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Die freie Intelligenz der Regellosen
Rahel Varnhagen
von Hannah Arendt
Terror als Vollzug der Gewaltherrschaft im Rekurs auf vorgegebene
Gesetzmäßigkeiten
Die Anfälligkeit der verlassenen Seele
Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft
von Hannah Arendt
Vorrede zur Vita Activa
Von der Heiligkeit der körperlichen Arbeit
Entwicklung des Wesens der Arbeit vom Göttlichen zum Knechtischen
Die Verwurzelung
von Simone Weil
Die Substitution des Handeln freier Individuen durch die Tyrannei des
Herstellens
Von der Verherrlichung der Arbeit
Das Streben nach Verwirklichung abstrakter Ideen anstatt zu sein und zu
leben
Verteidigung der Demokratie in der Verteidigung des pluralistischen
öffentlichen
Diskurses
Die Wirkung der christlichen Heilslehre auf Selbstsicht und Wirtschaften
Vita Activa oder Vom tätigen Leben
von Hannah Arendt
Weiteres von Hannah Arendt finde z.B.
hier und
hier
Aus
Hannah Arendt, Rahel Varnhagen
R. Piper & co. Verlag München, 1959
[ Rahel Varnhagen von Ense (* 19. Mai 1771 in Berlin;
† 7. März 1833 ebenda; auch
Rahel Levin (Geburtsname), Rahel Robert bzw. Robert-Tornow (angenommener
Familienname ab Mitte der 1790er-Jahre), Friedericke Antonie (Taufname, ab
1814)) war eine deutsche Schriftstellerin. Rahel Varnhagen gehörte der
romantischen Epoche an und vertrat zugleich Positionen der europäischen
Aufklärung. Sie trat für die Emanzipation des Judentums und der
Frauen ein.
]
Herder identifizert als erster in Deutschland ausdrücklich die jetzigen,
gegenwärtigen Juden mit ihrer Geschichte und mit dem alten Testament, das
heißt, er bemüht sich, ihre Geschichte so zu verstehen, wie sie
selbst einst sie deuteten: als die Geschichte des auserwählten Volkes.
Herder hat einmal expressis verbis Vorurteilslosigkeit von dem gebildeten Juden
verlangt.
....
Daher stammt ihre schlagende Art, Dinge, Menschen, Situationen zu beschreiben.
Ihr Witz, der schon das junge Mädchen gefürchtet sein ließ, ist
nur die völlig unbeschwerte Art zu sehen. Sie lebt in keiner bestimmten
Ordnung der Welt, sie weigert sich, eine Ordnung zu lernen. Sie kann das
Entfernteste im Witz zusammenbringen, sie kann im Zusammenhängendsten die
Zusammenhanglosigkeit aufdecken.
Wenn der Mensch sich einmal dem Zufall ergeben, wenn er auf seine Autonomie
verzichtet hat, wenn er >nicht zu denen gehören will, die nicht sich
selbst aufs Spiel setzen<, dann muss er damit rechnen, unglücklich zu
werden, wie er hätte glücklich werden können; dann muß er
damit rechnen, geschändet zu werden, wie er hätte gesegnet werden
können.
Unglück und Schande ist es, wenn alles, was man hat, nur dazu da scheint,
klarzumachen, was man nicht hat; wenn >trotz der ungeheuren Gaben und
Geschenke< immer >der Glanz und die Spitze der Dinge fehlt<.
In der Welt der Meinungen ist die Wahrheit selbst nur eine Meinung, sie ist
unscheinbar.
Weil sie Goethe versteht und erst von ihm aus sich versteht, kann er ihr fast
die Tradition ersetzen.
Er [August Varnhagen] schildert sich selbst ausgezeichnet:
‘.... Aber in dieser völligen Leerheit bin ich immer offen, ein
Sonnenstrahl, eine Bewegung, eine Gestalt des Schönen oder auch nur der
Kraft werden mir nicht entgehen, ich erwarte nur, daß etwas vorgehe, ein
Bettler am Wege.‘
Immer mehr Reichtum wird gefordert, damit er den Stand ersetze. Ohne ihn ist
nichts mehr zu erreichen.
Der Ausbruch des neuen Krieges zwischen Österreich und Frankreich im Jahre
1809 rief nicht nur die deutschen Patrioten, die verzweifelt sind über
Preußens Untätigkeit, zu den Fahnen, sondern in größerem
Maßstab, wenn auch unkontrollierbarer, eine Jugend, die in dem
verkleinerten, verarmten, politisch ruinierten Staat keine Möglichkeit des
Vorwärtskommens mehr hatte. Für sie war der Krieg die einzige
Lotterie, die ihr noch eine gewisse Chance auf Gewinn bot.
So beginnt ihre Vaterlandsbegeisterung mit der enthusiastischen Bewunderung
aller Proklamationen, in denen dem französischen Volke nicht Unrecht getan
wird, in denen man >den Feind zu ehren weiß, die Nation schont und nicht
schimpft<. Was für die anderen höchstens ein Nebenbei ist:
Rechtlichkeit auch im Kriege, ist ihr die Hauptsache; ja der ganze Krieg
brauchte, ginge es nach ihr, nur zu zeigen, daß die größte
Tugend der aufgeklärten Menschheit: Gerechtigkeit, immer und überall
siegen kann. Mit dieser Tugend identifiziert sie das deutsche Volk, um auf
solch merkwürdigem Umweg, den nach ihr auf diese oder jene Manier fast
alle offiziellen Wortführer des deutschen Judentums gegangen sind, zu
einer Identifizierung mit dem deutschen Patriotismus zu kommen.
Die Sensibilität, das wortwörtliche Mit-leiden, das wiederum
distanzlos ist, ist nur der krankhaft gesteigerte Ausdruck für das
instinktive Begreifen der Würde, die jedem innewohnt, der ein menschliches
Antlitz trägt, ein Instinkt, den die Privilegierten nie kennen, der die
Humanität des Paria ausmacht, der ihn eindeutig unterscheidet von dem
gehetzten Tier, das er in der Gesellschaft darstellen muß ....
Die Menschenwürde, die Achtung vor dem menschlichen Angesicht, die der
Paria instinktartig entdeckt, ist die einzig natürliche Vorstufe für
das gesamte moralische Weltgebäude der Vernunft.
Diese Eigenschaften - und Rahel nennt sie ihre beiden
‘unaussprechlichen Fehler‘ - muß der Parvenu ablegen.
Er darf nicht dankbar sein, weil er alles seinen eigenen Kräften schuldet;
er darf keine Rücksicht für ‘menschlich Angesicht‘
kennen, weil er sich selbst als eine Art Übermensch der Tüchtigkeit,
als ein Leitbild seiner armen Pariabrüder einschätzen muß.
Rahel ist ihre ‘Fehler‘ nie losgeworden. Sie haben sie gehindert,
ein richtiger Parvenu zu werden, sich als Parvenu glücklich zu
fühlen. ....
Daß es ihr gelang, ihre Pariaqualitäten in das Parvenudasein
hinüberzuretten, hat ihr einen Ausblick eröffnet, einen Weg
vorgezeichnet in Altern und Sterben. .... Wenn er [der Paria] nämlich
für ‘unselige Lagen‘ mit der
‘Betrachtung des Ganzen‘ entlohnt wird, seine
einzig würdige Hoffnung,
‘weil alles Zusammenhang hat; und es ist wahrlich auch jedes gut genug.
Dies ist aus dem großen Bankrott des Lebens das gerettete
Vermögen.‘
Aus
Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft
Europäische Verlagsanstalt GmbH, Frankfurt am Main, 1955
(Erstausgabe 1955, Original “The Origins of Totalitarism”,
Frühjahr 1951)
NOTE: Zitate in gewöhnlicher Groß/klein-Schreibung,
zusammenfassungen/interpretationen in kleinschreibung
p5: Der antisemitismus ist, wie andere vorgänge, zBsp der hass auf den
adel in der französischen revolution, ein angriff auf eine gruppe von
menschen, die ihre macht, nicht jedoch ihren reichtum verloren hat. Denn
macht, gleich wie auch immer ausgeübt, zBsp ausbeuterisch, wird als
system-formend und -erhaltend empfunden und deshalb toleriert. Der
antisemitismus traf den jüdischen teil der bevölkerung in einer phase
des statistisch vorherzusehenden aussterberns, und nach dem ausscheiden aus dem
bankwesen etc.
p13f: Der vorwurf Platons an die sophisten war, den verstand zu verzaubern,
einen temporären sieg auf kosten der wahrheit zu beabsichtigen. Die
heutigen ideologen hingegen wollen einen permanenten sieg auf kosten der
wirklichkeit.
“Die einen, könnte man sagen, zerstörten die Würde des
menschlichen Denkens, während die anderen versuchen, die Würde des
handelnden Menschen und seiner geschichtlichen Realität zu vernichten ...
Was heute auf dem Spiel steht, ist die Existenz der Geschichte selbst, sofern
sie verstanden und darum erinnert werden kann ....”
[Anmerkung:
Dies kann seltsamer weise durchaus auch eine komische komponente
beinhalten:
Lászlo Keri, Professor, Politologe, bei dem Premier Viktor Orbán
einst studierte und der nun unter dessen Regierung
"aus Altersgründen" abgelöst wurde auf die Frage:
Wohin steuert das Land unter dieser Regierung?
" Ich glaube nicht, dass Ungarn auf dem Weg in eine Diktatur ist, obwohl
Orbán das vielleicht gern hätte", sagt der Professor:
" Aber
unser Volk neigt von jeher zum Schlendrian, und unser größter
Beitrag zur europäischen Kultur war vermutlich die Operette. Was sich
jetzt bei uns anbahnt, ist eine Operetten-Diktatur."
Der Spiegel 33/2011p94ff, Ungarn - Archipel Gulasch, von Walter Mayr]
p675ff: “Es ist in der Tat die monströse,
aber sehr schwer zurückweisbare
Behauptung der totalitären Machthaber, dass sie nicht nur nicht gesetzlos
und willkürlich handeln, sondern im Gegenteil zu den Quellen der
Autorität zurückkehrten, von denen alles positive Recht sich speist
und seine Legitimität erst erhält. Damit wird zwar der Unterschied
zwischen Schuld und Unschuld, der immer nur an positivem Recht zu messen ist
abgeschafft - und damit alle Beurteilung, Aburteilung und Bestrafung
unmöglich gemacht -, gleichzeitig aber angeblich eine höhere Form
von Gesetzestreue erzeugt, die es sich leisten könne, mit dem
kleinlichen Buchstaben positiv erlassener Gesetze nach Belieben umzugehen, weil
ihr ein Handeln entspringt, das eine direkte und unvermeidliche Ausführung
von Befehlen sei, die Geschichte oder Natur selbst gegeben haben.
[cf. hier ein neueres Beispiel]
Im Gegensatz zu dem legalen Handeln, das durch positives Recht ermöglicht
wird und das immer durch einen Mangel gerade an Gerechtigkeit gekennzeichnet
ist, weil das allgemeine Gesetz auf bestimmte Fälle angewandt wird, die es
nie in ihrer Besonderheit voraussehen konnte und auf dies es daher nie wirklich
zugeschnitten ist, im Gegensatz zu dieser immer auch ungerechten Legalität
behauptet die totalitäre Herrschaft, eine Welt herstellen zu können,
die von sich aus, unabhängig vom Handeln der Menschen in ihr,
gesetzmäß ist, in Übereinstimmung mit den die Welt eigentlich
durchwaltenden Gesetzen funktioniert - wobei es gleichgültig ist, ob
dieses Gesetz als das in der Natur geltende Recht oder ein dem geschichtlichen
Ablauf immanentes Gesetz hingestellt wird.
In der Verachtung der totalitären Gewalthaber für positives Recht
spricht sich eine unmenschliche Gesetzestreue aus, für welche Menschen nur
das Material sind, an dem die übermenschlichen Gesetze von Natur und
Geschichte vollzogen und das heißt hier im furchtbarsten Sinne des Wortes
exekutiert werden. ....
In Gegensatz zu dieser Funktion der Stabilisierung, die Gesetze in allen normal
funktionierenden Gemeinschaften haben, sind die totalitären Gesetze von
vornherein als Bewegungsgesetze, als Gesetze, die einer Bewegung immanent sind,
bestimmt. Positives Recht wird verletzt, weil es in eine dauernde
Veränderung hineingerissen ist: was gestern Recht war, ist heute
überholt und Unrecht geworden. (Juristisch gesprochen: aus jedem Gesetz
ist eine Verordnung geworden.)....
....
In den von Marx und Darwin vorgezeichneten Ideologien handelt es sich
keineswegs um einen Gegensatz zwischen Geschichte und Natur, sondern darum,
dass sich ein unwiderstehlicher Bewegungsprozess sowohl der Natur wie der
Geschichte bemächtigt hat.
Totalitäre Politik, die daranging, die Rezepte von Ideologien zu befolgen,
hat das wahre Wesen dieser Bewegungen insofern entlarvt, als sie deutlich
machte, dass es ein Ende des Prozesses nicht geben könne. ....
Mit anderen Worten, das Gesetz des Tötens, wonach totalitäre
Bewegungen die Macht antreten, bleibt bestehen als ein Gesetz der Bewegung,
selbst wenn es ihnen je gelingen sollte, die ganze Menschheit unter ihre
Herrschaft zu zwingen. ....
Wie der Gesetzesstaat positives Recht benötigt,
um das unveränderliche
ius naturale oder die ewigen Gebote Gottes oder die aus unvordenklichen
Zeiten stammenden und darum geheiligten Gebräuche und Traditionen zu
verwirklichen, so braucht totalitäre Herrschaft den Terror, um die
Prozesse von Geschichte oder Natur loszulassen und ihre Bewegungsgesetze in der
menschlichen Gesellschaft durchzusetzen. ....”
[Anmerkung:
Francis Fukuyama schreibt im Handelsblatt vom 10feb2012 p52ff unter dem Titel
"Aufstieg und Fall der Nationen":
"Das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit besteht aus Gesetzen und Rechtsakten,
die selbst für die mächtigsten politischen Akteure der Gesellschaft
gelten. Wenn man ergründen möchte, wo diese Regeln herkommen,
dann liegt die
Antwort in den allermeisten Fällen in der Religion begründet. ....
In der hinduistischen und muslimischen Welt genossen religiöse
Rechtsgelehrte ebenfalls eine gewisse Unabhängigkeit. Allerdings wurde
ihre Legitimation mit der fortschreitenden Modernisierung geschwächt.
In der arabischen Welt führte dies zu besonders tragischen Konsequenzen:
Nach der Beendigung der Kolonialzeit im 20. Jahrhundert bildeten sich hier
reine Exekutivgewalten heraus, die oft tyrannisch und korrupt waren. Deren
Macht wurde durch kein Gesetz eingeschränkt. Die Rufe nach einer Scharia
in muslimisch geprägten Ländern, die heute oft laut werden, sind
keine rückwärtsgerichteten Forderungen, sondern entspringen dem
Wunsch, dass Politiker denselben Gesetzen unterliegen wie alle anderen
Staatsbürger.
Der Begriff "Recht" in den Namen von islamistischen Parteien wie der
AKP in der Türkei
[Adalet ve Kalkınma Partisi, Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung]
oder der PJD in Marokko bezieht sich nicht vornehmlich auf den Sozialstaat,
sondern auf die Forderung nach der Einführung eines Gesetzes, welches die
Macht der politischen Führung einschränkt."
]
p680: Nach Montesquieu hat die monarchie ihr wesen in gesetzlicher regierung
mit macht in händen eines einzigen und handeln nach dem gesetz der ehre,
beruhend auf wunsch nach auszeichnung. Die republik hat ihr wesen in
verfassungsmäßiger regierung mit macht in den händen der
mehrheit des volkes und handeln nach dem prinzip der tugend, beruhend auf der
liebe zur gleichheit. Tyrannei hat ihr wesen in gesetzloser herrschaft, macht
und willkür eines einzelnen; handlungsprinzip ist die furcht, ohne
zu klären, woher diese rühre.
“Das Wesen totalitärer Herrschaft in diesem Sinne ist der Terror,
der aber nicht willkürlich und nicht nach den Regeln des Machthungers
eines einzelnen (wie in der Tyrannis), sondern in Übereinstimmung mit
außermenschlichen Prozessen und ihren natürlichen oder
geschichtlichen Gesetzen vollzogen wird. Als solcher ersetzt er den Zaun des
Gesetzes, in dessen Umhegung Menschen in Freiheit sich bewegen können,
durch ein eisernes Band, das die Menschen so stabilisiert, dass jede freie,
unvorhersehbare Handlung ausgeschlossen wird. ....
Sofern Natur und Geschichte Kräfte sind, denen bis zu einem gewissen Grad
Menschen immer unterworfen sind, haben sie den Charakter der Notwendigkeit;
versucht man, auf sie einen politischen Körper zu gründen, so hat man
nicht nur die menschliche Freiheit aus dem politischen Bereich ausgeschaltet,
sondern direkt das von Natur oder Geschichte Gezwungenwerden zur Grundlage des
gesamten Lebens gemacht. Die Prozesse von Natur und Geschichte
äußern sich politisch als Zwang und können nur durch Zwingen
realisiert werden. ....
