollen nicht
sprechen, ohne uns jener ``doppelrollen'' zu erinnern, die wir immer auch
spielen. Es sind nicht nur agenten und spione, nicht nur intriganten und
heuchler, die so zweigesichtig handeln. Am besten wird man der
rollenproblematik gewahr, wenn man untersucht, wie sie sich zum vorwand
verhält. Der polizist, der einwandfrei seinen dienst versieht und im zuge
der geschäfte auch einmal eigenhändig einige tausend ``staatsfeinde''
gemordet hat, schwamm für diese strecke seines lebens auf der höhe
seiner zeit - und nicht, wie uns die moralisten hinterher einzureden
bemüht sind, in deren schlamm. Rollen zum vorwand exzentrischer
gelüste zu benützen ist eine konstante versuchung - in manchen
historischen augenblicken gelingt die überrumpelung auf allen ebenen ....
Wenn in der uniform im kader das eigene gesicht verschwimmt, so in mord und
schändung die wirklichkeit des anderen; er wird zum fetischding für
den autistischen drang
Das Übersteigen der Rolle
In solchen automatismen masochistischer und sadistischer art gehen es und
über-ich eine so feste bindung ein, dass dem ich nurmehr die niedere
dienstleistung bleibt, den vorwand plausibel zu machen .... Der exzess ist
einer inflation vergleichbar; die währung bleibt die gleiche
Rollen sind, wo sie nicht zu einer bandenhaften gruppenstruktur führen,
vorgegebene techniken der triebmeisterung für ein leben in der
gesellschaft. Aber sie haben eine gleichsam augenzwinkernde lebenserfahrung auf
ihrer seite, die davon weiss, dass auch unter moralischer prämisse eine
menge unverfeinerter, egoistischer triebwünsche unterzubringen sind. Und
darin nicht zuletzt gründet die rollengenügsamkeit des menschen
Vorurteile und ihre Manipulierung
Grundrechte - die Antithese zum Vorurteil
Die macht der vorurteile über die menschen ist so riesengroß, dass
jeder versuch, sich ihren einfluss zu vergegenwärtigen, hinter der
wirklichkeit zurückbleibt. Jede psychologische theorie des vorurteils ist
immer noch verharmlosung; es ist viel schlimmer. Übertreibung ist hier
leider kaum möglich. Unser alltag ist voll von entscheidungen, die durch
vorurteile erzwungen werden ....
Ein vorurteil kann erst dann dem denken als solches erscheinen, wenn es
gelingt, seine herkunft zu entziffern .... ``Sage mir, welche vorurteile du
hast, und ich sage dir, in welchem herrschaftstypus du zu hause bist.''
Unsere rechtsbücher sind durchsetzt von vorurteilen, die nichts mit einer
rechtsordnung - im sinne unseres grundgesetzes etwa -, aber alles mit der
psychischen ökonomie der gruppen zu tun haben, denen es gelungen ist, ihre
vorurteilshaltung bis zum kodifizierten recht zu erheben
Das jeweilige vorurteil, an dem festgehalten wird, soll gegen störungen
aus der fremden um- und innenwelt absichern .... meist .... durch ein ganzes
vorurteils-geflecht
Identifikationen sind unerlässlich zum
finden der eigenen identität. Entwickelt sich aber eine so starre bindung
an das fremde ich, dass sie nicht wieder gelöst werden kann, so bildet
sich eine falsche identität, eine falsche persönlichkeit, die in
ihrer entwicklung blockiert ist. Das wort ``falsch'' gilt es abermals mit
großer vorsicht zu handhaben. Uns allen haften ungelöste bindungen
aus identifikationen an. Worauf wir abzielen, ist die feststellung der
neurotischen, kranken bindungsformen, der hörigkeit, die sich in
vorurteilen, die wir nicht abzuschütteln vermögen, äussert
Es gäbe keine vorurteile, wenn wir in der lage wären, alles zu
bedenken und dann zu beurteilen. Unsere urteilskraft ist jedoch in zweifacher
hinsicht begrenzt. Wir erleben zeitgenössisch eine unabsehbare fülle
von ereignissen, in denen fortwährend entschieden wird. Man käme zu
nichts, wollte man alles nachprüfen .... Mut können wir in diesem
zusammenhang als konsistenz der ichstruktur bezeichnen; es gelingt dem ich,
sein objekt gegen einsprüche des über-ichs und des es und
natürlich auch gegen die einschüchterungen aus der sozialen mitwelt
festzuhalten und nach eigenen maßstäben urteilend mit ihm umzugehen
.... Arbeitsteilung heisst notwendigerweise erfahrungs- und dann
urteilsteilung. Arbeitsteilung kombiniert mit vielfacher nötigung
zur übernahme pauschaler affekteinstellungen ist die denkbar
gefährlichste gesellschaftliche konstellation. Es ist die situation, in
der wir leben .... Um noch einmal die mutfrage aufzugreifen: Wir wagen es