Der Terror ist nicht ein Mittel zu einem Zweck, sondern die ständig
benötigte Exekution der Gesetze natürlicher oder geschichtlicher
Prozesse.”
p687: “Ideologien in ihrem Anspruch auf totale Welterklärung haben es
erstens an sich, nicht das, was ist, sondern nur das, was wird,
was entsteht und vergeht, zu erklären. ....”
p690: “Ihre [Hitlers und Stalins] eigentliche Originalität
bestand darin,
dass sie ideologische Aussagen buchstäblich ernst nahmen und dadurch in
Konsequenzen jagten, von denen sich der gesunde Menschenverstand, der sich an
der Wirklichkeit auch dann orientiert, wenn er von ihr eigentlich
irregeführt wird, nichts hatte träumen lassen. Macht man damit ernst,
dass im Kampf der Klassen es immer >>absterbende<< Klassen geben
muss, so folgt daraus, dass man immer neue Gruppen der Gesellschaft
ausrotten muss. ....”
p691: “Worauf die totalitären Herrschaftssysteme sich verlassen
für
die begrenzte Mobilisierung sich verhaltender Menschen, deren selbst sie nicht,
oder noch nicht, entraten können, ist dieser Zwang durch den wir uns
selbst zwingen, weil wir uns fürchten, uns selbst in Widerpsrüchen zu
verlieren. Die Tyrannei des zwangsläufigen Schlussfolgerns,
die unser Verstand
jederzeit über uns selbst loslassen kann, ist der innere Zwang, mit dem
wir uns selbst in den äußeren Zwang des Terrors einschalten und uns
an ihn gleichschalten. Das einzige Gegenprinzip gegen diesen Zwang und gegen
die Angst, sich selbst im Widersprechen zu verlieren, liegt in der menschlichen
Spontaneität, in unserer Fähigkeit,
>>eine Reihe von vorn anfangen<<
zu können. Alle Freiheit liegt in diesem Anfangenkönnen beschlossen.
Über den Anfang hat keine logische Argumentation je Gewalt, weil er aus
keiner logischen Kette ableitbar ist, ja, von allem deduzierenden Denken immer
schon vorausgesetzt werden muss, um das Zwangsläufige zum Funktionieren zu
bringen. ....”
p692: “Die große Anziehungskraft, die das dem Terror entsprechende,
sich selbst zwingende Denken auf moderne Menschen ausübt, liegt in seiner
Emanzipation von Wirklichkeit und Erfahrung. Je weniger die modernen Massen in
dieser Welt noch wirklich zu Hause sein können, desto geneigter werden sie
sich zeigen, sich in ein Narrenparadies oder eine Narrenhölle
abkommandieren zu lassen, in der alles gekannt, erklärt und von
übermenschlichen Gesetzen im vorhinein bestimmt ist. ....”
p696: “Die Grunderfahrung menschlichen Zusammenseins,
die in totalitärer Herrschaft politisch realisiert wird, ist die
Erfahrung der Verlassenheit.
.... Luther sagt dort: >>Ein solcher (nämlich ein einsamer) Mensch
folgert immer eins aus dem anderen und denkt alles zum
ärgsten.<<”
p697: In der einsamkeit bin ich niemals wirklich allein, sondern mit mir selbst
zusammen, mit diesem unbestimmten, und damit mit jedermann. Verlassen ist der
aus der gemeinschaftlichen welt verstoßene.
p698: “Was moderne Menschen so leicht in die totalitären Bewegungen
jagt und sie so gut vorbereitet für die totalitäre Herrschaft,
ist die allenthalben zunehmende Verlassenheit. ....”
Aus
Simone Weil, Die Verwurzelung - Vorspiel zu einer Erklärung der Pflichten
dem Menschen gegenüber
diaphanes, Zürich, 1. Auflage 2011
Original: L'Enracinement, Editions Gallimard, Paris, 1943
Es sind hier auch weitere Themen aus dem Werk aufgenommen, nicht lediglich
die Arbeit betreffend. Seitenangaben in ( )
Zur Arbeit geht's hier und
insbesondere ab hier
(Erster Teil - Die Bedürfnisse der Seele)
(Die Ordnung)
Wer, um die Probleme zu vereinfachen, gewisse Pflichten leugnet, hat in seinem
Inneren schon ein Bündnis mit dem Verbrechen geschlossen (14)
(Die Freiheit) [s.a.u. (30) Meinungsfreiheit]
Unter diesen Bedingungen ist die Freiheit der Menschen, die guten Willens
sind, zwar faktisch beschränkt, aber im Bewusstsein total. Da ihnen
nämlich die Regeln in Fleisch und Blut übergegangen sind, treten die
verbotenen Möglichkeiten gar nicht in ihrem Denken auf und brauchen nicht
abgewiesen zu werden (16)
Wem der gute Wille fehlt oder wer immer ein Kind bleibt, ist niemals frei, in
keinem Zustand der Gesellschaft (17)
(Der Gehorsam)
Da der Gehorsam für die Seele eine lebensnotwendige Nahrung darstellt, ist
jeder krank, der ihn definitiv entbehrt. Und jedes Gemeinwesen, welches von
einem unumschränkten Oberhaupt regiert wird, das niemandem Rechenschaft
schuldet, befindet sich in den Händen eines Kranken. Wo ein Mensch sein
ganzes Leben an der Spitze der gesellschaftlichen Organisation steht, darf er
daher kein Oberhaupt, sondern muss ein Symbol sein, wie im Fall des Königs
von England; es ist ebenso nötig, dass die Konventionen seine Freiheit
mehr einschränken als die jedes anderen Menschen aus dem Volk (18)
(Die Gleichheit)
Wo es nur einen Wesensunterschied gibt, und keinen Unterschied im Grad, besteht
keine Ungleichheit. Indem man aber das Geld zur einzigen oder fast zur einzigen
Triebfeder für alle Handlungen, zum einzigen oder fast einzigen Maß
aller Dinge macht, hat man das Gift der Ungleichheit überall ausgestreut.
Es stimmt, dass diese Ungleichheit beweglich ist; sie haftet nicht an den
Personen, denn Geld wird verdient und verloren; aber sie ist deswegen nicht
weniger wirklich (21)
(Die Strafe) [s.a.u. bei Ehre (153)](
Wie die einzige Weise, vor dem Hungernden Achtung zu zeigen, die ist, dass man
ihm zu essen gibt, so ist das einzige Mittel, dem, der das Gesetz
übertreten hat, Respekt zu bezeugen, indem man ihn durch die vom Gesetz
vorgeschriebene Strafe wieder in das Gesetz aufnimmt (24)
(Die Meinungsfreiheit)
Der Verstand ist besiegt, sobald der Äußerung der Gedanken explizit
oder implizit das Wörtchen “wir” vorausgeht. Und wenn das
Licht des Verstandes sich trübt, dann verirrt sich auch bald die Liebe zum
Guten. Eine unmittelbare, praktische Lösung ist die Abschaffung der
politischen Parteien .... die Einheitspartei, auf die dieser Kampf
unvermeidlich hinausläuft, ist der äußerste Grad des
Übels .... Eine Demokratie, in der das öffentliche Leben aus den
Kämpfen der politischen Parteien besteht, ist unfähig, die Bildung
einer einzigen Partei zu verhindern, deren Ziel die Zerstörung der
Demokratie ist. Sie führt Ausnahmegesetze ein, sie erstickt sich selbst.
Wenn sie das nicht macht, ist sie so sicher wie ein Vogel vor der Schlange
(30 f)
Die römischen Herren stellten im Flur eine Peitsche auf, so dass die
Sklaven sie sehen konnten, denn sie wussten, dass dies die Seelen in einen
todähnlichen Zustand versetzte, der für die Sklaverei unentbehrlich
ist. Umgekehrt musste ein gerechter Ägypter nach seinem Tod sagen
können: “ Ich habe niemandem Angst gemacht” (36)
(Zweiter Teil - Die Entwurzelung)
Das Geld zerstört die Wurzeln überall, wo es eindringt, indem es alle
Triebfedern durch das Gewinnstreben ersetzt. Es siegt mühelos über
die anderen Triebfedern, denn es erfordert eine weit geringere Anstrengung der
Aufmerksamkeit. Nichts ist so klar und einfach wie eine Zahl (44)
(Die Entwurzelung der Arbeiter)
Es gibt eine Position in der Gesellschaft, in der man vollkommen und immerfort
dem Geld ausgeliefert ist, als Lohnempfänger nämlich, vor allem,
seitdem jeder Arbeiter durch de Akkordlohn gezwungen wird, unausgesetzt seine
Lohntüte im Kopf zu behalten .... Bernanos schreibt zwar, unsere Arbeiter
seien zumindest keine Einwanderer wie die von Herrn Ford. Die
hauptsächliche soziale Schwierigkeit unserer Zeit kommt aber daher, dass
sie es in einem gewissen Sinne doch sind. Obwohl sie, geographisch betrachtet,
immer am selben Ort bleiben, sind sie geistig entwurzelt, verbannt und dann,
als seien sie nur geduldet, als Arbeitstiere wieder aufgenommen worden. Die
Arbeitslosigkeit ist selbstverständlich eine potenzierte Entwurzelung. Die
Arbeitslosen sind nirgends mehr zu Hause, weder in den Fabriken noch in ihren
Unterkünften, noch in den angeblich für sie gegründeten Parteien
oder Gewerkschaften, noch in den Vergnügungsstätten, noch in der
intellektuellen Bildung, wenn sie versuchen, sich ihr zu nähern (44f)
(Entwurzelung der Nation)
Aber das totalitäre Phänomen des Staates besteht darin, dass die
öffentlichen Gewalten das ihnen anvertraute Volk wie ein Eroberer
unterdrücken, ohne ihm das Unglück ersparen zu können, das mit
jeder Eroberung verbunden ist, um über ein besseres Instrument für
die Eroberung nach außen zu verfügen (112f)
Es ist unannehmbar, dass ein Verstoß gegen die Ehre auf dieselbe Weise
bestraft wird wie ein Diebstahl oder ein Mord. Wer sein Vaterland nicht mehr
verteidigen will, soll nicht sein Leben oder seine Freiheit verlieren, sondern
schlicht und einfach sein Vaterland (153)
Bernanos hat begriffen und ausgesprochen, dass mit dem Hitlerunwesen das
heidnische Rom wiederkehrt (158)
Außerdem muss das Verbrechen des Missbrauchs eines öffentlichen
Amtes strenger bestraft werden als bewaffneter Einbruchdiebstahl (166)
(Dritter Teil - Die Verwurzelung)
Der Krieg von 1870 zeigt, was Frankreich in den Augen der Welt galt. In diesem
Krieg waren die Franzosen die Angreifer, trotz der List der Emser Depesche;
diese List ist sogar der Beweis dafür, dass die Aggression von
französischer Seite kam. Die Deutschen, uneins untereinander und noch
zitternd in der Erinnerung an Napoleon, waren auf eine Invasion eingestellt.
Sie waren sehr überrascht, als sie in Frankreich eindrangen wie in ein
Stück Butter. Aber ihre Überraschung war noch größer, als
sie plötzlich in den Augen Europas als die Schreckensgestalt dastanden, wo
doch ihr einziger Fehler gewesen war, sich siegreich zu verteidigen. Aber das
besiegte Land war Frankreich; und dies reichte, trotz Napoleon, aufgrund von
1789 dafür, dass die Sieger verabscheut wurden. .... Daher stammt
vielleicht der Minderwertigkeitskomplex der Deutschen, diese dem Anschein nach
widersprüchliche Mischung aus schlechtem Gewissen und dem Gefühl, man
habe ihnen Unrecht getan, und ihrer grausamen Reaktion darauf. Auf jeden Fall
trat von dem Moment an im europäischen Bewusstsein der Preuße an die
Stelle dessen, was man bis dahin für den Deutschen gehalten hatte, das
heißt des blauäugigen, träumerischen Musikers, des
“gutmütigen”, vollkommen harmlosen Pfeifenrauchers und
Biertrinkers, den man noch bei Balzac findet. Und Deutschland wurde nach und
nach dem neuen Bild immer ähnlicher (180f)
Es stimmt, dass zwischen Talent und moralischem Verhalten keine Verbindung
besteht; aber das liegt daran, dass dem Talent die Größe fehlt.
Falsch ist, dass es keine Verbindungen zwischen der vollkommenen
Schönheit, der vollkommenen Wahrheit, der vollkommenen Gerechtigkeit gibt;
es bestehen mehr als Verbindungen, es besteht eine geheimnisvolle Einheit,
denn es handelt sich um ein einziges Gut (216)
Die romanischen Kirchen und der gregorianische Gesang strahlen Heiligkeit aus.
Monteverdi, Bach und Mozart waren reine Wesen in ihrem Leben wie in ihrem Werk.
Wenn es Genies gibt, deren Genialität so rein ist, dass sie offenkundig
der Größe der vollkommenen Heiligen nahekommt, warum soll man dann
seine Zeit mit der Bewunderung anderer verlieren? (217)
Hitler hat sehr wohl erkannt, wie absurd die Auffassung des 18. Jahrhunderts
ist, die noch heute gilt und deren Wurzel im Übrigen schon bei Descartes
zu finden ist. Seit zwei oder drei Jahrhunderten glaubt man gleichzeitig, dass
die Kraft die einzige Herrin aller Naturphänomene ist und dass die
Menschen auf die Gerechtigkeit, die sie als Werkzeug der Venunft erkannt haben,
ihre wechselseitigen Beziehungen gründen können und sollen. Das ist
ein schreiender Widersinn. Es ist nicht vorstellbar, dass im Universum alles
ausschließlich der Kraft unterworfen ist und dass der Mensch dem entzogen
werden kann, wo er doch aus Fleisch und Blut besteht und sein ruheloses Denken
den Sinneseindrücken unterliegt.
Hier ist eine Wahl zu treffen. Entweder man muss wahrnehmen, dass im Universum
neben der Kraft noch ein anderes Prinzip wirkt, oder man muss die Kraft als
einzige und unumschränkte Herrscherin auch über die menschlichen
Beziehungen anerkennen. Im ersten Fall stellt man sich radikal gegen die
gesamte moderne Wissenschaft, die von Galilei, Descartes und einigen andern
begründet, im 18. Jahrhundert insbesondere von Newton, dann im 19. und 20.
Jahrhundert von einigen anderen fortgeführt wurde. Im zweiten Fall stellt man
sich radikal gegen den Humanismus, der in der Renaissance entsprang, 1789
triumphierte und in einer beträchtlich verkommenen Form den Geist der
gesamten Dritten Republik bestimmte. Die Philosophie, die den laizistischen
Geist und die radikale Politik inspirierte, ist gleichzeitig auf diese
Wissenschaft und auf diesen Humanismus gegründet, die, wie man sieht, ganz
offenkundig unvereinbar sind. Man kann also nicht sagen, der Sieg Hitlers
über Frankreich im Jahre 1940 sei der Sieg einer Lüge über eine
Wahrheit gewesen. Eine inkohärente Lüge wurde von einer
kohärenten Lüge besiegt. Deshalb erlagen zugleich mit den Waffen auch
die Geister.
Im Lauf der letzten Jahrhunderte spürte man verworren den Widerspruch
zwischen Wissenschaft und Humanismus, obwohl man nie den intellektuellen Mut
aufbrachte, ihm offen ins Auge zu sehen. Man versuchte ihn zu lösen, ohne
ihn vorher betrachtet zu haben. Eine solche geistige Unredlichkeit rächt
sich immer mit einem Irrtum.
Die Frucht eines dieser Versuche war der Utilitarismus. Es wird ein wunderbarer
kleiner Mechanismus angenommen, mit dessen Hilfe die Kraft, sowie sie in der
Späre der menschlichen Beziehungen tritt, automatisch Gerechtigkeit
erzeugt (222 f)
Ein Mensch, der sich die Mühe macht, eine Apologie der Sklaverei
auszuarbeiten, liebt die Gerechtigkeit nicht (225)
Aber als die christliche Religion offiziell vom Römischen Reich
übernommen wurde, stellte man den unpersönlichen Aspekt Gottes und
der Göttlichen Vorsehung in den Schatten. Man machte aus Gott einen
Doppelgänger des Kaisers. Dies konnte leicht geschehen, aufgrund der
jüdischen Strömung, von der sich das Christentum wegen seiner
historischen Herkunft nicht zu läutern vermocht hatte. In den Texten aus
der Zeit vor dem Exil hatte Jehova zu den Hebräern juristisch gesehen das
Verhältnis eines Herrn zu seinen Sklaven.
[Exodus 2 / Israelstele: Auszug der Israeliten aus
Ägypten während der Regierungszeit des Merenptah, Nachfolger
Ramses II, 1213 bis 1204 vChr.
Ab 587vChr Zerstörung Jerusalems, Beginn des Babylonischen Exils]
Sie waren die Sklaven des Pharao;
Jehova, der sie aus den Händen des Pharao
befreit hatte, war diesem rechtlich nachgefolgt. Sie sind sein Eigentum, und er
herrscht über sie, wie irgend ein Mensch über seine Sklaven herrscht,
nur dass er über eine umfassendere Auswahl an Belohnungen und Strafen
verfügt. Er befiehlt ihnen unterschiedslos Gutes und Böses, aber viel
häufiger Böses, und in beiden Fällen müssen sie ihm
gehorchen. Es spielt keine große Rolle, dass sie den niedrigsten
Triebfedern folgend gehorsam sind, wenn nur die Befehle ausgeführt werden.
Diese Auffassung entsprach genau dem Herz und dem Verstand der Römer. Bei
ihnen hatte sich der Geist der Sklaverei in alle menschlichen Beziehungen
eingeschlichen und sie verdorben (250f)
Was im Kult des Kaisers vergöttlicht wurde, war also nichts anderes als
die Institution der Sklaverei. Millionen von Sklaven verehrten
götzendienerisch ihren Besitzer.
Genau das bestimmte die Haltung der Römer in Fragen der Religion. Es
hieß, sie seien tolerant. Sie tolerierten tatsächlich alle
religiösen Praktiken ohne geistigen Inhalt.
Es ist wahrscheinlich, dass Hitler, wenn es ihm einfiele, ohne Gefahr die
Theosophie dulden könnte. Die Römer konnten ohne weiteres den
Mithra-Kult tolerieren als orientalischen Humbug für Snobs und Frauen, die
nichts zu tun hatten.
Ihre Toleranz machte zwei Ausnahmen. Einmal konnten sie natürlich nicht
ertragen, dass jemand, wer auch immer, sich Besitzrechte auf ihre Sklaven
anmaßte. Daher kam ihre Feindseligkeit gegen Jehova. Die Juden waren ihr
Eigentum und konnten keinen anderen menschlichen oder göttlichen Besitzer
haben. Es handelte sich daher um einen Streit zwischen Sklavenhaltern. Aus
Angst um ihr Prestige und um durch ein Experiment zu zeigen, dass sie die
Herren seien, töteten sie beinahe das gesamte menschliche Vieh, dessen
Besitz umstritten war.
Die andere Ausnahme bezog sich auf das spirituelle Leben. Die Römer
konnten nichts dulden, das reich an spirituellem Gehalt war. Die Liebe zu Gott
ist ein gefährliches Feuer, dessen Berührung ihrer erbärmlichen
Vergötzung der Sklaverei zum Verhängnis werden konnte. So
zerstörten sie gnadenlos das spirituelle Leben in allen seinen Formen.
....
Trotzdem war ihnen bei ihrem grobschlächtigen Götzendienst nicht ganz
wohl. Wie Hitler wussten sie um den Wert einer vorgetäuschten geistigen
Hülle. Sie hätten gern die äußere Schale einer echten
religiösen Tradition übernommen, um damit ihren allzu sichtbaren
Atheismus zu verdecken. Auch Hitler würde gern eine Religion finden oder
stiften (254 f)
Weder der Begriff der Pflicht noch der des Rechts lässt sich auf Gott
anwenden, aber der des Rechts unendlich weniger. Denn der Begriff des Rechts
ist unendlich weiter vom wahren Guten entfernt. Er ist eine Mischung aus Gut
und Böse; denn der Besitz eines Rechts enthält die Möglichkeit,
es zum Guten wie zum Bösen zu verwenden. Im Gegensatz dazu ist die
Erfüllung einer Pflicht immer bedingungslos ein Gut in jeder Hinsicht.
Deshalb begingen die Leute von 1789 einen so verhängnisvollen Fehler, als
sie den Begriff des Rechts zu ihrem geistigen Prinzip erhoben.
Ein unumschränktes Recht ist das Recht des Eigentums nach der
römischen Auffassung oder jeder anderen, die im Wesentlichen mit ihr
identisch ist. Gott ein unumschränktes Recht ohne Pflichten zuzuschreiben
heißt das unendliche Äquivalent eines römischen Sklavenhalters
aus ihm machen. Das erlaubt nur eine sklavische Ergebenheit. Die Ergebenheit
eines Sklaven ist für den Menschen, der ihn als sein Eigentum betrachtet,
etwas Niedriges. Die Liebe, die einen freien Menschen antreibt, sich mit Leib
und Seele dem hinzugeben, der das vollkommene Gut darstellt, ist das Gegenteil
einer sklavischen Liebe (257)
Gott verletzt die Weltordnung, um daraus nicht das entspringen zu lassen, was
er erzeugen will, sondern die Ursachen, die das, was er erzeugen will, als
Wirkung haben (258)
Das Gut, das der Mensch im Universum zu beobachten vermag, ist endlich,
begrenzt. Versucht man also, darin Anzeichen göttlichen Handelns zu
finden, macht man Gott selbst zu einem endlichen, begrenzten Gut. Das ist
Blasphemie (259)
Jede Interpretation der Geschichte im Sinne der Vorsehung kann sich nur genau
auf diesem Niveau der Dummheit bewegen (260)
Als dieRömer glaubten, den Stoizismus entehren zu müssen, indem sie
ihn übernahmen, ersetzten sie selbstverständlich die Liebe durch eine
Gefühllosigkeit, deren Grundlage der Stolz war. Daher kommt das heute noch
bestehende Vorurteil eines Widerspruchs zwischen Stoizismus und Christentum,
während sie in Wirklichkeit geistige Zwillinge sind. Sogar die Namen der
Personen der Dreifaltigkeit - Logos, Pneuma - sind dem Vokabular der Stoa
entlehnt. Die Kenntnis gewisser Theorien der Stoa wirft ein lebendiges Licht
auf mehrere rätselhafte Stellen des Neuen Testaments. Zwischen den beiden
Denkformen fand ein Austausch statt, der auf ihre geistige Verwandtschaft
zurückgeht. In der Mitte der beiden stehen die Demut, der Gehorsam und die
Liebe. Doch verschiedene Texte weisen daruf hin, dass das stoische Denken sich
über die gesamte antike Welt bis in den Fernen Osten ausgebreitet hatte.
Die ganze Menschheit lebte einst in der strahlenden Helle des Gedankens, dass
das Universum, in dem wir uns befinden, nichts anderes ist als der vollkommende
Gehorsam.
Die Griechen berauschte es, in der Wissenschaft eine offenkundige
Bestätigung dafür zu finden, und das war der Beweggrund ihrer
Begeisterung für sie (268)
Jasagen zur körperlichen Arbeit ist nach dem Jasagen zum Tod die
vollkommenste Form der Tugend des Gehorsams.
Der Strafcharakter der Arbeit, der im Bericht der Genesis bezeugt wird,
ist falsch verstanden worden, da kein richtiger Begriff der Strafe da war. Zu
Unrecht liest man aus diesem Text eine verächtliche Nuance der Arbeit
gegenüber heraus. Es ist wahrscheinlicher, dass er, dieser Text, von einer
uralten Kultur überliefert wurde, in der die körperliche Arbeit mehr als
jede andere Tätigkeit in Ehren stand.
Verschiedene Zeichen weisen darauf hin, dass es eine solche Kultur gegeben
hat, dass vor langer, langer Zeit die körperliche Arbeit in erster Linie eine
religiöse Tätigkeit und infolgedessen etwas Heiliges war ....
Auf jeden Fall gehen in allen religiösen Überlieferungen des
Altertums, inbegriffen das Alte Testament, die Handwerke auf eine direkte
Unterweisung Gottes zurück ....
Weder bei Homer noch bei Hesiod noch in der griechischen Klassik noch in dem
Wenigen, das wir von den anderen Kulturen des Altertums wissen, finden wir eine
Spur davon [von diesem Wissen um die Heiligkeit der Ausübung eines
Handwerkes]. In Griechenland war die Arbeit etwas
für Sklaven .... Ganz zu Anfang des klassischen Griechenlands sehen wir
eine Kulturform zu Ende gehen, in der außer der körperlichen Arbeit
alle menschlichen Tätigkeiten heilig waren; in der sich Kunst, Dichtung,
Philosophie, Wissenschaft und Politik sozusagen nicht von der Religion
unterschieden. Ein oder zwei Jahrhunderte später waren alle diese
Tätigkeiten durch einen für uns nicht klar erkennbaren Mechanismus,
bei dem jedenfalls das Geld eine große Rolle spielte,
ausschließlich profan geworden und hatten jegliche Inspiration
eingebüßt. Das bisschen Religion, das übriggeblieben war, wurde
an die für den Gottesdienst vorgesehenen Stätten verwiesen. Platon
war in seiner Zeit ein Relikt einer schon fernen Vergangenheit. Die
griechischen Stoiker waren eine Flamme, die aus einem noch lebendigen Funken
derselben Vergangenheit entsprang.
Die Römer, eine atheistische und materialistische Nation, vernichteten
die Überreste des spirituellen Lebens in den von ihnen besetzten Gebieten
durch Ausrottung; sie übernahmen das Christentum nur, indem sie es seines
spirituellen Gehaltes entleerten. Unter ihrer Herrschaft war jede menschliche
Tätigkeit ausschließlich Sklavenarbeit; und schließlich nahmen
sie der Institution der Sklaverei jede Wirklichkeit, was deren Verschwinden
vorbereitete, indem alle menschlichen Wesen auf den Stand von Sklaven
herabgewürdigt wurden (273ff)
Der Begriff der Orthodoxie trennte den Bereich des Seelenheils, welcher der
einer absoluten Unterwerfung des Denkens unter eine äußere
Autorität ist, und den Bereich der sogenannten profanen Dinge, in dem der
Verstand frei ist, streng voneinander, wodurch er die gegenseitige
Durchdringung des Religiösen und des Profanen unmöglich machte, die
das Wesen einer christlichen Kultur wäre. Vergebens wird täglich in
der Messe dem Wein ein wenig Wasser beigemischt (276)
Wenn ein Mensch durch ein Vergehen den Kreis des Guten verlassen hat, dann
besteht die wahrhafte Strafe darin, ihn durch das Mittel des Schmerzes wieder
in die Fülle des Guten zurückzuführen. Nichts ist so wunderbar
wie eine Strafe.
Der Mensch hat den Kreis des Gehorsams verlassen. Gott hat als Strafen die
Arbeit und den Tod gewählt. Infolgedessen bilden die Arbeit und der Tod,
wenn der Mensch sie erduldet und sie zustimmend erduldet, eine
Überführung in das höchste Gut des Gottesgehorsams (277)
Die körperliche Arbeit ist ein täglicher Tod ....
Das menschliche Denken herrscht über die Zeit, er durcheilt pausenlos
Vergangenheit und Zukunft und überwindet jegliche Zwischenräume; aber
wer arbeitet, ist der Zeit unterworfen wie die träge Materie, die einen
Augenblick nach dem anderen überwindet. In diesem Sinne vor allem tut die
Arbeit der menschlichen Natur Gewalt an. Darum sagen die Arbeiter über das
Leiden der Arbeit, dass ein Tag sehr lange ist.
Das Jasagen zum Tod, wenn der Tod gegenwärtig ist und unverhüllt
erscheint, ist das äußerste, augenblickliche Losreißen von
dem, was jeder sein Ich nennt. Das Jasagen zur Arbeit ist weniger gewaltsam.
Aber wenn es vollständig ist, wird es jeden Morgen erneuert, ein ganzes
menschliches Dasein lang. Tag für Tag, und jeden Tag dauert es bis zum
Abend, und am nächsten Tag fängt es wieder an und das geht oft so
weiter bis zum Tod. Jeden Morgen sagt der Arbeiter für diesen Tag und
für das ganze Leben ja zur Arbeit. Er sagt ja, egal ob er traurig oder
froh ist, besorgt oder vergnügungssüchtig, müde oder voll
überschüssiger Energie.
Unmittelbar nach dem Jasagen zum Tod ist das Jasagen zum Gesetz, das die
Arbeit zur Erhaltung des Lebens unerlässlich macht, er vollkommenste Akt
des Gehorsams, den der Mensch zu erfüllen hat.
Daher stehen die anderen menschlichen Tätigkeiten, Menschenführung,
Ausarbeitung technischer Pläne, Kunst, Wissenschaft, Philosophie und so
fort, in ihrer geistigen Bedeutung sämtlich unter der körperlichen
Arbeit.
Leicht ist die Stelle zu definieren, die in einem gut geordneten
gesellschaftlichen Leben die körperliche Arbeit einnehmen soll.
Sie muss dessen geistige Mitte sein (278f) - Ende -
Aus
Hannah Arendt, Vita Activa oder Vom tätigen Leben
W. Kohlhammer Verlag, Stuttgart 1960
(english “The Human Condition”,
University of Chicago Press, Chicago 1958)
Die Seitenzählung folgt bis Seite 96 der Ausgabe des
W. Kohlhammer Verlages, Stuttgart von 1960
(Notation der Form `pk11'),
danach der Ausgabe des Piper Verlages, München und
Zürich, 5. Auflage Januar 2007, ISBN-10: 3-492-23623-5
(Notation der Form `p111')
Notationen “p59u” meinen: auf Seite 59 unten (oben/mitte)
Einleitung
pk11 = p12u:
“Die Neuzeit hat im siebzehnten Jahrhundert damit begonnen, theoretisch
die Arbeit zu verherrlichen, und sie hat zu Beginn unseres Jahrhunderts damit
geendet, die Gesellschaft im Ganzen in eine Arbeitsgesellschaft zu verwandeln.
... Was uns bevorsteht, ist die Aussicht auf eine Arbeitsgesellschaft, der die
Arbeit ausgegangen ist, also die einzige Tätigkeit, auf die sie sich noch
versteht. Was könnte verhängnisvoller sein?”
[Hier findet sich eine Fortsetzung dieses Gedankens:
p157]
1 - Die menschliche Bedingtheit
[Zusammenfassung bis p41: Die Griechen sahen die Polis als einen Weg aus dem
privaten Dunkel in das Licht der Freiheit. Die Neuzeit flieht aus der
Verpflichtung des Gesellschaftlichen in die Sicherheit des eigenen (idion)
intimen Lebens.
Die Familie stirbt, ihre Funktionen werden von der Gesellschaft
übernommen.
]
[Siehe dringend ergänzend
hier
und andernorts bei Alexander Mitscherlich]
pk18f: Das wort Vita activa findet sich erst in der mittelalterlichen
Philosophie zur übersetzung des Aristotelischen `bios politikos' ins
lateinische.
“.... liegt der Hauptunterschied ... darin, dass Aristoteles damit
ausdrücklich nur den Bereich des im eigentlichen Sinne Politischen meinte,
und mit ihm das Handeln als die im eigentlichen Sinne politische
Tätigkeit. Im Sinne der Griechen konnten weder Arbeiten noch Herstellen
überhaupt einen ,,bios" bilden, das heißt eine Lebensweise, die eines
freien Mannes würdig ist und in der sich Freiheit manifestiert ...
weil ... das eigentlich Politische keineswegs notwendigerweise entstand, wo
immer Menschen in geordneten Verhältnissen zusammenleben ... gerade weil
für menschliches Zusammenleben Organisation notwendig ist, galt ihnen ein
solches bloßes Organisiertsein noch nicht als politisch ....”
pk20:
Mit dem verschwinden des antiken stadt-staates wurde die politische vita activa
mehr und mehr zu einer bezeichnung für alle arten von aktiver
beschäftigung mit den dingen der welt. Allein die vita contemplativa blieb
damit von den drei Aristotelischen möglichkeiten des ,,schönen Lebens"
übrig (genuss des körperlich schönen / schaffung schöner
taten in der polis / kontemplativer aufenthalt des philosophen im
immerwährend schönen)
pk24: Aufgabe und mögliche größe der sterblichen liegt im
vermögen, dinge - werke, taten, worte - hervorzubringen die einen platz im
kosmos des immerwährenden verdienen und damit dem einzig
vergänglichen menschen einen platz in der ordnung des
unvergänglichen zuweisen können.
pk26: Der untergang des [ewigen] römischen reiches und die botschaft des
christentums, jeder mensch lebe von nun an ewiglich stellte folgerichtig das
ende der existenz der antiken religionen dar, die ja umgekehrt auf des menschen
sterblichkeit und dem streben nach möglicher unsterblichkeit der von ihm
geschaffenen welt beruht hatten
2 - Der Raum des Öffentlichen und der Bereich des Privaten
pk28f:
Wenn also Thomas [von Aquin] sagt: homo est naturaliter politicus, id est
sozialis - der mensch ist von natur politisch, das heißt
gesellschaftlich,
ist dies ein großer Abfall vom ursprünglichen Sinn
es Begriffes “politisch”:
Das Wort “sozial” gibt es im Griechischen nicht; es bedeutet bei den
Römern ein Bündnis zwischen Menschen zur Erreichung eines bestimmten
Zweckes, zBsp Erlangung der Herrschaft, Begehen eines Verbrechens.
(Anm 11: Das deutsche Wort “Gesellschaft” setzt sich zusammen
aus der Gemeinschaftsbeziehungen bezeichnenden Vorsilbe “ge” und
dem Wort für das germanische Einraumhaus “Saal”, bedeutet also
“Saalhausgemeinschaft”)
Zur Gründung der Polis wurden alle anderen Verbände abgeschafft;
jedermann lebte fortan in zwei Welten: der privaten, der politischen. Von allen
Tätigkeiten im Zusammenleben sind nur zwei politisch: Handeln und Reden,
sie begründen den Bereich “menschliche Angelegenheiten”
(Platon), aus dem alles nur notwendige oder nur nützliche ausgeschlossen
ist.