nicht, uns die motive unseres eigenen handelns einzugestehen. Aus dieser scheu
heraus projizieren wir auf mitmenschen und institutionen .... Es ist eine
banale wahrheit: Wir blicken den dingen und menschen nicht gern mutig ins auge
.... Der erste schritt misslingt meist schon: einzusehen, dass die angst aus
einschüchterungen und strafandrohungen der kindheit stammt, dass die
realität an den stellen, an denen wir angst zeigen, oft gar nicht so
gefährlich ist .... Ist viel angst vor magischen drohungen im spiel, so
verdichten sich vorurteile zu den großen tabus .... Das ich anerkennt die
tabus als seine ideale. Das ist die list der dienenden vernunft, um das
lustprinzip wiederherzustellen
Herrschaftsverhältnisse sind machtverhältnisse und als solche
keineswegs an aufgeklärten verstand gebunden. Die uralte
gebärdensprache der macht probiert auch in den kompliziertesten
gesellschaftsformen noch ebenso wie einst in sippe und horde aus, wer
stärker und wer schwächer ist.
Die kunst, vorurteilslogik an echter zu messen, kann aber am erfolgreichsten in
der beobachtung des eigenen verhaltens geübt werden .... Wird unlust zu
ertragen nicht gelehrt oder wird jeder nonkonformismus mit brutaler strafe
bedroht, so ist die vorurteilsbereitschaft schliesslich der letzte ausweg, um
reste des lustprinzips zu retten
Wenn gesamtgesellschaftliche prozesse der initiative wenig chance geben, weil
die struktur der produktionsverhältnisse die masse der
unselbständigen braucht und erzeugt, dann ist, um nur diesen einen punkt
herauszugreifen, rivalität nicht mehr im stil der entfaltung von
eigeninitiative zu befriedigen, sondern sie wird zu neid und ``bettelhaltung'',
wie wir sie bei den nestlingen gegenüber der fütternden elternfigur
beobachten
Das überleben von institutionen wie familie, kirche, nation als
ordnungshütern kann keineswegs darüber hinwegtäuschen, dass
diese gebilde die heute in unseren ländern lebenden menschen zentral
nichts mehr angehen
Die abhängigkeit aller ``landeskinder'' von renten und pensionen gibt dem
staat die kennzeichen der ur-mütterlichkeit; es wird deshalb auch eine
willfährigkeit gegenüber den geboten des staates erwartet, die eher
in die kinderstube gehört
Ohne eine in der person des vorbilds unmittelbar erfahrene sicherheit wird kein
mensch die größere unsicherheit ertragen lernen, die bewusstes
denken heraufbringt .... ``Im kampf um das gute'', schrieb Albert Einstein,
``müssten die lehrer der religion die innere größe haben und
die lehre von einem persönlichen gott fahren lassen, das heisst auf jene
quelle von furcht und hoffnung verzichten, aus der die priester in der
vergangenheit so riesige macht geschöpft haben.'' .... Max Plancks und
Albert Einsteins religiosität entstammt nicht mehr dem gewissensgehorsam,
sondern dem ``ich-gehorsam''. Unzweifelhaft vollzieht sich hier ein fortschritt
zu einer vaterlosen gesellschaft; nicht zu einer, die den vater töten
muss, um sich selbst zu bestätigen, sondern zu einer, die erwachsen wird,
die von ihm abschied zu nehmen weiss, um auf eigenen füßen zu stehen
.... Wenn wir die pathologischen symptome unserer gesellschaft so
leidenschaftslos wie die früherer zeit einschätzen, so werden wir
zweierlei vaterlosigkeit zu unterscheiden wissen: eine gesellschaft, die den
vater verliert, solange die kinder seine rolle für den aufbau ihrer
identität bräuchten wie eh und je (und die ohne ihn
mutterabhängig auf lebenszeit blieben) - und eine, die den vater besitzt,
aber in der die väter eine identität mit sich selbst erreicht haben,
die ihnen die lösung vom vatervorbild und vom ausschliesslichen denken in
kategorien der vaterschaft ermöglicht. Nur diese gesellschaft kann dann
bereiche entwickeln, in denen sie sich als mündig, als selbständig
suchend erfährt
Vorurteile setzen der spontanen reaktionsbereitschaft grenzen, geben
handlungsanweisungen. Zwar stärken sie nicht die kritischen
fähigkeiten des ichs, wohl aber das selbstgefühl, wenn es anerkennung
findet in der befolgung dessen, was rechtens, anständig, erwünscht,
gesichert, unzweifelhaft, allgemein anerkannt ist .... Das wichtigste vom
psychologischen standpunkt aus ist hierbei der vorgang des fremdmachens
der objekte, die ein feindliches aber auch idealistisch überhöhtes
vorurteil trifft
Der klatsch .... ist gleichsam der clown, der groteske imitator der
höheren kunst, mit vorurteilen umzugehen.