Bereits sprechen ist handeln, nur Gewalt ist stumm und kann damit auch niemals
Größe haben. Damit bedeutet, politisch zu sein, alle Angelegenheiten
mit Worten zu regeln, nicht mit Gewalt.
pk32: Da dem schieren Überleben des Einzelnen und der Gattung dienend, war
die Ökonomie nicht-politisch
pk34: Der private Haushalt ist Macht, Schrecken, Ungleichheit, die Polis ist
Gleichheit, Befehlslosigkeit, Ungezwungenheit
pk35: Die Kluft zwischen Haushalt und politischem Leben verschwindet in der
Neuzeit, der private Bereich verschlingt den Öffentlichen.
pk36: Charakteristisch hierfür: in der Polis ist das Verhältnis
Herr / Diener Privatsache [ungesetzlich] - der Feudalherr andererseits
spricht Recht innerhalb der Grenzen seiner Herrschaft.
pk37f: Mut ist eine politische Kardinaltugend - die Sicherheit des Privaten
muss aufgegeben werden.
pk39: Für die Polis galt: wer nur privat war, war nicht eigentlich
Mensch sondern nur Exemplar der Gattung.
pk39f = p48f:
Jean-Jaques Rousseau rebelliert gegen die nivellierenden Züge der
Gesellschaft, gegen den von ihr erzeugten Konformismus.
(pk40m = p50m:) `Das auffallende Zusammenfallen des
Aufstiegs des Gesellschaftlichen mit dem
Verfall der Familie weist deutlich darauf hin, dass die Gesellschaft ihre
Entstehung unter anderem dem verdankt, dass die Familie von den Gruppen
absorbiert wurde, die ihr jeweils sozial entsprachen, d.h. mit denen sie sich
ungefähr auf dem gleichen Lebensniveau befand.' Die Gleichheit der
Familienglieder anstatt des Sich-unter-seinesgleichen befinden der freien
Glieder der Polis.
pk41: Ebenso wie Familie und Haushalt schließt die Gesellschaft das
Handeln aus - an seine Stelle tritt das Sich-verhalten nach zahllosen
normierenden Regeln.
pk42: Während in der polis die `gleichen' im wettstreit leben, jeder
zeigt, was er außerordentliches leisten kann, herrscht in der
gesellschaft die normierung.
pk43: Die statistik als gesetz der großen zahl lässt das
gesellschaftliche über das politische element einer gesellschaft
triumphieren je mehr glieder sie hat. Die polis hatte die zahl ihrer glieder
stets bewusst in grenzen gehalten.
pk47o = p59m:
“Die Gesellschaft ist die Form des Zusammenlebens, in der die
Abhängigkeit des Menschen von seinesgleichen um des Lebens selbst willen
und nichts sonst zu öffentlicher Bedeutung gelangt, und wo infolgedessen
die Tätigkeiten, die lediglich der Erhaltung des Lebens dienen, in der
Öffentlichkeit nicht nur erscheinen, sondern die Physiognomie des
öffentlichen Raumes bestimmen dürfen.”
Ob eine tätigkeit privat oder öffentlich ausgeübt wird, erzeugt
unterschiede; im falle der arbeit wurde aus einem monoton wiederkehrenden
kreisprozess eine rapide fortschreitende entwicklung, was die gesamte
bewohnte welt in wenigen jahrhunderten totel verwandelt hat.
pk48o = p60u:
“Dies Prinzip [der Organisation] aber ist offensichtlich nicht im
Privaten, sondern im Öffentlichen beheimatet; Arbeitsteilung [im modernen
Sinne der Aufteilung eines Prozesses] und die ihr
folgende Steigerung der Arbeitsproduktivität ist eine Entwicklung, die die
Arbeit nur unter der Bedingung des Öffentlichen nehmen konnte und zu der
sie es niemals im privaten Haushaltsbereich gebracht haben würde.”
Anm40: alle worte für arbeit in den europäischen
sprachen bedeuten ursprünglich ,,mühsal" i.S. einer unlust und schmerz
verursachenden körperlichen anstrengung, und bezeichnen auch die
geburtswehen.
Arbeit aus notwendigkeit als mühe und plage geboren wandelt sich im
öffentlichen bereich in etwas, worin vortrefflichkeit erreicht werden
kann [was ursprünglich der freien polis vorbehalten war].
Die vervollkommnung der arbeit geht einher mit dem niedergang der
privaten / intimen fähigkeiten zu sprechen und zu handeln, benannt
als “nachhinken” der allgemeinen menschlichen entwicklung hinter der
technischen.
pk49: “Keine psychologisch erfassbaren Eigenschaften, die man erziehen oder
heranzüchten könnte, weder Begabungen noch Talente können das
ersetzen, was das Öffentliche konstituiert und es zu dem weltlichen Raum
macht, in dem Menschen sich auszeichnen und das Vortreffliche die ihm
gebührende Stätte finden kann.” Dies sehen die
gesellschaftswissenschaften nicht in ihrer ausschließlich psychologischen
interpretation menschlicher existenz.
pk53: Die frühe christliche gemeinde von brüdern in gemeinsamer sorge
um das eigene seelenheil
folgt strukturell dem leben in der familie. Dennoch waren selbst
mönchische gemeinschaften bedroht von der entstehung eines inneren, mit
vortrefflichkeit und stolz füllbaren öffentlichen raumes - eben weil
ihre, wenn auch nur lebensnotwendigen, tätigkeiten unter den augen der
gemeinschaft vor sich gingen.
pk55 Das beste zeugnis für das absterben des öffentlichen bereiches
in der neuzeit ist das nahezu vollständige verschwinden echter sorge um
die erlangung der unsterblichkeit.
pk57u = p73o:
“Eine gemeinsame Welt verschwindet wenn sie nur noch unter einem Aspekt
gesehen wird; sie existiert überhaupt nur in der Vielfalt ihrer
Perspektiven.”
Das privatleben [von lat. privare, berauben] ist wesentlicher menschlicher
dinge beraubt; denn eben im gesehen- und gehörtwerden entsteht die
wirklichkeit.
pk58: Hieraus ergeben sich realitätsverlust und verlassenheit der
neuzeit.
pk60 (evtl 59) = p76u:
“In dem Streit zwischen Kapitalismus und Sozialismus wird meist vergessen,
dass es der Kapitalismus war, der mit Enteignung angefangen hat, und dass der
Sozialismus in dieser Hinsicht nur dem Gesetz folgt, nach dem die gesamte
Wirtschaftsentwicklung der Neuzeit angetreten ist. Vor der Enteignung der
unteren Schichten der Bevölkerung zu Beginn der Neuzeit ist die Heiligkeit
des Privateigentums immer etwas selbstverständliches gewesen;
aber erst der enorme Zuwachs an Besitz, Reichtum und eben Kapital in den
Händen der enteignenden Schichten hat dazu geführt, privaten
Besitz überhaupt für sakrosankt zu erklären.
Eigentum war ursprünglich an einen bestimmten Ort in der Welt
gebunden und als solches nicht nur >>unbeweglich<<,
sondern identisch mit der Familie, die diesen Ort einnahm.
Deshalb konnte auch noch im Mittelalter die Verbannung die Vernichtung und
nicht nur die Konfiskation des Eigentums nach sich ziehen. ....”
Nach der Erfindung der Polis kann Privatbesitz politische Bedeutung
gewinnen als Garant für die bleibende Freiheit des Mitgliedes.
Es war aber auch klar: wer seinen Besitz zu vermehren beabsichtigt,
verzichtet freiwillig auf seine Freiheit und wird Knecht der Notwendigkeit.
“Vielmehr ist der Akkumulationsprozess des Kapitals in der
modernen Gesellschaft überhaupt nur dadurch in Gang gekommen,
dass man das Eigentum nicht mehr achtete. ....
auf Privateigentum gerade hat dieser Prozess niemals
Rücksicht genommen, sondern es immer und überall enteignet,
wo es mit der Akkumulation des Kapitals in Konflikt geriet.
Proudhons Diktum, dass Eigentum Diebstahl sei, enthält eine Wahrheit,
die bis in die Ursprünge des Kapitalismus reicht. Allerdings ist nicht
das Eigentum Diebstahl gewesen, wohl aber ist in der modernen Gesellschaft
Kapital aus Diebstahl am Eigentum entstanden.” ....
pk64o = p81m:
“Denn es liegt im Wesen dieser Gesellschaft, dass das Private in jeglicher
Form der Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte nur im Wege
stehen kann, und vor dieser Tatsache, die nicht eine Erfindung von Marx ist,
weichen alle Rücksichten auf Privateigentum, das Platz machen muss einem
immer noch wachsenden gesellschaftlichen Reichtum.
....
Wollte man das Entstehen der Gesellschaft historisch datieren, so müsste
man sich auf den Augenblick einigen, in dem Privatbesitz aufhört, ein
privates Anliegen zu sein, und anfängt eine öffentliche Angelegenheit
zu werden. Die Gesellschaft erschien in der Sphäre des Öffentlichen
erst einmal in Gestalt von Besitzern, die aber nun nicht auf Grund ihres
Reichtums die ihnen zukommende Stimme in öffentlichen Angelegenheiten
verlangten, sondern im Gegenteil sich zusammengefunden hatten, um zum Zwecke
der Erwerbung von mehr Reichtum den Anspruch zu erheben, aller
Verantwortlichkeiten öffentlich-politischer Natur enthoben zu werden. Das
Regieren, in den Worten Bodins, war eine Sache des Königs und das Besitzen
eine Sache der Untertanen; Pflicht des Königs war es, so zu regieren, dass
die Besitzinteressen der Untertanen gewahrt und geschützt wurden; es
handelte sich nicht darum, dass die Besitzenden das Regieren zu übernehmen
wünschten, sondern dass die jeweilige Regierung im Interesse der
besitzenden Klassen regierte.
>>The commonwealth largely existed for the common
wealth<<.”
pk67: ”Das eigentlich Bedrohliche an dieser Entwicklung aber ist nicht
die Abschaffung des Privatbesitzes, die ohnehin unaufhaltsam ist auch in den
Ländern mit angeblich kapitalistischer Wirtschaft, sondern die Abschaffung
des Privateigentums, also jener Enteignung, die den Menschen von dem immer
begrenzten, dafür aber greifbaren und handhabbaren Stück Welt trennt,
das er sein eigen nennt, weil es dem, was ihm eigen ist, allein dient.
.... Ohne Eigentum, wie Locke sagte, können wir mit dem Gemeinsamen
nichts anfangen, es ist >>of no use<<.”
pk69o = p88o:
“Der Unterschied zwischen dem privaten und dem öffentlichen Bereich
läuft letztlich auf einen Unterschied zwischen Dingen, die für die
Öffentlichkeit und denen, die für die Verborgenheit bestimmt sind,
hinaus. .... Frauen und Sklaven gehörten zusammen, zusammen bildeten sie
die Familie, und zusammen wurden sie im Verborgenen gehalten, aber nicht
einfach, weil sie Eigentum waren, sondern weil ihr Leben
>>arbeitsam<< war, von
den Funktionen des Körpers bestimmt und genötigt.”
[Sklaven: durch die Notdurft der Lebenserhaltung, Frauen: durch die
Notwendigkeit der Arterhaltung] ....
Proletarii (lat.) die Kindererzeuger
pk69f: “Die Arbeit, wie die ihr ja so eng verwandte Armut,
wurde bekanntlich in
den Anfangsstadien der modernen Entwicklung, als die werdende Gesellschaft sie
ihres natürlichen Schutzes bereits beraubt hatte, der öffentliche
Raum aber noch nicht auf die Entprivatisierung des Privaten vorbereitet war,
wie ein Verbrechen behandelt; beiden haftete noch die Scham an,
mit der auch wir
unsere körperlichen Funktionen allen Blicken entziehen, und ihre
politische Sichtbarkeit erweckte in jedem, der >>noch wusste was sich
gehört<<, ein Gefühl der Empörung.”
pk70ff: Ein Beispiel für die Bedeutung des Ortes, wo Tätigkeit
stattfindet, privat versus öffentlich, bietet die Güte:
Gutes tun muss verborgen bleiben, sonst wird es scheinheilig, i.e.S. darf
der gut Handelnde nicht einmal darum wissen.
Liebe zur Weisheit: verlässt
die Höhle der Menschen (Platon), wird Philosoph in der Einsamkeit
pk73u:
Liebe zum guten kann nicht in der einsamkeit sein, doch darf das leben des
guten von keinem bezeugt werden, und damit ist er allein, lebt mit den anderen,
muss sich aber vor ihnen verbergen, ist verlassen, darf sich nicht einmal,
anders als der philosoph, selbst gesellschaft sein - nur gott ist sein zeuge.
In der antike durften nur die götter gut/gütig sein. Der bezug der
tätigen güte zur welt ist wesentlich aktiv negativ. Wie das
verbrechen muss das gute werk sich vor den menschen verbergen
(cf Macchiavelli, Il Principe, Kapitel 15)
3 - Die Arbeit
pk77 = p99 Anm 3:
Das Griechische wie das Lateinische (laborare - facere/fabricari),
das Französische, Englische und Deutsche enthalten zwei
deutlich getrennte Worte für Arbeiten und Werken, wobei in allen
Fällen in `Arbeit' die Nebenbedeutung von Not und Mühe deutlich
hervortritt: im deutschen `arbeiteten' ursprünglich nur die Leibeigenen in
der Landwirtschaft, die Handwerker `werkten'. Das Französische
`travailler' ersetzte ein `labourer', ist aber selbst abgeleitet von
`tripalium', einer besonderen Art von Folter
pk79o = p101u:
“Im Altertum war die Einrichtung der Sklaverei nicht wie später ein
Mittel, sich billige Arbeit zu verschaffen oder Menschen zwecks Profit
>>auszubeuten<<, sondern der bewusste Versuch,
das Arbeiten von den Bedingungen
auszuschließen, unter denen Menschen das Leben gegeben ist. Was dem
menschlichen Leben mit anderen Formen tierischen Lebens gemeinsam ist, galt
als nicht-menschlich. Dies ist natürlich auch der Grund,
warum man annehmen konnte, die Sklaven hätten eine nicht-menschliche
Natur.”
pk79u = p103o:
Mit dem aufkommen der politischen philosophischen theorien wurde alle
tätigkeit zum gegensatz der kontemplation, auch die höchste aller
tätigkeiten, das handeln, und damit die cura rei publicae in das reich
der notwendigkeit degradiert.
pk82ff = p105ff:
Steht antik die (haus- und gesinde)arbeit unproduktiv, da spurenlos
(obwohl keine unterscheidung zwischen arbeit und werk gemacht wird
[cf kontemplation, pk77])
im gegensatz zur produktion von aufhebenswerten gegenständen, wird in
einer vollkommen “gesellschaftlichen Menschheit” mit dem
einzigen anliegen der aufrechterhaltung der lebensprozesse
[ende der geschichte erreicht] kein
unterschied sein zwischen arbeiten und herstellen - alles ist resultat der
lebendigen arbeitskraft als funktion des lebensprozesses.
Arbeitsteilung [s.o.] zerlegt arbeit in kleinste bestandteile, die gelernte
arbeit wird abgeschafft,
nicht fertigkeit sondern arbeitskraft wird auf dem arbeitsmarkt angeboten,
wovon jeder mensch in etwa gleich viel besitzt
Kopfarbeiter - intellektuelle - sind arbeiter im sinne des hausgesindes, denn
ihre produkte und dienstleistungen werden konsumiert; sie haben nicht die
verwandtschaft zu handwerker und künstler, welche der welt
beständiges hinzufügen [handwerker - kopfarbeiter]
p93u:
Marx bestimmt Menschen als `Animal laborans', ein arbeitendes Lebewesen
p95:
Marx' Widerspruch: Arbeit als Naturnotwendigkeit, von allen
Gesellschaftsformen unabhängig, als Existenzbedingung,
aber die ideale Gesellschaftsordnung ist
die ohne Arbeit - das größte und menschlichste Vermögen
läge brach. Auch setzt er produktive Knechtschaft versus unproduktive
Freiheit
p96o = 124o:
Das beunruhigendste phänomen der politischen Theorie seit Mitte des 17.
Jahrhunderts ist das Wachstum von Reichtum, Besitz, Erwerb. Die Lösung:
dies verstehen als einen Prozess - am naheliegendsten:
Arbeit ist ebenso `organisch' wie das Leben selbst, frei von willentlichen
Entscheidungen und vorgefassten Zwecken
(p125u:) Marx sieht Produktivität und Zeugen/Zeugung als zwei Formen
desselben “seid fruchtbar und mehret euch”
(p126o/anm53:) Anders das Alte Testament: Arbeit ist kein Übel. Adam =
männliche Form von adamah = Acker; also ist Adam der zur Bedienung des
Ackers Eingesetzte. Vertreibung aus dem Paradies: nicht die Arbeit ist der
Fluch, sondern die neue Beschwernis der Arbeit.
In diesem Sinne ist der Segen des arbeitsamen Lebens die Lust aus dem Rhythmus
aus Mühsal und Lohn, gleichmäß wie die Zubereitung von Speise
und ihr Verzehr
(p130o:) Die Verteidigung des Privateigentums in der Neuzeit meinte nicht das
Eigentum an sich, sondern das Recht des ungehinderten, durch keine
Erwägungen zu begrenzenden Erwerbs; so ist der Kampf Marx' gegen das
Eigentum zu verstehen
(p130u:) selbst in einer “vergesellschafteten menschheit” wird
manches als unbezweifelbar “privat”respektiert - von
lebensprozessen selbst diktiertes: essen, ausscheiden, fortpflanzen
(p134o:) Schmerz und seine Empfindung sind die einzigen von der Welt
unabhängigen Erfahrungen ... Die einzige Tätigkeit, die dieser
“Weltlosigkeit” entspricht ist die Arbeit in deren Tun der
menschliche Körper auf sich selbst zurückgeworfen ist
(p135m:) “Das Eigentum verstärkt nicht, sondern mildert die
Weltlosigkeit des Arbeitsprozesses, gerade weil es selbst so sicher in der
Welt verankert ist. Aus dem gleichen Grunde wirkt der eigentliche
Prozesscharakter des Arbeitens, die unerbittliche Vordringlichkeit, mit der
die Lebensnotwendigkeiten der Arbeit ihre Aufgaben stellen, durch den Besitz
von Privateigentum wesentlich abgeschwächt. In einer Gesellschaft von
Eigentümern steht
immer noch die Welt und nicht die nackten
Lebensnotwendigkeiten im Mittelpunkt menschlicher Pflege und Sorge. Erst eine
Gesellschaft von Arbeitern oder Jobinhabern wird sich für nichts anderes
interessieren als für die drohende Knappheit oder den möglichen
Überfluss dessen, was das Leben für sein Lebendigsein
braucht.”
(p136m:) Der Akkumulationsprozess jedoch ist potentiell unendlich, doch
ständig in frage gestellt durch den tod des einzelnen. Der ausweg ist der
mensch als “Gattungswesen”, nicht (mehr) privatperson, arbeitend
für die allgemeinheit. Dies ermöglicht die freisetzung der
produktiven kräfte (s.u. p139)
(p139:) Das Animal laborans ist ausgestoßen von der welt - sklaverei und
verbannung in den haushalt sind bis heute die lage der arbeitenden klasse
[ im kontrast zur privatheit der Griechen,
s.o.]
(p140m:) Da die Sklaverei konsum- und nicht produkt-orientiert war, wurde durch
sie quasi die Lebendigkeit delegiert. Dem Sklavenhalter bleibt lediglich ein
“Ersatzleben”!
(p141m:) “Das >>leichte Leben der Götter<<
würde für die Sterblichen ein lebloses Leben sein.”
(p142o:) “Die Fähigkeit, in einer Welt zu leben,
kann sich nur in dem
Maße realisieren, als Menschen gewillt sind, die Lebensprozesse zu
transzendieren und sich ihnen zu entfremden, während umgekehrt die
Vitalität und die Lebendigkeit menschlichen Lebens nur in dem Maße
gewahrt werden können, als Menschen bereit sind, die Last, die Mühe
und Arbeit des Lebens auf sich zu nehmen.”
“ Natürlich liegt die Vermutung nahe, dass diese Vergesslichkeit
nur eine Art Vorspiel sein konnte zu den ungeheuer phantastischen
Veränderungen der zweiten industriellen, der `atomaren Revolution', die
uns bevorsteht; aber dies sind Vermutungen, die nicht sehr wahrscheinlich sind
angesichts der Tatsache, dass bisher uns kaum etwas berechtigt zu meinen, dass
die uns bevorstehenden Veränderungen nicht nur, wie die bisherige
Technik, die von uns errichtete und bewohnte Welt betreffen werden, sondern in
eins damit auch die Grundbedingungen menschlichen Lebens auf der Erde. Solange
aber diese Grundbedingungen anhalten, können Menschen frei nur sein, wenn
sie von der Notwendigkeit wissen und ihre Last auf den Schultern spüren.
Wenn die Arbeit so leicht geworden ist, dass sie kein Fluch mehr ist, besteht
die Gefahr, dass niemand mehr sich von der Notwendigkeit zu befreien
wünscht, bzw. dass Menschen ihrem Zwang erliegen, ohne auch nur zu
wissen, dass sie gezwungen sind.”
[ cf. zBsp. die Politikverdrossenheit
unserer Tage]
(p147o:) “Das Problem dieser modernen Gesellschaft ist daher, wie man eine
individuell begrenzte Konsumkapazität mit einer prinzipiell unbegrenzten
Arbeitskapazität in Einklang setzen kann.”
Der Fluch des Reichtums: Gebrauchsgegenstände werden zu
Konsumgütern (Wegwerf-Stühle etc)
(p148m auch 144f:) Nicht die Maschine sondern die Arbeitsteilung - die alte
Berufs-Teilung überflüssig machend - ermöglicht prinzipiell die
Massenproduktion; die Maschine verstärkt dies nur (aber
ungeheuerlich)
(p149m:) Unsere Wirtschaft funktioniert nur durch den immer mehr beschleunigten
Übergang vom Gebrauch zum Verbrauch
(p150o:) “An die Stelle von Dauer, Haltbarkeit, Bestand, die Ideale von
Homo faber, des Weltbildners, ist das Ideal des Animal laborans getreten, das,
wenn es träumt, sich den Überfluss eines Schlaraffenlandes
erträumt. Das Ideal einer Arbeitsgesellschaft kann nur der Überfluss
sein, die Steigerung der Fruchtbarkeit, die in der Arbeit gegeben
ist.”
“Von Belang für die Gesellschaftsordnung, in der wir leben, ist
nicht so sehr, dass zum ersten Mal in der Geschichte die arbeitende
Bevölkerung mit gleichen Rechten in den öffentlichen Bereich
zugelassen ist, als dass in diesem Bereich alle Tätigkeiten als Arbeiten
verstanden werden, dass also, was immer wir tun, auf das unterste Niveau
menschlichen Tätigseins überhaupt, die Sicherung der
Lebensnotwendigkeiten und eines ausreichenden Lebensstandards,
heruntergedrückt ist.”
(p151o:) “Die künstlerischen Berufe - genau gesprochen die einzigen
`Werktätigen', welche die Arbeitsgesellschaft übriggelassen hat -
bilden die einzige Ausnahme, die diese Gesellschaft zu machen bereit
ist.”
“Die einzig ernstzunehmende Tätigkeit, der Ernst des Lebens im
wörtlichen Sinne, ist die Arbeit, und was übrig bleibt, wenn man von
der Arbeit absieht, ist das Spielen.”
(p153m:) “Nicht das Christentum, sondern die Neuzeit mit ihrer
Verherrlichung der Arbeit hat hier eine entscheidende Wendung erzielt und die
Künste der Gewalt in einen Verruf gebracht, den sie nie vorher gekannt
haben.”
(p155m:) “Bei der Gefahr der bevorstehende Automation handelt es sich
sehr viel weniger um die Bedrohung des natürlichen Lebens durch
Mechanisierung und Technisierung als vielmehr darum, dass gerade die
>>Künste<< des
Menschen, und damit seine wirkliche Produktivität, in einem ungeheuer
intensivierten Lebensprozess einfach untergehen könnten, wobei damit
dieser Prozess automatisch, nämlich ohne der Mühe und Anstrengung
der Menschen noch zu bedürfen, in dem natürlichen, immer
wiederkehrenden Kreislauf des Lebens mitschwingen würde .... seinen
Grundcharakter in Bezug auf die Welt nicht ändern .... nur ungeheuer
schneller und intensiver die Dinge der Welt verzehren und damit die der Welt
eigene Beständigkeit zerstören.”
(p157:) Das Animal laborans beherrscht das öffentliche Leben, es gibt dabei
lediglich zur Schau gestelltes Privates anstatt eines im eigentlichen
[griechischen, s.o.] Sinne öffentlichen Bereiches. Im Stadium der
Massenkultur wird Kultur zum Zwecke der Unterhaltung der Massen missbraucht
und aufgebraucht, diese Massengesellschaft ist weit entfernt davon, den
Zustand des “Glücks für die größte Anzahl” zu
verwirklichen (Karl Marx).
“Dass in unserer Gesellschaft nahezu jedermann glaubt, ein Recht auf
Glücklichsein zu haben, und gleichzeitig an seinem Unglücklichsein
leidet, ist das beredteste Zeichen dafür, dass wir wirklich angefangen
haben, in einer Arbeitsgesellschaft zu leben, die als eine Gesellschaft von
Konsumenten nicht mehr genug Arbeit hat, um das Gleichgewicht zwischen Arbeit
und Konsum herzustellen und damit den arbeitenden und konsumierenden Massen
das zu geben, was sie Glück nennen, und worauf sie, jedenfalls so lange,
als sie sich nur in diesem natürlichen Kreise bewegen, in gewissem Sinne
sogar einen Anspruch haben. Denn was das sogenannte Glück betrifft, so
sollten wir nicht vergessen, dass nur das Animal laborans die Eigenschaft hat,
es zu beanspruchen; weder dem herstellend Werktätigen noch dem handelnd
politischen Menschen ist ist es je in den Sinn gekommen, glücklich sein
zu wollen oder zu glauben, dass sterbliche Menschen glücklich sein
können.”
4 - Das Herstellen
(p161:) Homo faber, der handwerkende, dauerhaft brauchbares schaffende
künstler erbaut die welt, nicht das seine erzeugnisse sich einverleibende
animal laborans
(p162f:) Die dauerhaften (gebrauchs)gegenstände schaffen die `objektive',
von der existenz des menschen sogar (eine zeitlang) unabhängige welt
Obwohl feldarbeit die für den lebenskreislauf notwendige nahrung erzeugt,
ist sie selbst durch die kultivierung des bodens eine gestalterin des
dauerhaften in form des kulturlandes.
Natur ist für den Menschen nur dadurch als objektive betrachtbar,
weil er zwischen sich und sie seine selbstgeschaffene welt gestellt hat
(p164:) Landbearbeitung hat eine sonderstellung inne, da sie zwar
konsumgüter herstellt, doch dadurch langfristig aus wildnis
kulturlandschaft schafft; sie dient damit zum beispiel für die
“Würde der Arbeit” im unterschied zur rein dem konsum
geschuldeten hausarbeit. Wird jedoch der boden nicht mehr bearbeitet, kehrt
die wildnis zurück. Die kulturlandschaft hat also nicht wirklich die
eigenschaft eines [perennierenden] hergestellten gegenstandes
(p170ff:) Homo faber entwirft / erfindet geräte zur errichtung einer
dingwelt. Animal laborans nutzt sie zur erleichterung und mechanisierung der
arbeit. Arbeit ist im unterschied zur herstellung rhythmisch, womit sich in
der arbeit Animal laborans und werkzeug vermischen. Das werkzeug wird zur
maschine mit dem effekt des sich ihren rhythmus unterwerfens des menschen.
Dies ist bei einem werkzeug unmöglich - hier bleibt der mensch der herr.
So gibt es (Anm. 8) arbeits- jedoch keine werk-lieder - handwerker singen nach
getaner arbeit
(p178ff:) In der sich in der entwicklung anschließenden automation wird
die trennung des gegenstandes vom prozess sowie die des zweckes vom mittel
sinnlos, die frage ist nun:
steht die maschine noch im dienste der dinghaftigkeit der welt oder hat
sie begonnen, die welt zu beherrschen
indem zBsp das produziert wird, was die maschine herstellen kann und
nicht umgekehrt die für die herstellung bestimmter gegenstände
notwendigen maschinen entworfen und gebaut werden ?
“In einer Arbeitsgesellschaft ersetzt die >Welt< der Maschinen die
wirkliche Welt, wenn auch diese Pseudowelt die größte Aufgabe der
Welt nie erfüllen kann, nämlich sterblichen Menschen eine Behausung
zu bieten, die beständiger und dauerhafter ist als sie selbst.”
(p182f:) Die weltanschauung des Homo faber ist konsequenter utilitarismus, in
anderen worten, die unfähigkeit, den unterschied zwischen nutzen und sinn
einer sache zu verstehen
“Jede wirklich durch und durch, konsequent
utilitaristisch organisierte Welt befindet sich, wie Nietzsche gelegentlich
bemerkte, in einem `Zweckprogressus in infinitum'”.
“Innerhalb des Utilitarismus ist das Um-zu der eigentliche Inhalt des
Um-willen geworden - was nur eine andere Art ist zu sagen, dass, wo der Nutzen
sich als Sinn etabliert, Sinnlosigkeit erzeugt wird.”
(p184:) Homo faber ist ebenso wie Animal laborans unfähig, sinn zu
verstehen. Das utilitaristische denken findet seinen ausweg aus der
sinnlosigkeit der welt nur in der flucht in die subjektivität des
Brauchens selbst [Hedonismus, nicht Eudaimonismus], in der absolut
anthropozentrischen welt also,
in der der mensch als gebrauchender der endzweck ist.
(p185:) Der utilitarismus des Homo faber kulminiert in Immanuel Kants aussage,
kein mensch dürfe je mittel zum zweck sein sondern sei vielmehr ein
endzweck (also zweck an sich). Und wird damit zum herrn der natur
(p186f:) Deshalb verachtete das klassische Griechenland alles herstellen und
handwerken, die bildenden künste, alles wo keine tätigkeit um ihrer
selbst willen vor sich geht (darunter also auch zBsp künstler und
architekten !) als “banausisch”; wobei hier nicht die
zweckdienlichkeit als solche verurteilt wird, sondern die erhöhung der
nützlichkeit zum maßstab für das leben des menschen und die
welt und damit die entwertung der welt (cf. den streit des Platon mit
Protagoras)
(p191f:) Homo faber findet beziehung zu anderen menschen nur noch im tausch der
in isolierung gefertigten produkte. Die nur in isoliertheit
(“spledid isolation”) mögliche werktätigkeit und
insbesondere meisterschaft wird bedroht durch verwandlung der zuschauer der
öffentlichen märkte in eine gleichberechtigt mitmachen wollende
gesellschaft
[von brüdern, cf
Alexander Mitscherlich]
,
wodurch das qualitätsbewusstsein in der gesellschaft bis zum verlust des
unterscheidungsvermögens niveliert wird.
Konsequent wurde der schutz des privatlebens als oberstes recht im anfang der
neuzeit [nötig].
Meisterschaft ist nicht herrschaft, da sie material, werkzeug,
gegenstände beherrscht, nicht menschen - sie ist unpolitisch. Der
unterschied zwischen meister und geselle ist ursprünglich marginal
(>maitre< und >ouvrier< synonym gebraucht),
da temporärer natur, er teilt
nicht in klassen. Das verhältnis meister - geselle ist die einzige der
werktätigkeit selbst eigene form des umganges mit Anderen und entspringt
sowohl dem bedürfnis nach gehilfen wie auch dem wunsche, andere in den
eigenen fertigkeiten zu unterrichten.
Wesensmäßig fremd ist der eigentlichen werktätigkeit das
“team”, prinzipiell ohne meister organisiert und charakteristisch
für die gegenwärtige akademische forschung
(p194f:) In der kommerziellen gesellschaft ist die eigentliche öffentliche
tätigkeit nicht das herstellen, sondern der warenaustausch. Selbst die
arbeit wird zur ware [Arbeitsmarkt]. Nur die
arbeitsgesellschaft schätzt die arbeitskraft als solche, aber eben
gleichgestellt mit der maschine. Dies ist jedoch nicht “human”, da
die dahinterstehende gesinnung diejenige des reibungslosen funktionierens der
maschine ist und nicht “der mensch als maß aller dinge”
(p196:) Jeder gebrauchsgegenstand kann zum tauschobjekt dienen und wird zur
ware im ausschließlichen sinne dann, wenn der gegenstand überhaupt
nur als ware produziert wird
(p197:) “.... wertstiftend ist einzig die Öffentlichkeit, in der ein
Gegenstand erscheint, in das Verhältnis zu anderen Gegenständen
treten und durch Vergleich eingeschätzt werden kann. Wert ist eine
Eigenschaft, die kein Gegenstand innerhalb des privaten Bereichs besitzen oder
erwerben kann, aber die ihm automatisch zuwächst, sobald er in die
Öffentlichkeit tritt. Dieser >>Marktwert<< hat, wie Locke
eindringlich betont, nicht das geringste zu tun mit dem
>>intrinsic natural worth of anything<<,
also mit der objektiven, ihm immanenten Qualität, ....”
(p199:) “... dass es auf dem Warenmarkt, und damit in der den Werten
angemessenen Sphäre, einen >>absoluten<< Wert schlechterdings
nicht gibt und dass dort danach Umschau zu halten der Quadratur des Zirkels
verteufelt ähnlich sah ....