Je weniger macht wir in uns verspüren, uns von konventionen befreit
verhalten dürfen, desto versteckter der ausweg, auf dem wir uns
rächen. Im unauffälligen alltag wird mit kleiner münze bezahlt
.... Die ``klatschtante'' gehört zu den funktionären der
kommunikationsindustrie. Das spiegelt die konstanz eines zeitlosen
bedürfnisses in der anpassung an den prozess der urbanisierung wider. Da
nachbarn und passanten mehr und mehr anonym werden, kann man über sie
nicht klatschen .... Im grunde ist es gleichgültig, worüber
geklatscht wird; hauptsache, es lässt sich ein gemeinsames opfer ausfindig
machen .... Die macht des ohnmächtigen ist die üble nachrede .... Und
da wir am klatsch so viel freude haben, ist es fraglich, ob wir überhaupt
so erwachsen sein wollen, dass wir auf ihn ganz verzichten möchten; zu
viel vergnügen ginge dabei verloren
Massen - oder: Zweierlei Vaterlosigkeit
....
Da das schicksal der vaterlosigkeit - sowohl im sinne des verlustes erster
beziehungspersonen wie im sinne der aufgabe, dem vater zu entwachsen - von den
gesellschaften unserer zeit ertragen und gestaltet werden muss und da
gesellschaft heute eine gesellschaft von massen ist, wollen wir unsere
sozialpsychologischen überlegungen mit dem versuch schliessen, einiges zur
klärung des begriffs ``masse'' als einer die affekte bewegenden
realität beizutragen ....
Die massengesellschaft mit ihren arbeitsaufforderungen in abhängigkeit,
unter ausschluss der spurenhaften, selbstverantwortlichen leistung, schafft ein
riesenheer von rivalisierenden, neidischen geschwistern. Ihr hauptkonflikt ist
nicht durch die ödipale rivalität, die mit dem vater um die
privilegien des genusses von macht und freiheit ringt, bezeichnet, sondern
durch geschwisterneid auf den nachbarn, den konkurrenten, der mehr bekommen hat
.... Man will aufsteigen - das heisst aber, man will in erster linie
vergünstigungen erlangen, nicht verantwortung übernehmen. ``Man muss
nur ansprüche haben, aber stellung beziehen, dass muss und möchte man
nicht.'' Die hierarchie in betrieb und verwaltung ist keine, die bis in die
alten höhen der väterlichen entscheidungsgewalt hinaufreicht
[siehe hierzu auch Hannah Arendt].
Wer dort hinauf geschoben wird, erträgt das meist schlecht. Es ist sehr
bezeichnend, dass sich dafür eine signatur gefunden hat: die
managerkrankheit. Sie ist weniger eine lokaldiagnose als die beschreibung eines
typischen zusammenbruchs unter typischer sozialer belastung.
Die interessierten Agenten
Anlehnungshungriges neidverhalten ist das strukturmerkmal unserer
konkurrenzgesellschaft. Es hat durch das entstehen der verwalteten massen das
paternistische rivalitätsideal abgelöst .... Von einer solchen
identifikation mit einem ordnungsprinzip, das würde verleiht, auch wenn
die gehälter spartanisch sind, kann in den industriellen
massengesellschaften nicht mehr die rede sein. Der demagoge - es wird immer
schwerer, politiker neben ihm zu finden - und der interessenrepräsentant
(der mann der ``lobby'') haben solide vorstellungen von dem gewinn, den ihnen
der job abwerfen soll; sie selbst fühlen sich nicht verantwortlich,
sondern als interessierte agenten von gruppen- oder massenforderungen
[siehe hierzu auch Thomas Piketty].
Leistungsanspruch, angst vor überflügeltwerden und zurückbleiben
durchdringen den ganzen erlebnisbereich des individuums in der
massengesellschaft. Die angst vor dem alter hat panisches ausmass; das alter
selbst wird zu einem lebensabschnitt großer verlassenheit ohne
reziprozität mit den jüngeren generationen. Es ist eine bittere
ironie, dass sich zugleich das durchschnittliche lebensalter um jahrzehnte
verlängert hat. Die anstrengung, um jeden preis jung zu bleiben,
gehört zu den regressiven charakterzügen.
Die ewige jugend ist ein
imaginiertes ideal; da die interdependenz nur in der geschwisterrivalität
erfahren werden kann, fällt man einfach ohne nachklang aus, wenn man ein
gewisses alter erreicht hat. Man möchte leben, ohne zu altern; und man
altert in wirklichkeit, ohne zu leben.
Noch scheinbar entfernte verhaltensgewohnheiten verweisen auf die
kontaktstörung zwischen den altersstufen. Ein mächtiger trend in
jenen kliniken, die als geburtszentren fungieren, zielt auf die
rationalisierung der stillperiode. Flaschenstillung ist rascher,
gleichförmiger, arbeitsparender als bruststillung. Die große quote
von müttern, die leicht durch den betrieb dazu gebracht werden
können, ihre säuglinge nicht selbst zu stillen, beweist, dass die
zustände stärker sind als das bedürfnis, eine ordnung, hier eine
naturbedingte, zu vollziehen. Die auflösung des sozialkontaktes am anfang
und am ende der lebensspanne haben die gleiche wirkursache, die
narzisstische regression, zu der die zustände in der hauptperiode des
lebens - als arbeits- und genussvollzug - herausfordern. Zu den
ordnungsverlusten gehört also auch das fehlen eines
identitätsmodelles, in dem eine transformation des ichs in ein alterndes
enthalten wäre. Die monotonie des berufsdaseins läuft damit nach der
pensionierung weiter - im leerlauf. Der ``pensionierungsbankrott'', psychisch
und physisch, ist keine naturgegebene alterserscheinung, sondern das produkt
gesellschaftlicher bedingungen, die eine selbstentfremdung in der
anpassung übermächtig erzwingen. Jedenfalls ist sie offensichtlich
mächtiger als die kritischen widerstandsleistungen, deren das individuum
fähig wäre - vorausgesetzt, sie fänden als eine alternative die
unterstützung der gleichen gesellschaft.
Die schrumpfung des affektiven kontaktes nach dem
alten menschen hin ist in sich ein entdifferenzierungsvorgang der
gesellschaftlichen struktur. Sie gehört zum typus der gesellschaft
moderner dauermassen, die eine amnesie für alles nicht homogen
funktionierende entwickeln. Die frustrierte kindheit wird vergessen, die
existenz des alters verleugnet
Denken ist ein weites feld libidinöser befriedigung; der mensch gibt es
nicht ohne grund auf
Die perspektivische täuschung, dass vom blickpunkt eines jeden aus die
anderen zur masse gehören, bringt uns wieder zum thema: zur horizontalen
aggressionsbereitschaft, zur geschwisterrivalität. Da der moderne mensch
tatsächlich in vielen situationen auf anonyme oder fast anonyme andere
trifft, die durch keine merkmale einem gesicherten status zuzuordnen sind, die
ihm aber den weg in der einen oder anderen hinsicht verlegen, wird er diffus
auf aggression gestimmt. Sie wird nur unvollkommen durch manipulierte devisen
gerichtet
Der entindividualisierten ``masse'' entspricht auf der herrschaftsseite das
ebenso antlitzlose `system' .... Wo ``kein identifizierbarer einzelner'' die
macht in händen hält, besteht dem prinzip nach eine
geschwistergesellschaft.