Die vielbeklagte Entwertung der Werte, die den Verlust
der eigenständigen Dingqualität einschließt, fängt damit
an, dass man alles zu Werten bzw. Waren macht, also alles mit allem in
Relation setzt und damit relativiert.”
(p200:) “... Und Homo faber, dessen gesamte Tätigkeit darin besteht,
Maßstäbe anzulegen, Richtlinien aufzustellen, Regeln anzuwenden und
Messbarkeit jeglicher Art in das >>Chaos<< zu tragen,
das die unberührte Natur dem weltlichen Blick des Menschen bietet,
kann in der Tat weniger als irgendein anderer Menschentypus ertragen,
dass man ihn >>absoluter<<
Maßstäbe und Kriterien beraubt. Denn ihm bleiben dann keineswegs
relative Maßstäbe in der Hand; es gibt keine relativen
Maßstäbe, wie es relative Werte gibt; jeder Maßstab ist im
Verhältnis zu dem, was er zu messen sich anschickt,
>>absolut<< und dem zu Messenden transzendent.”
(p206:) Denken ist nicht gleich erkennen. Erkennen verfolgt ein ziel, findet im
erreichen desselben ein ende, vermittelt wissen, sammelt an, bildet
wissenschaft. Das denken ist selbstgenügsam, zeitigt streng genommen
nicht einmal resultate, ist nutzlos, bildet philosophie, ist endlos wie das
leben
(p207:) Erkennen ist wie herstellen: ein prozess mit anfang und ende, der
nutzen kontrollierbar, unterscheidet sich in der wissenschaft nicht von seiner
funktion im herstellen; wissenschaftliche resultate sind wie alle anderen
dinge produkte. Intelligenz ist für denken und erkennen wie der
körper für das
herstellen eigentlich ein physisches kraft-phänomen
(p209:) “... Der auffallendste innere Widerspruch der klassischen
politischen Ökonomie ... Theoretiker, die so stolz auf ihre konsequent
utilitaristische Weltanschauung waren, im Grunde eine ausgesprochene
Verachtung für das das bloß nützliche hegten .... Haltbarkeit
und Dauer waren die Maßstäbe .... sie sich
noch im Sinne von Homo faber an der Welt und ihrer Dinglichkeit orientierten,
und nicht im Sinne des Animal laborans alle Tätigkeiten auf das Leben und
das ihm Notwendige bezogen.”
5 - Das Handeln
(p219:) Vom bloßen nutzen her betrachtet ist handeln ersatz für
gewalt [Aber nein, handeln ist in erster linie kommunikation!]
(p225:) Anmerkung 8: Der ursprung des materialismus liegt lange vor Marx in der
geschichte der philosophie, zB bei Platon (siehe Politeia 369c)
und Aristoteles
(p232:) “Der Heros ist ursprünglich bei Homer nur der freie
Mann, der als solcher teilhat an dem Krieg um Troja und von dem daher eine
Geschichte zu erzählen ist.”
Der für helden in unserer zeit für unerlässlich
erachtete mut ist bereits in der initiative gegeben, durch handeln und
sprechen in die welt einzugreifen, in ihr die uns eigene geschichte zu
beginnen.
Für die alten Griechen ist ohne diesen mut freiheit überhaupt nicht
möglich
(p236ff:) Der die initiative ergreifende hat die macht, nicht nach der
“monopolisierten Anmaßung ..., dass der Starke am mächtigsten
allein sei.”
Der handelnde ist immer unter anderen also auch einer der erduldet. “Das
Dulden ist die Kehrseite des Handelns .... Geschichte der Taten und Leiden
derer, die von ihr affiziert werden.” (s.u. p245)
“Schrankenlosigkeit erwächst aus der dem Handeln eigentümlichen
Fähigkeit, Beziehungen zu stiften, und damit aus der ihm inhärenten
Tendenz, vorgegebene Schranken zu sprengen und Grenzen zu überschreiten.
.... Weil Handeln von sich aus gar nicht anders als maßlos sein kann,
ist Maßhalten seit eh und je eine der klassischen politischen Tugenden
und die Hybris seit eh und je die spezifische Versuchung des handelnden
Menschen gewesen, wie die in diesen Dingen nur zu erfahrenen Griechen nicht
müde wurden, sich selbst vorzuhalten. Der Wille zur Macht hingegen ist
eine spezifische modernes Phänomen, das nicht so sehr aus dem Handeln als
aus der Ohnmacht moderner Menschen im Bereich des Politischen stammt; aber
Hybris und Maßlosigkeit sind die Versuchungen, die allem Handeln als
solchem eigen sind.”
(p239f:) “Dass wir das Leben überhaupt aushalten, mit dem Tod vor
Augen zu existieren, dass wir uns nämlich keineswegs so verhalten, als
warteten wir nur die schließliche Vollendung des Todesurteils ab, das
bei unserer Geburt über uns gesprochen wurde, mag damit
zusammenhängen, dass wir jeweils in eine uns spannende Geschichte
verstrickt sind, deren Ausgang wir nicht kennen. Der Lebensüberdruss, das
taedium vitae, ist vielleicht nichts anderes als ein Erlahmen dieses
Gespanntseins. .... die Bedeutung einer jeden Geschichte sich voll erst dann
enthüllt, wenn die Geschichte an ihr Ende gekommen ist ....“
(p241:) Unabsehbarkeit des handelns, denn der handelnde weiß (noch) nicht,
“wen er eigentlich als sich selbst zur Schau stellt.”
Eudaimon [von eu = “gut” und
Daimon = Personifikation der Schicksalsbestimmung
eines Menschen, s zB Plato Phaidon 107d] zu sein und gewesen zu sein, das
“gut Leben” und das “gut Gelebthaben” sind eins,
solange das Leben andauert, weil diese bleibende befindlichkeit die
identität der person ausmacht.
(p243:) “Es ist keine Frage, dass das Urbild des Handelns, wie es der
griechischen Antike vorschwebte, von dem Phänomen der
Selbstenthüllung bestimmt war ....”
(p244f:) “.... die Griechen, im Unterschied zu allen späteren
Begriffen von Politik, (rechneten) die Tätigkeit des Gesetzgebers
nicht unter die eigentlichen politischen Tätigkeiten ....
Gesetzgeber wie Erbauer der Stadt konnten daher von der Bürgerschaft aus
dem Ausland berufen werden .... Die Gesetze waren für sie nicht
Erzeugnisse eines Handelns, sondern Produkte des Herstellens wie die Mauern,
welche die Stadt umschlossen und ihre physische Identität bestimmten,
auch .... Aber der Inhalt des Politischen, das, worum es in dem politischen
Leben der Stadtstaaten selbst ging, war weder die Stadt noch das Gesetz -
nicht Athen, sondern die Athener waren die Polis -, und der spezifisch
römische Patriotismus, der der Stadt, dem Land und den Gesetzen galt, war
den Griechen ganz fremd.”
[Siehe hierzu den
Ordoliberalismus]
(p245:) Ein beispiel des zusammenspieles von handeln und dulden (s.o. p236ff)
ist die liebe des wohltäters für die von ihm unterstützten,
größer als deren liebe für ihn. Denn er hat, im unterschied zu
jenen, getan
(p247:) Die stadt-staaten wurden gegründet, um heldentum vor ort zu
ermöglichen, nicht nur in der fremde. “.... sie von Anfang bis Ende
darauf abgesehen hatten, das Außerordentliche so zu häufen, dass es
die Konsistenz und den Gang des Alltagslebens bestimmte.”
(p252ff:) “Wo Macht nicht realisiert, sondern als etwas behandelt wird,
auf
das man im Notfall zurückgreifen kann, geht sie zugrunde, und die
Geschichte ist voll von Beispielen, die zeigen, dass kein materiell greifbarer
Reichtum der Welt diesen Machtverlust auszugleichen vermag. Mit realisierter
Macht haben wir es immer dann zu tun, wenn Worte und Taten untrennbar
miteinander verflochten erscheinen, wo also Worte nicht leer und Taten nicht
gewalttätig stumm sind, wo Worte nicht missbraucht werden, um Absichten
zu verschleiern, sondern gesprochen sind, um Wirklichkeiten zu enthüllen,
und wo Taten nicht missbraucht werden, um zu vergewaltigen und zu
zerstören, sondern um neue Bezüge zu etablieren und zu festigen, und
damit neue Realitäten zu schaffen.
.... Wer, aus welchen Gründen immer, die Isolierung sucht und an diesem
Zusammen nicht teilhat, muss zumindest wissen, dass er auf Macht verzichtet
und die Ohnmacht gewählt hat, ungeachtet dessen, wie groß seine
individuelle Stärke und wie gut seine Gründe sein mögen.
.... Wichtiger noch ist vielleicht die Entdeckung, die meines Wissens erst
Montesquieu, der letzte politische Theoretiker, der die Frage der Staatsform
ernst genommen hat, gemacht hat. Für Montesquieu war das hervorragende
Merkmal der Tyrannis [Tyrannei] das Prinzip der Isolierung, auf dem sie
beruht, die Isolierung des Herrschers von seinen Untertanen und die Isolierung
der Untertanen gegeneinander, die durch eine Art systematischer und
organisierter Verbreitung gegenseitiger Furcht und allseitigen Misstrauens
zustande kommt. .... Die Tyrannsi verhindert aktiv die Entstehung von Macht,
und zwar innerhalb des gesamten politischen Bereichs; durch die ihr eigene
Kraft der Isolierung erzeugt sie Ohnmacht mit der gleichen
Selbstverständlichkeit, mit der andere Staatsformen auf verschiedene
Weise Macht erzeugen. ....
Der >>Wille zur Macht<<,
wie ihn die Neuzeit von Hobbes bis Nietzsche
als Laster oder Tugend der Starken auslegte, ist in Wahrheit eines der Laster
der Schwachen und Schlechtweggekommenen, der von Neid, von Gier, von
Ressentiment geplagten. Der Wille zur Macht ist das gefährlichste dieser
Laster, die er politisch überhaupt erst virulent macht.
Wenn die Tyrannis der immer vergebliche Versuch ist, Macht durch Gewalt zu
ersetzen, so ist Ochlokratie oder Mob-Herrschaft, die ihr genaues
Gegenstück bildet, der erheblich aussichtsreichere Versuch, Stärke
durch Macht zu kompensieren. ....
Korrumpierend aber wirkt sich Macht nur auf den Gebieten aus,
in denen es auf das Herstellen, das nur in der absondernden Isolierung
vollbracht werden kann, ankommt, also in dem sog. Kultur- und Geistesleben,
nicht in dem eigentlich politischen Bereich.”
[s.o. p244f zu Gesetzen]
(p259:) “Nichts vielleicht ist in unserer Geschichte so selten und so
kurzfristig gewesen wie echtes Vertrauen auf Macht; nichts hat sich
hartnäckiger zur Geltung gebracht als das platonisch-christliche
Misstrauen gegen den Glanz, der der Macht eigen ist, weil sie dem Erscheinen
und dem Scheinen selbst dient; nichts schließlich hat sich in der
Neuzeit allgemeiner durchgesetzt als die Überzeugung, dass >>Macht
korrumpiert<<.”
“Dass das Äußerste und Höchste, was der Mensch
vollbringen kann, in dem Erscheinen und Aktualisieren seines eigenen Wesens
bestehen soll, ist keineswegs selbstverständlich. Dagegen steht
einerseits die Grundüberzeugung nicht nur der schaffenden Künstler,
sondern aller Herstellenden, dass das Werk nicht nur den Menschen
überdauert, sondern auch mehr ist als der, der es schuf, und andererseits
der dem Arbeiten innewohnende Glaube, dass das Leben der Güter
höchstes sei. Wo immer das eine oder das andere die Lebensführung
bestimmt, werden wir auf die für alle eigentlich unpolitischen Menschen
typische Neigung treffen, das Handeln und Miteinandersprechen als eitle
Betriebsamkeit abzustempeln und den öffentlichen Angelegenheiten nur
insoweit eine Existenzberechtigung zuzugestehen, als sie dem allgemeinen
Nutzen dienen und angeblich höhere Zwecke fördern - z. B., im Falle
von Homo faber, die Welt schöner oder nutzbringender gestalten oder, im
Falle des Animal laborans, das Leben erleichtern und verlängern. ....
Die Art und Weise, in der Menschen Wirkliches als wirklich erfahren, verlangt,
dass sie die schiere Gegebenheit der eigenen Existenz realisieren, nicht etwa
weil sie sie ändern könnten, sondern um zu artikulieren und zu
aktualisieren, was sie sonst nur erleiden und erdulden würden. Und diese
artikulierende Aktualisierung vollzieht sich in den Tätigkeiten, die
selbst reine Aktualitäten sind. [und ist überhaupt die einzige
dem menschen gegebene freiheit (die er wählen kann oder auch nicht)]
Das einzige, woran wir die Realität der Welt erkennen und messen
können, ist, dass sie uns allen gemeinsam ist ....”
(p266f:) “Der Impuls, der den Hersteller in die Öffentlichkeit und
auf
den Markt drängt, ist nicht das Verlangen nach anderen Menschen, sondern
das Intresse an anderen Erzeugnissen, und die Macht, welche diese
Marktsphäre entstehen lässt und am Dasein hält, ist nicht das
Machtpotential, das sich bildet, wenn Menschen miteinander handeln und
sprechen, sondern eine Kombination von >>Tauschkraft<<
(>>The power of exchange<<, Adam Smith), die jeweils in der
Isolierung des Herstellens gewonnen wurde. Diese eigentümliche,
menschlich-personale Kontaktlosigkeit in einer Warengesellschaft hat Marx als
Selbstentfremdung und Entmenschlichung des Menschen angeprangert, und das in
ihr herrschende Primat des Warenaustauschs schließt in der Tat das
Personale aus dem öffentlichen Bezirk aus und drängt alles
eigentlich Menschliche in den Privatbereich der Familie oder die
Intimität der Freundschaft.
Insofern die moderne Gesellschaft das
menschlich Personale zur Privatsache und den Warenhandel zu einer
öffentlichen Angelegenheit gemacht hat, beruht sie in der Tat auf einer
genauen Umkehr der gesellschaftlichen Verhältnisse in der klassischen
Antike.”
(p267ff:) “Denn dass schöpferische Genialität der Inbegriff
menschlicher Größe sein soll, war dem Mittelalter noch so fremd wie
dem Altertum. ....
Auch der Geniekult kann, mit anderen Worten, die in der Warengesellschaft
herrschende Degradierung der Person nicht verhindern, er ist vielmehr nur eine
andere Äußerung dieser Degradierung.
Das, was die Integrität der Person, die durch nichts anderes zustande
kommen kann als dadurch, dass sie Gegebenes, die Mitgift der Geburt,
aktualisiert und artikuliert, hält und erhält, ist, was wir
gemeinhin Stolz nennen. Stolz aber ist nur möglich in dem Vertrauen, dass
Wer-jemand-ist an Größe und Bedeutung alles übersteigt, was
dieser Jemand möglicherweise leisten und vollbringen mag. >>Lasst
doch Ärzte, Zuckerbäcker und die Lakaien der großen
Häuser danach beurteilt werden, was sie getan haben und sogar nach dem,
was sie zu tun beabsichtigen; die Herrschaften selbst beurteilt man nach dem,
was sie sind.<<
(nach The Dreamers von Isak Dinesen
(Pseudonym der Karen Blixen = Tania Blixen) in
>>Sieben gothische Erzählungen<<)
Auf das stolz zu sein, was man getan hat, dazu wird sich nur das
Vulgäre herablassen; und diejenigen, die sich zu dieser Herablassung
bereitfinden, werden >>die Sklaven und Gefangenen<< ihrer eigenen
Fähigkeiten, wobei sie vielleicht sogar entdecken könnten, sofern
mehr von ihnen übrigbleibt als die reine, stupide Eitelkeit, dass es
nicht weniger bitter, vielleicht aber noch beschämender ist, der Sklave
seiner selbst als der Diener eines anderen zu sein.”
(p272:) “Antipolitisch an diesen, von der Arbeit bedingten,
gesellschaftlichen Bildungen ist die Verschmelzung der Vielen in ein
Kollektiv, also die Aufhebung der Pluralität; dies ist der genaue
Gegensatz jeglicher Gemeinschaft, ob sie nun politischer oder wirtschaftlicher
Art ist, denn eine Gemeinschaft besteht natürlich niemals, nach den
Worten Aristoteles', aus dem Zusammenschluss zweier Ärzte, sondern bildet
sich zwischen einem Arzt und einem Bauern, >>und überhaupt zwischen
Leuten, die verschieden und einander ungleich sind.<<
(p275f:) “Politisch ist der Hauptunterschied zwischen Sklavenarbeit und
freier Arbeit nicht, dass der Arbeiter bestimmte individuelle Freiheiten
genießt - Bewegungsfreiheit, Berufsfreiheit und die Unverletzlichkeit
der Person -, sondern dass er in den politischen Bereich zugelassen und
politisch voll emanzipiert ist.”
Das altertum setzte sklaven frei, gab ihnen die rechte der ansässigen
fremden: bürgerliche, doch keine politischen. Dagegen “richtete
sich die moderne Arbeiteremanzipation auf die Arbeit selbst; sie emanzipierte
die arbeitende Tätigkeit, machte sie gleichsam gesellschaftsfähig,
und zwar lange bevor der Arbeiter als Person die volle Gleichberechtigung
erlangte.”