Gerade auf diesen zustand ist die gesellschaft nicht vorbereitet. Er hat sich
als ein unbeabsichtigtes nebenprodukt der zu höchster zergliederung
vorangetriebenen spezialisierung eingeschlichen. Inzwischen ist er zum
hauptproblem geworden, dem die produktionsverhältnisse unterzuordnen sind,
wenn wir von zuständen zu einer ordnung finden wollen. Denn eine
bedrohliche rückwirkung hat die primärgruppe der gesellschaft
ergriffen. Die emotionalen beziehungen und die herrschaftsstruktur der familie
werden in den stil der unverbindlichen fraternisierung und der einebnung
überzeugender rangunterschiede einbezogen ....
Die fortschreitende spezialisierung hat, wie wir früher sahen, zur
vaterlosigkeit des ersten grades geführt, zum unsichtbarwerden des
leiblichen vaters oder, weniger einseitig pointiert: zur schwächung der
ersten objektbeziehungen überhaupt. Der eingriff des technischen
routinebetriebes schon in die früheste mutter-kind-beziehung ist nicht
weniger folgenreich als das verschwinden des hand-in-hand-handelns zwischen
vater und kind. Der zweite grad der vaterlosigkeit löst die personale
relation der machtverhältnisse überhaupt auf: Man kann sich, obwohl
man sie ungemildert erfährt, ``kein bild'' von ihnen machen. Das vaterlose
(und zunehmend auch mutterlose) kind wächst zum herrenlosen erwachsenen
auf, es übt anonyme funktionen aus und wird von anonymen funktionen
gesteuert. Was es sinnfällig erlebt, sind seinesgleichen in unabsehbarer
vielzahl
Die aggressivität wird - etwa beim verfolgen von wettkämpfen -
identifiziert entlastet. Wir sollten jedoch an diesem gemeinschaftserlebnis,
das in den festen aller zeiten seine vorläufer hat, den ersatzcharakter
nicht übersehen. Sicher verweisen feste - mit ihrem großartigen
erlebnis, von den realen pflichten des alltags und den allzuscharfen
gewissensforderungen entlastet zu sein - auf die bedrückungen, von denen
das fest für kurze zeit befreit; und sicher ist dies auch die
ökonomische funktion der großveranstaltungen unserer zeit. Ihre
häufigkeit, die an keinen natürlichen rhythmus gebunden ist, und die
süchtigkeit, mit der ihnen zugesprochen wird, zeugen für ein
erhöhtes bedürfnis nach zuständen der nähe, auch wenn es
eine anonyme und momentgebundene bleibt. Der mangel an stabiler gewachsenen
ersten objektbeziehungen, das kalte klima in den familiengruppen, in denen man
sich wenig oder nichts zu sagen und tatsächlich kaum etwas miteinander zu
tun hat, lenkt die affektiven erwartungen zu den stimulierenden
massendarbietungen
Andere gesellschaftliche einrichtungen können die intimsphäre zwischen
mutter und kind niemals gleichwertig ersetzen; urvertrauen erwirbt das kind nur
im umgang mit ihr und sonst mit niemandem.
Die schmerzlichen erfahrungen der ambivalenz der gefühle, den ersten
konkurrenzkonflikt, der beispielhaft für alle späteren bleibt,
erfährt man später im umgang mit mutter und vater; alle
substitutionen für sie sind weniger, als diese sein können - wenn
nicht deformierendes gesellschaftliches schicksal sie untauglich dazu macht. Es
gibt keinen ersatz für die vaterbeziehung. Versteht der vater seine rolle
und weist er dem kind die seine an, dann kann es ihm die ansätze zu seiner
eigenen planenden weitsicht absehen und auch, wie man fehlschläge
erträgt. Der vater muss frustrieren, aber er kann es auf eine nicht
ersetzbare weise, in der forderungen versöhnlich bleiben. Es sind die
wechselseitigen glückenden gefühlsbindungen zwischen mutter, kind und
vater, für welche vater wie mutter die erlebnisvoraussetzungen schaffen,
die es ihnen erlauben, erziehend zu fordern und mit den forderungen zu
versöhnen.
Die störungsmöglichkeiten in diesem gefüge haben wir zur
genüge erörtert. Zu wiederholen bleibt nur, dass eine zentrale
aufgabe der gesellschaft darin besteht, sich die einzigartige situation des
menschlichen kindes bewusst zu machen. Die zentrale aufgabe für die
erkenntnis liegt bei den humanen aufgaben der erziehung. Im ausüben der
sozialen verantwortung - als vater, mutter, lehrer, richter und so weiter -
müssen wir eines einfühlenden umganges mit dem kind und seiner
schicksalhaften position fähig sein. Wissen wir um seine abhängigkeit
und tiefste beeinflussbarkeit, dann erfahren wir erst seine nicht entfremdeten
bedürfnisse und können unsere führungsaufgabe ahnen, es zum
kritischen bewusstsein hinzuführen. Die these in all unseren ideen zur
sozialpsychologie ist, dass die gesellschaft sich selbst dazu erziehen muss,
alle interessen, die mit diesem erziehungsziel konkurrieren, ihm
unterzuordnen
Der versprechende und terroristisch bedrohende massenführer ersetzt nicht
eigentlich den vorhandelnden vater; er ist viel eher - so überraschend das
scheinen mag - in der imago einer primitiven muttergottheit unterzubringen. Er
selbst gebärdet sich dem gewissen überlegen und fordert zu einer
regressiven gehorsams- und bettelhaltung heraus, die zum verhaltensstil des
kindes in der präödipalen phase gehört. Versagt er, so wird er
aufgegeben wie ein unrentabel gewordenes bergwerk; treue kann er nicht wecken,
wenn er keine furcht mehr einflößt, keine versprechungen mehr
einlöst. ``Ubi bene ..., das langt; der rest des spruches (... ibi patria)
ist überflüssig.'' Die bindung an den ``führer'' hat (trotz
lautester gelöbnisse) nie die konfliktreiche stufe der gewissensbildung
und gewissensbindung erreicht ....
Den vater überwinden wir, im guten, indem wir liebend und
verständnisvoll auf ihn als auf einen menschen mit seinen
eigentümlichen zügen und schwächen zurückblicken; im
schlimmen, indem wir ihm hassend verbunden bleiben, mit dem wunsch, nicht so,
sondern anders zu sein. In jedem fall bleibt er in uns, ist spürbarer,
bejahter oder gemiedener teil unserer eigenen geschichte
Der Riesmansche typus des ``aussengeleiteten'' .... hat nie feste
objektverbindungen erfahren; er ist opportunist, nicht aus schwäche des
charakters, sondern weil seine charakterentwicklung überhaupt nicht zur
stabilität gediehen ist
[Note by menkaura: cf ``Die Zeit'' vom 03apr2003, p47
Die erhetzung des wohlstandes durch zeitnot (`Intensifikation' wie Marx
prägt), offenbart sich in der verdichtung der zeit durch
vergleichzeitigung in der `New Economy' und auch im privaten alltagsleben
(musik, PC, telephon, zigarette, chips, .... alles gleichzeitig, wo soll da
tiefgang, sich einlassen, raum und zeit finden?
Dies hatte Karl Marx in `Das Kapital' vorausgesehen:
``Neben das Maß der Arbeitszeit als `ausgedehnte Größe'
tritt jetzt das Maß ihres Verdichtungsgrades.''
]
Dahrendorf formuliert ....: ``Der innengeleitete mensch braucht die demokratie
als ein gerüst für den ausdruck seiner interessen, werte und ideen.
Der aussengeleitete mensch kann in einer demokratie leben, aber er braucht sie
nicht. Er braucht die gesellschaft, und solange die gesellschaft ihm die
richtung und die sicherheit gibt, die er in sich selbst nicht findet, ist es
für ihn eine relativ gleichgültige frage, wie die politischen
institutionen aussehen, in denen er lebt.'' Diese politische indifferenz
erinnert uns an den ausgang der Harlowschen versuche mit rhesusaffen; an die
liebesunfähigkeit der mit ersatzmüttern aufgezogenen individuen,
deren erlebnisvermögen nicht über sie selbst hinausreichte.