(p277f:) “Als die Arbeiterbewegung den Schauplatz des Öffentlichen
betrat, erschien sie mit anderen Worten als einzige Gruppe, in der Menschen
qua Menschen, und nicht als Glieder der Gesellschaft, handelten und sprachen
.... Nur [dadurch] .... vermochte sie eine so große Anziehungskraft
außerhalb der Arbeiterklasse auszuüben ....
Wie doppeldeutig und schwer entwirrbar immer die Geschichte der
Arbeiterbewegung, ihrer Inhalte und Ziele, gewesen sein mag, ihre
Fähigkeit, das Volk zu repräsentieren, und damit ihre spezielle
politische Funktion verliert sie, sobald die Arbeiterklasse als ein integraler
Bestandteil der Gesellschaft anerkannt ist .... ”
(p279:) “Nicht nur den Denkern und Philosophen, sondern auch den
Handelnden selbst hat die Versuchung immer sehr nahe gelegen, sich nach einem
Ersatz für das Handeln umzusehen in der Hoffnung, dass der Bereich der
menschlichen Angelegenheiten vielleicht doch noch von dem Ungefähr und
der moralischen Verantwortungslosigkeit errettet werden könne, die sich
aus der einfachen Tatsache der in jedes Handeln verstrickten Pluralität
von Handelnden ergibt. Dass die zur Lösung dieser Aporien vorgeschlagenen
Versuche im Grunde immer auf das gleiche hinauslaufen, zeigt, wie einfach
elementarer Natur die Aporien selbst sind. Allgemein gesprochen handelt es
sich nämlich immer darum, das Handeln der vielen im Miteinander durch
eine Tätigkeit zu ersetzen, für die es nur eines Mannes bedarf, der,
abgesondert von den Störungen durch die anderen, von Anfang bis Ende Herr
seines Tuns bleibt. Dieser Versuch, ein Tun im Modus des Herstellens an die
Stelle des Handelns zu setzen, zieht sich wie ein roter Faden durch die uralte
Geschichte der Polemik gegen die Demokratie, deren Argumente sich desto
leichter in Einwände gegen das Politische überhaupt verwandeln
lassen, je stichhaltiger und beweiskräftiger sie vorgetragen
sind.
Die Aporien des Handelns lassen sich alle auf die Bedingtheit menschlicher
Existenz durch Pluralität zurückführen, ohne die es weder einen
Erscheinungsraum noch einen öffentlichen Bereich gäbe. Daher ist der
Versuch, der Pluralität Herr zu werden, immer gleichbedeutend mit dem
Versuch, die Öffentlichkeit überhaupt abzuschaffen.”
(p279f:) “Nicht Grausamkeit ist das Merkmal der Tyrannis, sondern die
Vernichtung des öffentlich politischen Bereichs, den der Tyrann aus
>>Weisheit<< - weil er sich, und vermutlich sogar zu Recht,
einbildet, es besser zu wissen - oder aus Machthunger für sich
monopolisiert, dass er also darauf besteht, dass die Bürger sich um ihre
Privatangelegenheiten kümmern und es ihm, dem >>Herrscher
überlassen, sich der öffentlichen Geschäfte
anzunehmen<<.” (Aristoteles, Athenische Verfassung, XV,5)
Offenkundige vorteile der Tyrannei sind die steigerung der gesellschaftlichen
produktivität, sicherheit und stabilität.
(p281ff:) “So groß ist die Verführung,
die menschlichen Angelegenheiten
durch die Einführung einer unpolitischen Ordnung zu stabilisieren, dass
der größte Teil der politischen Philosophie seit Plato sich
mühelos als eine Geschichte von Versuchen und Vorschlägen darstellen
ließe, die theoretisch und praktisch darauf hinauslaufen, Politik
überhaupt abzuschaffen
.... Die theoretisch kürzeste und grundlegendste Version dieser
Bestrebungen, das Handeln durch Herrschaft zu ersetzen, findet sich in dem
Dialog über den >>Staatsmann<< ....
Plato hat als erster die Menschen eingeteilt in solche, die wissen und nicht
tun, und solche, die tun und nicht wissen, was sie tun. Betrachtet man die
Geschichte des politischen Denkens seit Plato, so ist man versucht zu meinen,
dass der Riss, mit dem Plato das Handeln in einen Gegensatz zwischen Tun und
Wissen aufspaltete, zwar auf die mannigfaltigste Weise variiert und auch
wieder verdeckt wurde, aber nie wieder verheilt ist.
.... Er wollte, mit anderen Worten, den privaten und privativen Charakter der
Hausgemeinschaft eliminieren, und zu diesem Zweck empfahl er die Abschaffung
des Privateigentums und der Einehe .... Platos Forderung, die Verhaltensregeln
in öffentlichen Angelegenheiten aus dem Herr-Sklave-Verhältnis
herzuleiten, lief in Wahrheit darauf hinaus, das Handeln a priori aus dem
Verlauf der menschlichen Angelegenheiten auszuschalten.”
(p284f:) “Historisch hat dieser aus dem Haushaltsbereich der Familie
stammende Herrschaftsbegriff eine so entscheidende Rolle in der theoretischen
Auslegung des Öffentlich-Politischen gespielt, dass er für uns
primär mit Politik im engeren Sinne des Wortes verknüpft ist
....
So wird Selbstbeherrschung für Plato das höchste Kriterium
für die Fähigkeit, andere zu beherrschen; die Befehlsgewalt des
Philosophen-Königs ist legitim, weil die Seele imstande ist, dem
Körper Befehle zu erteilen, und weil die Vernunft die Fähigkeit
besitzt, die Leidenschaften zu beherrschen. .... Zur Herrschaft berechtigt ist
[bei Platon], was Anfang ist .... und erst nach dem Untergang der antiken Welt
ist die Vorstellung von einem Anfangen aus dem Herrschaftsbegriff ganz
verschwunden. Mit diesem Verlust verlor die Tradition politischen Denkens die
elementarste und ursprünglichste Erfahrung des gewaltigen Vermögens
menschlicher Freiheit.
Die Platonische Trennung von Wissen und Tun hat sich dagegen bis heute als
die Wurzel aller Herrschaftstheorien erhalten, die mehr beanspruchen als die
Rechtfertigung eines angeblich der menschlichen Natur inhärenten
Machtwillens, der prinzipiell unverantwortlich handelt.”
(p285ff:) “ .... dass Plato für seine Auflösung des Handelns in
Befehlen und Gehorchen sich nicht nur an den Herrschaftsverhältnissen der
antiken Familie orientierte, sondern sich auf Beispiele bezog, die der
Sphäre des Herstellens und Produzierens entnommen sind .... Wie sehr
sich das Platonische Denken gerade an diesen Erfahrungen im Herstellen
orientierte, geht schon daraus hervor, dass Plato als erster das Wort
>Idee< als ein Schlüsselwort philosophischen Denkens
einführte, also zum Begriff erhob, was ursprünglich im Herstellen
erfahren war.”
zB wird von Aristoteles in einem seiner frühesten dialoge
das >vollkommenste Gesetz<, das der idee am
nächsten kommt, mit senkblei, maß und kompass verglichen.
Der große vorteil der platonsichen ideenlehre ist die damit mögliche
elimination des persönlichen aus dem Herrschaftsbegriff. Plato entwirft
[wie ein handwerker] als erster utopische staatsformen, in denen das
menschliche miteinander technisch geregelt werden kann
(p291f:) Der erfolg der umwandlung des handelns in das herstellen zeigt
sich deutlich an der heutigen terminologie, die fragen der politik nahezu
zwingend an zweck-mittel-kategorien bindet, “dass der Zweck die Mittel
heilige” etc.
(p292:) Paradox ist, dass Platon wie Aristoteles (weniger) sich einig waren,
handwerkern das bürgerrecht vorzuenthalten, doch “ gleichzeitig
vorschlugen, alle öffentlich-politischen Angelegenheiten so zu ordnen,
dass sie denselben Kriterien unterstellt werden können, welche für
die herstellenden Künste gültig sind.”
(p293f:) Der aufbruch in die zukunft hat begonnen, der mensch richtet seine
handelnde Fähigkeit auf die natur in welcher er experimentell
“spontane Prozesse loslässt”. Die naturwissenschaften sind
vornehmlich wissenschaften von prozessen.
(p296ff:) Die unumkehrbarkeit der prozesse führt im abendländischen
denken zum schluss, freiheit könne nur der bewahren, der sich des
handelns enthält; in falscher gleichsetzung von freiheit und
souveränität, welch letztere wegen der menschlichen bedingtheit der
pluralität tatsächlich nicht möglich ist.
“Souverän ist nur der einzige Gott.”
(p301:) “Das Heilmittel gegen Unwiderruflichkeit - dagegen, dass man
Getanes nicht rückgängig machen kann, obwohl man nicht wusste, und
nicht wissen konnte, was man tat [wegen der potentiell in's unendiche gehenden
konsequenzen eines jeden handelns] - liegt in der menschlichen Fähigkeit,
zu verzeihen. Und das Heilmittel gegen Unabsehbarkeit - und damit gegen die
chaotische Ungewissheit alles Zukünftigen - liegt in dem Vermögen,
Versprechen zu geben und zu halten. Diese beiden Fähigkeiten gehören
zusammen ....”
(p303f:) “Will man in der Parallele mit der von außen angelegten,
politischen Moral Platonischer Prägung bleiben, so könnte man sagen:
so wie die Art und Weise der Selbst-Beherrschung die Herrschaft über
andere rechtfertigt und bestimmt, wird die Art und Weise, wie jemand
erfährt, dass Verzeihungen gewährt und Versprechen gehalten werden,
darüber entscheiden, wie weit er imstande ist, sich selbst zu verzeihen
oder ein Versprechen zu halten, das nur ihn selbst betrifft. Nur wem bereits
verziehen ist, kann sich selbst verzeihen; nur wem Versprechen gehalten
werden, kann sich selbst etwas versprechen und es halten.”
(p304f:) Dringt das herstellen in das handeln ein wie in die
naturwissenschaften, dann fehlt das mittel des wiedergutmachens, und nur mit
denselben gewaltsamen mitteln des tun kann ungetan gemacht
werden.
“Was das Verzeihen innerhalb des Bereiches menschlicher
Angelegenheiten vermag, hat wohl Jesus von Nazareth zuerst gesehen und
entdeckt ....
Entscheidend in unserm Zusammenhang ist, dass Jesus gegen die
>>Schriftgelehrten und Pharisäer<< die Ansicht vertritt, dass
nicht nur Gott die Macht habe, Sünden zu vergeben .... sondern umgekehrt
von den Menschen mobilisiert werden muss, damit auch Gott ihnen verzeihen
könne .... Gott vergibt >>uns unsere Schuld, wie wir vergeben
unseren Schuldigern<<. Zweifellos bildet die Einsicht >>Denn sie
wissen nicht, was sie tun<< den eigentlichen Grund dafür, dass
Menschen einander vergeben sollen; aber gerade darum gilt auch diese Pflicht
des Vergebens nicht für das Böse, von dem der Mensch von vorhinein
weiß, und sie bezieht sich keineswegs auf den Verbrecher .... Dass
jemand das Böse direkt will, ist selten .... Verbrechen sind nicht
häufiger als tätige Güte.”
(p307ff:) Verzeihen ist unerwartet und damit dem ursprünglichen
[verziehenen] tun ebenbürtig; es befreit von der vergangenheit. Die
einzig echte alternative des vergebens ist strafe.
“Auf jeden Fall können wir das >>radikal Böse<<
[Kant] vielleicht daran erkennen, dass wir es weder bestrafen noch vergeben
können, was nichts anderes heißt, als dass es den Bereich
menschlicher Angelegenheiten übersteigt und sich den
Machtmöglichkeiten des Menschen entzieht .... Böse Taten sind
buchstäblich Un-taten; sie machen alles weitere Tun unmöglich
....
Das Vergeben bezieht sich auf die Person und niemals auf die Sache .... wenn
ein Unrecht verziehen wird, so wird demjenigen verziehen, der es begangen hat,
was natürlich nicht das geringste daran ändert, dass das Unrecht
unrecht war.”
Nicht allerdings hat nur (wie Jesus sagt) die Liebe die macht, zu vergeben.
Liebe löst die liebenden aus der welt, ist somit ihrem wesen nach
antipolitisch, vermutlich die stärkste der antipolitischen kräfte.
Und tatsächlich entspricht der liebe im reich der menschlichen
angelegenheiten der >Respekt<, nach Aristoteles eine art
>>politische Freundschaft<<, die der intimität und der
nähe nicht bedarf, unabhängig von eigenschaften oder leistungen der
respektierten person ist.
“So ist ja offenbar der moderne Respektverlust, bzw. die
Überzeugung, dass wir Respekt nur schulden, wo wir bewundern oder
schätzen, ein deutliches Zeichen für die fortgeschrittene
Entpersonalisierung des öffentlichen und gesellschaftlichen
Lebens.”
[Siehe zB hier
und auch hier]
(p311:) Im politischen wurde das verzeihen niemals ernst genommen, aber
das versprechen hat stets eine große rolle gespielt
(p312:) Auf einem vertrag gegründete staatsformen machen im unterschied zu
auf herrschaft und souveränität beruhenden freiheit möglich, im
tausch für die unabsehbarkeit der zukunft
(p314:) Die politische moral kann sich lediglich auf die fähigkeit zu
versprechen stützen
6 - Die Vita activa und die Neuzeit
(p325:) “Die Geschichte dieses Jahrhunderts beweist vielmehr, dass der
Glaubensverlust die Menschen nicht auf die Welt und ein Diesseits, sondern
vielmehr auf sich selbst zurückgeworfen hat ....
Weltentfremdung und nicht Selbstentfremdung, wie Marx meinte, ist das
Kennzeichen der Neuzeit.”
(p326f:) Die befreiung des natürlichen prozesses der arbeitskraft geht
einher mit einem ansteigen des gesellschaftlichen reichtums und der enteignung
vieler [s.o.].
Als ersatz für das verlorene eigentum an haus und hof bietet sich
der nationalstaat an
(p337:) “Jedenfalls hat, was die Neuzeit betrifft, Weltentfremdung den
Gang und die Entwicklung der modernen Gesellschaft bestimmt, während
Erdentfremdung von vornherein das Wahrzeichen der modernen Wissenschaft
wurde.”
(p346f:) “Es wäre in der Tat absurd, sich nicht klarzumachen, wie
übergenau die neuzeitliche Weltentfremdung zusammenstimmt mit den
neuzeitlichen subjektivistischen Strömungen in der Philosophie - von
Descartes, Hobbes und dem englischen Sensualismus, Empirizismus und
Pragmatismus über den deutschen Idealismus und Materialismus bin hin
schließlich zu den neuesten Schulen des phänomenologischen (die
Wirklichkeit >>ausklammernden<<) Existentialismus oder des
logischen und epistemologischen Positivismus ....
Die Welt wird nicht von Ideen verändert, sondern von Ereignissen ....
” [aber die ereignisse werden auch von den ideen vorbereitet,
so sucht und findet beispielsweise die physik die in ihre theorien
passenden materiellen bestätigungen / elementarteilchen, was HA dann auch
beschreibt, s.u. und
nochmals]
(p348:) “Die Philosophie der Neuzeit fängt an mit Descartes' Satz:
De omnibus dubitandum est.” Dies ist jedoch nicht misszuverstehen als
die bekannte methode systematischen zweifelns des denkens, sondern setzt an
die stelle des Staunens über alles seiende die grundfrage der
neuzeitlichen metaphysik, zuerst formuliert von Gottfried Wilhelm Leibniz,
warum es eher Etwas als Nichts gibt, wo doch das Nichts einfacher, leichter
ist
(p349f:) “Wenn das leibliche Auge so trügen kann, dass die Menschen
durch die Jahrhunderte hindurch sich einreden konnten, dass die Sonne um die
Erde kreist, dann verliert die Metapher von dem inneren Auge des Geistes allen
Sinn; auch sie gründet, selbst wenn sie im Gegensatz zur
Sinneswahrnehmung gebraucht wird, noch auf einem absoluten Vertrauen in das
leibliche Sehvermögen. Wenn Sein und Erscheinung endgültig getrennt
werden müssen - und dies ist, wie Marx gelegentlich bemerkte, das
Grundprinzip der modernen Wissenschaft -, dann gibt es nichts mehr, was man
auf Treu und Glauben hinnehmen kann, nichts mehr, woran nicht gezweifelt
werden müsste ....
Was den kartesischen Zweifel auszeichnet, ist seine Universalität, dass
vor ihm nichts sicher ist, kein Gedanke und keine Erfahrung .... Der
kartesische Zweifel zweifelt nicht einfach, dass das menschliche
Verstandesvermögen nicht der ganzen Wahrheit mächtig oder dass das
menschliche Sinnesvermögen nicht allem Wirklichen geöffnet sei,
sondern daran, dass Sichtbarkeit überhaupt ein Beweis für
Wirklichkeit und dass Verstehbarkeit überhaupt ein Beweis für
Wahrheit sei.”