Liebesunfähigkeit im menschlichen bereich heisst auch unfähigkeit,
primäre triebregungen in interessen, in die teilhabe am gesellschaftlichen
geschehen umzusetzen, heisst festklammern an den versorgungsquellen und
protest, wo sie zu spärlich fliessen, ohne rechenschaft über ein
soziales geben und nehmen
Die verantwortung der führung bleibt beim führer, der alles weiss.
Das ich der vielen verharrt in infantiler unterschlupfhaltung.
Jede verantwortung ist nur delegiert; so sagte z.B. Hermann Göring: ``Ich
habe kein gewissen. Mein gewissen heisst Adolf Hitler''
Ohne den prozess der identifizierung kann keine gruppenbildung geschehen ....
Identifizierung heisst: Wir errichten das objekt, mit dem wir uns
gleichfühlen wollen, in uns. Dazu bedarf es einer aus der vielzahl
hervorragenden person. Wer nun zum führer wird, hängt keineswegs
allein von überragenden qualitäten einer person ab, sondern
mindestens ebenso von den bedürfnissen der gruppe
Nun spielt der gehorsam bei der bildung unseres deutschen nationalcharakters
seit je eine überragende rolle .... Nur in der ausnahme, nicht im leitbild
erscheint gehorsam in diesem nationalen habitus als ich-``gehorsam'' - in der
regel vielmehr als eine synthese aus trieb- und ziemlich ichfremdem
moral-gehorsam .... die gehorsamsleistung an sich nimmt den
höchsten rang unter den werten ein ....
Schuld, wie wir sie verstehen, ist
ein inneres erlebnis, das seine prägung vorwiegend in der
jüdisch-protestantischen mittelklasse der europäer gefunden hat. In
anderen kulturen zentriert sich das erleben des individuums in situationen, die
es mit den gesellschaftlichen geboten in konflikt bringen, in anderen
erfahrungen. In der japanischen gesellschaft etwa steht das erlebnis der scham
weit im vordergrund. Kollektive verantwortung und kollektivschuld definiert
[Margaret] Mead als ``individuelles schulderleben für das verhalten der
gruppe, besonders der nation''. Ein solches schulderleben wird es freilich nur
dort geben, wo uns der inhalt des gehorsams, der zu schuld führte,
zum bewussten erlebnis und zum problem werden kann; wo die gehorsamsfunktion
als wert jedem inhalt übergeordnet bleibt, kann schuld oder scham nur aus
dem verstoss gegen sie erwachsen. Die gesellschaft muss dem individuum deshalb
die möglichkeit geben, sich nach kräften eines konstruktiven
ungehorsams bedienen zu dürfen ....
Der sozialorganisation Englands scheint hier eine vereinigung der
gegensätze von notwendiger botmäßigkeit und ebenso notwendiger
unbotmäßigkeit geglückt zu sein. Dort ist der staatsbürger
der gesellschaft in zweifacher weise verbunden: Er fühlt sich
persönlich verantwortlich, weil er die freiheit besitzt, seiner kritik
jederzeit ausdruck zu geben und ihr etwa durch die wahl eines abgeordneten
oppositioneller richtung ins parlament nachdruck zu verleihen. Aber er bleibt
darüber hinaus gruppenidentifiziert mit der nation, die sich in der
monarchie symbolisiert .... Er könnte, wenn seine regierung durch einen
sprecher erklären ließe, wie es etwa die deutsche durch den
generalgouverneur für Polen, Hans Frank, tat: ``Grundsätzlich werden
wir nur mit dem deutschen volk mitleid haben, mit sonst niemandem auf der
welt'' - er könnte sich also niemals von einer solchen erklärung und
der verantwortung für die handlungen, die daraus folgten,
distanzieren.
.... Schuld ist hierzulande nicht an das unterlassen einer kritischen
prüfung geknüpft, sondern allein an die verletzung der
gehorsamspflicht .... Kaum je erklärte sich einer für schuldig;
schuldig waren nur die oberen, die befehlenden
Wir haben das englische beispiel der doppelten identifizierung als einen noch
nicht verbrauchten ordnungsgedanken erwähnt. Er stellt einen kontrast zur
doppelten vaterlosigkeit dar. Das system der englischen staatsordnung als
oberster ebene der sozialstruktur verbindet die geschwistergesellschaft der
erwachsenen bürger mit der erfahrung gemeinsamer verantwortung, die sich
symbolisch im königshaus darbietet. Wenn wir .... unter symbol
``eine verdichtete anschauungsform eines erlebnisvollzuges'' verstehen
.... konstitutionelle(n) monarchie .... macht .... als symbol die gemeinsame
abkunft vom gleichen vater anschaubar. Sie verbürgt eine kollektive
identität, die legitimität aller kinder
Es ging uns um die struktur der massengesellschaft und um die frage, von
welchem ansatzpunkt aus eine gegenbewegung zur regression ihren ausgang nehmen
könnte. Es genügt, wenn dabei klar wurde, dass das warten auf
erlösende ``große männer'', mit Samuel Beckett zu sprechen, ein
``Warten auf Godot'' ist
Auch als perverse, als sadisten blieben diese führer im vektor, den das
vaterbild deckt; und so ist auch das öffentliche bewusstsein bereit, ihnen
eine zwischen bewunderung und entsetzen schwankende anerkennung als makabre
größen zu erweisen.
Sehr verschieden davon mutet der unbändige, eindeutige hass an, den sich
die idealistischen köpfe, die für ein uniertes rätesystem
kämpften, etwa die beiden anführer des Spartakusaufstandes, Rosa
Luxemburg und Karl Liebknecht, zuzogen .... Im rätesystem wurde, wie Paul
Federn in einer studie schon 1919 sah, ``der sicherheitsgewinn der uralten
wunscherfüllung'', von einem mächtigen vater abzuhängen, in
frage gestellt. Denn die kinder sind es seit je nur gewohnt, ``unter der zucht
des vaters und aus scheu vor ihm sich zu vertragen''
Der vater wird als gewährender und versagender erlebt, die ambivalenz der
gefühle wird an ihm ausgetragen und zur (wie weit auch immer
glückenden) ordnung gebracht .... Die homosexuelle beziehung zwischen
vater und sohn wird von den kulturellen tabus zur sublimierung gezwungen. Diese
tabus gehören zu den am tiefsten gesicherten .... Zu den grundaufgaben der
sozialisierung des menschen gehört die sichere einübung in seiner
geschlechtsrolle; er wird nicht als bisexuelles wesen sozial erkennbar, sonder
eindeutig als ein auf seine männliche oder weibliche rolle geprägtes.
Aus der psychoanalytischen erfahrung wissen wir ferner, dass diese
rolleneinpassung eine viel schwierigere ist, als es nach dem definitiv
signalisierten rollenhabitus erscheinen mag .... Das paternistische
herrschaftsbild, wie wir es kennen, übt demnach einen entscheidenden
einfluss auf die art und weise aus, wie sich die sexuelle identität unter
der repression der bisexuellen neigungen bildet. Bricht dieses vaterbild in
sich zusammen, wie etwa das der feudalaristokratie und monarchie des ersten
weltkrieges, so muss dies eine weit hinter das bewusstsein reichende
triebunruhe schaffen. Die als allerstärkste selbstverständlichkeit
empfundene rollensicherheit wird durch den verlust der orientierung am vater
erschüttert. Die beziehung der söhne untereinander wird intensiviert
und um den teil der libidinösen wie aggressiven bindungen an den vater
verstärkt.
Offenbar wird die annäherung an eine stärker erotisch getönte
beziehung am schlechtesten ertragen, weil ihr die bewusstseinsfernsten
bindungen an die geschlechtsrolle entgegenwirken. Statt dessen tritt die
neidproblematik mit aller gewalt hervor; sie wird nicht mehr von der
vaterautorität gezügelt
Die gesellschaft rechnet zu leicht mit einem domestizierten wesen mensch. Die
großen wenden der geschichte beweisen uns, dass nichts an seiner
kulturellen anpassung definitiv ist. Es gibt keine humanität von
instinktiver qualität .... Die menschliche würde muss früh
respektiert werden, wenn sie die richtschnur in verhältnissen bleiben
soll, die wir jetzt noch gar nicht kennen
Nachwort und Dank
....
Die Lücken, die durch die Zurückweisung von Wahrnehmung entstehen,
werden durch Pseudologik verdeckt. Ihre täuschenden Aussagen sind durch
eine hohe affektive Besetzung geschützt; an sie zu rühren weckt
Missbehagen und oft Angst in einer Stärke, der das kritische Ich nicht
gewachsen ist
....
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