(p352f:) “Durch Descartes' Philosophie spuken zwei Alpträume der
Angst, die in gewissem Sinne die Neuzeit niemals losgelassen haben” ....
nämlich das bezweifeln der wirklichkeit wie des menschen selbst, und, dass
gott nicht schöpfer und könig der welt sei sondern ein böser
geist, René Descartes' “Dieu trompeur”, ein
betrügerischer gott, der sich den menschen so ausgedacht hat, dass die
wahrheit zwar kennend, doch nie erreichen könnend
“So verschwand aus der Religion vorerst keineswegs der Glaube an eine
Erlösung oder ein Leben nach dem Tode, wohl aber die certitudo salutis,
die Gewissheit des Heils - und zwar vor allem im Protestantismus
.... So endete der Verlust der Wahrheitsgewissheit in einem neuen und
ebenfalls bis dahin unbekannten Eifer für Wahrhaftigkeit ....
So wurden die moralisch wirksamsten Zentren der Neuzeit die gelehrten
Gesellschaften und Königlichen Akademien, in denen die Wissenschaftler
sich organisiert hatten, um Mittel und Wege zu finden, die Natur in die Falle
zu locken und ihr ihre Geheimnisse abzuzwingen.”
(p353:) Theorien haben nun nur noch praktischen wahrheitsgehalt, als
arbeitshypothese. Wahrheit ist nun die bewährung der hypothese
(p354:) “Descartes' Überzeugung, dass >>wenn auch der Geist
des Menschen nicht das Maß der Dinge und der Wahrheit ist, er doch
zweifellos das Maß dessen sein muss, was wir bejahen oder
verneinen<< spricht nur aus, was unausdrücklich die eigentlich
wissenschaftliche Haltung der Zeit auszeichnete ....”
(p355f:) “Die Gewissheit, welche die neue Denkmethode sichert, war nach
Descartes die Gewissheit der eigenen Existenz. Und dieses Minimum an
Gewissheit kann der Mensch sicher sein, wo immer er hingeht, weil er es in
sich selbst trägt”
(p358ff:) “Die kartesische Methode der Argumentation beruht durchaus
>>auf der unausgesprochenen Voraussetzung, dass der Verstand nur das
erkennen kann, was er selbst hervorgebracht hat und in gewissem Sinne in sich
selbst zurückhält<<. Ihr Erkenntnisideal ist das der
Mathematik, wie die Neuzeit sie verstand .... Erkenntnis von Formen, die das
Erkenntnisvermögen selbst hervorgebracht hat ....
Offenbar führt diese Erkenntnistheorie genau in die für den gesunden
Menschenverstand >>verkehrte Welt<<, von der Hegel bekanntlich
meinte, sie sei die Welt der Philosophie; sie ist in der Tat, wie Whitehead
meint, >>das Resultat des auf dem Rückzug befindlichen
Gemeinsinns<<.
.... was die Menschen des gesunden Menschenverstands miteinander gemeinsam
haben, ist keine Welt, sondern lediglich eine Verstandesstruktur ....
die Zugehörigkeit zu einer Tiergattung, die sich vor anderen
Tiergattungen nur dadurch auszeichnet, dass sie es vermag, Schlussfolgerungen
zu ziehen ....”
Das Problem ist, dass ein der erde verhaftetes wesen mit seinem sinnesapparat
den archimedischen punkt entdeckt hat und damit notwendig in einer
“verkehrten Welt” leben muss. Descartes löst dies durch die
verlegung des archimedischen punktes in den menschen selbst, in sein
erkenntnisvermögen
“ Dabei erlaubt die reductio scientiae ad mathematicam, an die Stelle
des sinnlich Gegebenen ein System mathematischer Gleichungen zu setzen
....”
(p362f:) “.... äußerst unheimlichen Tatbestand,
dass die Systeme der nicht-euklidischen Mathematik gefunden wurden ....
ohne .... dass eine solche Mathematik anwendbar oder überhaupt von
irgendeiner empirischen Bedeutung sein könne - bis sie dann in
Einsteins Theorie ihre überraschende Gültigkeit erwiesen.
.... dass diese mathematisch vorausgesagten Universen Traumwelten
sein könnten, in denen jede Traumvision, die der Mensch so oder anders
produziert, sich als Wirklichkeit bewährt, solange der Traum
währt.”
(p365f:) Die macht des menschen, welten zu erschaffen wirft ihn auf sich selbst
zurück, sperrt ihn gleichsam in die grenzen seiner selbst erschaffenen
systeme
“Mit dem Verschwinden des sinnlich Gegebenen verschwindet auch das
Übersinnliche, und damit die Möglichkeit, das Konkrete im Denken und
Begriff zu transzendieren.”
(p367:) Die schwerwiegendste konsequenz der neutzeitlichen entdeckungen war
vielleicht “die Umkehrung der überkommenen hierarchischen Ordnung
von Vita contemplativa und Vita activa.”
Die moderne technik ist nicht folge des pragmatischen strebens nach
verbesserung der lebensumstände sondern ergibt sich
“zufällig” aus “theoretischen” interessen (der
grundlagenforschung)
(p368:) “Um Gewissheit zu erlangen, musste man Mittel und Wege finden,
sich zu vergewissern, und um zu erkennen, musste man etwas tun.”
(p370:) “Worte sind, wie Plato meint, zu >>schwach<< für
das Wahre, das daher überhaupt in der Rede nicht gefasst werden kann, und
Aristoteles bestimmte das höchste Vermögen des Menschen ... als eine
Fähigkeit, der sich das zeigt, >>von dem es einen
λóγος
nicht gibt<<.
... Was völlig aus dem Gesichtskreis neuzeitlicher Denkungsart
verschwand, war die Kontemplation, das Anschauen oder Betrachten eines
Wahren.”
(p371:) Die körperlos in der unterwelt des Homer gefangenen seelen, die
seele als schatten des körpers wird zum körper als schatten der
seele
(p375:) Im unterschied zu heutigen experimenten, welche technik voraussetzen,
zB Michelson-Morley, hätten Galileis fall-experimente zu jeder zeit in der
geschichte durchgeführt werden können. Heute ist das experimentieren
selbst eine art und weise des fabrizierens
(p376f:) “.... es ist, als hätten die Jahrhunderte, in denen die
Wissenschaften das Erkennen auf dem Wege des Herstellens ausprobierten, nur
als Lehrzeit gedient für eine Welt, in der der Mensch nun wirklich das
herstellt und erschafft, was er dann zu erkennen sich anschickt.”
[zB Finanzmarktkrisen]
(p377:) “So rückt der Prozessbegriff an die Stelle, die vormals der
Seinsbegriff innegehabt hatte, bzw. Sein wird überhaupt nur noch als
Prozess erfahren .... Vom Standpunkt des Herstellenden und Fabrizierenden
[Homo faber] aus gesehen, bietet das moderne Weltbild ebenfalls das Bild einer
>>verkehrten Welt<<, einer Welt nämlich, in der die Mittel,
der Herstellungs- oder Entwicklungsprozess, wichtiger geworden sind als die
Zwecke, die hergestellten oder gewachsenen Dinge.”
(p380:) “Die politische Philosophie dieser Jahrhunderte, deren
größter Vertreter Hobbes war, läuft immer darauf hinaus,
Mittel und Wege zu finden, >>ein künstliches Lebewesen ... genannt
Gemeinwesen oder Staat herzustellen<<.” (Hobbes in der Einleitung
zum Leviathan)
(p383:) “Die politische Philosophie der Neuzeit, deren größter
Vertreter Hobbes geblieben ist, scheitert an dem unlösbaren Dilemma, dass
der Rationalismus irreal und der Realismus irrational ist - was nichts anderes
sagt, als dass Wirklichkeit und menschliche Vernunft nicht mehr zueinander
finden.”
Die verabsolutierung des prozessbegriffes in der deutung des
herstellens vollendet den bruch mit der anschauung als höchste form
menschlicher erkenntnis
(p385:) “ .... Plato und Aristoteles, die bei allen anderen
tiefgreifenden Unterschieden zumindest formal einstimmig das Staunen als die
Quelle der Philosophie bezeichneten, auch darin übereinstimmten, dass das
Ende und Ziel alles Philosophierens wiederum in einem Zustand der
Sprachlosigkeit, einer Anschauung, die sich in Worten nicht mitteilen
lässt, bestehen soll.”
(p390:) Die kartesische weltentfremdung, ergänzt durch das
Nützlichkeitsprinzip, beherrscht die englische philosophie seit dem 17.
jahrhundert, die französische seit dem 18. Andere motivationen als
interessen scheinen unmöglich für das verhalten. Die
vollständige umsetzung der ältesten überzeugung des Homo faber,
der mensch sei das maß aller dinge
(p391:) Entwertung der werte durch die warengesellschaft, der tauschwert steht
über dem gebrauchswert. Doch noch wichtiger dabei ist die verlagerung des
focus vom ding selbst auf den prozess - die feste regel und den maßstab
raubend
(p396f:) Hinter “der Theorie von der Heiligkeit des Egoismus und der
wohltätigen Macht rücksichtsloser Interessenvertretung in allen ihren
Abarten” steckt nicht der lustkalkül mit dem aufrechnen von soll und
haben, verdiensten gegen sünden, nicht hedonismus. All diese systeme sind
nicht so sehr auf “Glück” gerichtet, als auf “eine
Intensivierung des Lebens des Einzelnen, bzw. auf eine Grantie des
Lebensprozesses des Menschengeschlechts.”
(p397ff:) Descartes' problem (s.o.) wird vom naturalismus des 19. jahrhunderts
gelöst, indem er das leben selbst an die stelle von bewusstsein und
außenwelt setzt. Das bild des uhrmachers (causa), der vollkommener sein
muss als seine vollkommenste wirkung, die uhren, diese prinzipiell
transzendiert. “Nihil sine causa”, wird ersetzt durch die
kausalitätsfreie organische entwicklung
(p400:) Die nun im Zentrum dieses Denkens stehende Heiligkeit des Lebens stammt
aus der Heilsbotschaft des Christentums von der Unsterblichkeit des
Einzellebens.
Diese verkehrt die antike Beziehung zwischen Mensch und Welt:
unvergänglicher Mensch und vergängliche Welt gegen
unvergänglichen Kosmos und sterblichen Menschen.
Das höchste Gut ist nun das Leben, nicht mehr die Welt
“Angesichts der möglichen Unsterblichkeit des Einzellebens konnte
dem Trachten nach weltlicher Unsterblichkeit keine große Bedeutung mehr
zukommen, und das, was die Welt an Ruhm und Ehre zu verleihen vermag, wird
eitel, wenn die Welt vergänglicher ist als man selbst.”
[und man kann sich diese Interimslösung des Jammertales untertan machen
und in Ausbeutung noch vergänglicher]
(p403f:) Da nun also alles der Erhaltung des irdischen Lebens dienende
angesichts der Unsterblichkeit zur Notendigkeit wird, rückt das Handeln
hinab zum Arbeiten und dieses wird damit aufgewertet. Nicht mehr kann Platons
Urteil gelten, der Sklave habe seine sklavische Seele bereits dadurch bewiesen,
sich nicht das Leben genommen zu haben, um der Unterwerfung zu entgehen.
Erhaltung des (eigenen) Lebens wird heilige Pflicht. Selbstmord wird ein
schwereres Verbrechen als Mord: dem Selbstmörder wird das christliche
Begräbnis verweigert, dem Mörder nicht.
[Und die christliche Religion erweist sich somit aus Sicht des antiken Seins
als Sklavenreligion]
Nicht Pflicht zur Arbeit allerdings wird gepredigt vom Christentum,
wenn auch immer wieder versucht wird, dies dem Paulus zu unterstellen
(doch siehe 1. Thessaloniker 4,9-12 und 2. 3,8-12),
sondern, sich am Leben zu erhalten. So sagt zB Thomas von Aquin, man solle nur
arbeiten, wenn man sich sonst wirklich nicht zu helfen wisse.
(p407:) “Sicher jedenfalls ist, dass die Umkehrung von Theorie und Praxis
sich im Rahmen der älteren und radikaleren Umkehrung des
Verhältnisses von Leben und Welt vollzog und als solche der Ausgangspunkt
für die gesamte moderne Entwicklung wurde. Erst als die Vita activa ihre
Ausrichtung auf die Vita contemplativa verlor, konnte sie sich als tätiges
Leben voll entfalten; und nur weil dies tätige Leben ausschließlich
auf Leben als solches ausgerichtet war, konnte der biologische Lebensprozess
selbst, der aktive Stoffwechsel des Menschen mit der Natur, wie er sich in der
Arbeit verwirklicht, so ungeheuer intensiviert werden, dass seine wuchernde
Fruchtbarkeit schießlich die Welt selbst und die produktiven
Vermögen, denen sie ihre Entstehung dankt, in ihrer Eigenständigkeit
bedroht.”
Die moderne welt lässt Animal laborans siegen, denn durch den
glaubensverlust, die säkularisierung wird das leben des einzelnen erneut
sterblich wie im altertum - aber die welt bleibt weiterhin sterblich.
(p408:) Das innenleben zerfällt in eine rational-rechnerische
verstandestätigkeit und ein irrational-leidenschaftliches
gefühlsleben - wobei die leidenschaften tatsächlich missverstandene
begierden und lüste sind
(p410f:) Die moderne welt zeichnet sich aus durch einen enormen schwund an
erfahrung. Die kontemplation ging verloren, das denken im sinne des ziehens von
schlussfolgerungen ist zu einer gehirnfunktion degradiert, welche computer
besser ausführen können, das handeln wird erst mit dem herstellen
gleichgestellt und ist nun auf das niveau des arbeitens abgesunken. Aber selbst
die auf arbeit abgestellte welt ist im schwinden begriffen.
“In ihrem letzten Stadium verwandelt sich die Arbeitsgesellschaft in
eine Gesellschaft von Jobholders, und diese verlangt von denen, die ihr
zugehören, kaum mehr als ein automatisches Funktionieren, als sei das
Leben des Einzelnen bereits völlig untergetaucht in den Strom des
Lebensprozesses, der die Gattung beherrscht, und als bestehe die einzige
aktive, individuelle Entscheidung nur noch darin, sich selbst gleichsam
loszulassen, seine Individualität aufzugeben, bzw. die Empfindungen zu
betäuben, welche noch die Mühe und Not des Lebens registrieren, um
dann völlig >>beruhigt<< desto besser und reibungsloser
>>funktionieren<< zu können.
Das Beunruhigende an den modernen Theorien des Behaviorismus ist
nicht, dass sie nicht stimmen, sondern dass sie im Gegenteil sich als nur
zu richtig erweisen könnten, dass sie vielleicht nur in theoretisch
verabsolutierender Form beschreiben, was in der modernen Gesellschaft
wirklich vorgeht. Es ist durchaus denkbar, dass die Neuzeit, die mit einer
so unerhörten und unerhört vielversprechenden Aktivierung aller
menschlichen Vermögen und Tätigkeiten begonnen hat,
schließlich in der tödlichsten, sterilsten Passivität
enden wird, die die Geschichte je gekannt hat.”
(p412:) “.... es ist nicht zu leugnen, dass diese herstellenden
Vermögen sich in wachsendem Maße auf die spezifisch
künstlerisch Begabten beschränken, was zu Folge hat, dass die
eigentlichen weltorientierten Erfahrungen sich mehr und mehr dem
Erfahrungshorizont der durchschnittlichen menschlichen Existenz
entziehen.”
(p414:) Es ist zu hoffen, dass das denken selbst in der neuzeit noch am
wenigsten schaden genommen hat.
“.... Jedenfalls ist es erheblich leichter, unter den Bedingungen
tyrannischer Herrschaft zu handeln als zu denken. Die Erfahrung des Denkens hat
seit eh und je, vielleicht zu Unrecht, als ein Vorrecht der Wenigen gegolten,
aber gerade darum darf man vielleicht annehmen, dass diese Wenigen auch heute
nicht weniger geworden sind. Dies mag von nicht zu großer Bedeutung oder
doch von nur sehr eingeschränkter Bedeutung für die Zukunft der Welt
sein, die nicht vom Denken, sondern von der Macht handelnder Menschen
abhängt; es ist nicht irrelevant für die Zukunft des Menschen.
Denn hätten wir die verschiedenen Fähigkeiten der Vita activa
lediglich von der Frage her betrachtet, welche von ihnen die
>>tätigste<< ist und in welcher sich die Erfahrung des
Tätigseins am reinsten ausspricht, dann hätte sich vermutlich
ergeben, dass das reine Denken alle Tätigkeiten an schierem Tätigsein
übertrifft. Diejenigen, die sich in der Erfahrung des Denkens auskennen,
werden schwerlich umhinkönnen, dem Ausspruch Catos zuzustimmen:
numquam se plus agere quam nihil cum ageret, numquam minus solum esse quam cum
solus esset, was übersetzt etwa heißt: >>Niemals ist man
tätiger, als wenn man dem äußeren Anschein nach nichts tut,
niemals ist man weniger allein, als wenn man in der Einsamkeit mit sich allein
ist.<<
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