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Über die liberale Gesellschaft
Das Reich des kleineren Übels
- Jean-Claude Michéa
Grenzüberschreitender Handel zwischen offenen neoliberalismusfreien
Gesellschaften
Gescheiterte Globalisierung - Ungleichheit,
Geld und die Renaissance des Staates
Heiner Flassbeck und Paul Steinhardt
Schützt den Liberalismus vor sich selbst
Das Reich des kleineren Übels - Über die liberale Gesellschaft
Jean-Claude Michéa
Matthes & Seitz Berlin, 2014. Original 2007:
L'Empire du moindre mal : Essai sur la civilisation libérale, Climats,
réédition Champs-Flammarion, 2010
Von der Verortung des Ordoliberalismus im
das Kind mit dem Bade ausschüttenden
Liberalismus
Von der Vergötterung des Wachstums
Von der Ersetzung äußerer Regeln durch die Herrschaft des
Über-Ich
Von der Abschaffung der Geschichte (Fukuyama) und damit der
Menschheit
Das Wesen des Liberalismus -
Der homo oeconomicus als der wesentliche Mensch
Der liberale Kerngedanke ist bekanntlich von biblischer Schlichtheit.
Er beruht auf der Vorstellung, dass es nach wie vor möglich sei,
den Krieg aller gegen alle zu verhindern und eine freie, pazifistische und
wohlhabende Gesellschaft zu begründen, selbst falls die Individuen nur
ihren eigenen Interessen gemäß handeln sollten. Es genüge,
zugunsten der Gemeinschaft die Energie der „privaten Laster“
zu kanalisieren
und die Harmonisierung des individuellen Verhaltens den neutralen und
unpersönlichen Mechanismen von Recht und Markt zu überlassen.
Diese Lösung impliziert im Gegenzug, dass die moralischen Werte
- aus denen die diversen Zivilisationen der Vergangenheit zum Teil ihre
Daseinsberechtigung zogen - künftig aus dem öffentlichen Raum
verbannt werden müssen (p119)
Siehe auch in anderer Formulierung
unten
Der auf seine Grundprinzipien zurückgeführte Liberalismus stellt sich
folglich als das Projekt einer minimalen Gesellschaft dar, die formal durch das
Recht und innerlich durch die Ökonomie definiert wird *A*.
Der Glaube, dass eine
menschliche Gesellschaft harmonisch und erfolgreich funktionieren könne,
ohne sich (über die reine Rhetorik hinaus) auf gemeinsame
moralische und kulturelle Werte zu stützen, nimmt sich - angesichts der
Lehren aus Geschichte und Anthropologie - so seltsam aus, dass sich die
Verfechter dieser Doktrin im Allgemeinen ein salonfähigeres
Rückzugsgebiet offenhalten. Daher gibt es die Zusatzklausel, in der mit
dem „Geist der Toleranz“ und der „Ablehnung von
Diskriminierung“ eine Art
Ersatzethik angeboten wird, die es als
Bedingung des liberalen Systems oder zumindest als glückliche Folge seines
täglichen Funktionierens anzusehen gelte. (p71)
*A* Alain Gérard Slama [schreibt], dass „die beiden Grundwerte
der Demokratie in der Freiheit und im Wachstum“ bestünden. Eine
vollendete Definition des Liberalismus. (p78)
Das - empirisch falsifizierte - pessimistische Menschenbild
[Das] Gefangenendilemma ....erstmals 1950 von Melvin Dresher und Merill Flood
beschrieben .... [liefert] vermutlich das beste Modell zur liberalen Theorie.
[Das Gefangenendilemma: Zentraler Bestandteil der Spieltheorie. Spiel mit zwei
Spielern („Gefangenen“), für welche identische
Bedingungen vorliegen; ein symmetrisches Spiel. Die Gefangenen haben die
Möglichkeit, zusammenzuarbeiten, um eine hohe Auszahlung zu erzielen,
oder sie können sich für eine geringere Auszahlung gegenseitig
verraten. Beide Spieler müssen ihre Strategie ohne Kenntnis der Wahl
des jeweils anderen festlegen. Es ist daher möglich, dass ein Spieler
das Gegenteil von dem tut, was der andere macht. In diesem Fall profitiert
nur der Spieler, der den anderen verrät, und zwar besonders stark]
Mit seiner Hilfe lässt sich in der Tat zeigen, dass die egoistischen
Partner sich, um das Schlimmste zu vermeiden, immer für die
sub-optimale Lösung entscheiden müssen, also für den in
Anbetracht der erbärmlichen Natur des Menschen praktikabelsten Weg des
„kleineren Übels“. Für eine optimale Lösung
würde es natürlich reichen, in die Problemprämissen wieder ein
potenzielles Mindestmaß an gegenseitigem Vertrauen und
Großzügigkeit einzuführen - was die liberale Hypothese jedoch
von vornherein ausschließt (p136f)
[Anmerkung:
So berichtet Hannah Arendt aus der Praxis, hier dem Eichmann-Prozess und den
Reaktionen auf ihren Bericht von der
“Banalität des Bösen”:
“Bei ihrer moralischen Rechtfertigung hat das Argument des
kleineren Übels eine nicht unwesentliche Rolle gespielt.
Wenn man mit zwei Übeln konfrontiert werde, so lautet das
Argument, dann sei man verpflichtet, das kleinere von beiden zu wählen,
wohingegen es unverantwortlich sei, rundweg jede Wahl abzulehnen ....
Weiter im Text geht's hier ....
Politisch betrachtet bestand die Schwäche des hier zur Diskussion
stehenden Arguments schon immer darin, dass diejenigen, die sich das kleinere
Übel wählen, rasch vergessen, dass sie sich für ein Übel
entscheiden. Da das Übel des dritten Reiches schließlich so
ungeheuerlich wurde, dass man es beim besten Willen nicht mehr als
‘kleineres Übel’ bezeichnen konnte, hätte man annehmen
können, dass diese Argumentation nun ein für alle Mal
zusammengebrochen wäre, was erstaunlicherweise nicht der Fall ist ....
Die Hinnahme kleinerer Übel wird bewusst dafür benutzt, die Beamten
wie auch die Bevölkerung im Allgemeinen daran zu gewöhnen, das
Übel an sich zu akzeptieren .... Leider scheint es viel einfacher zu sein,
menschliches Verhalten zu konditionieren und Menschen dazu zu bringen, sich
auf eine völlig unvorhergesehene und entsetzliche Weise zu verhalten, als
irgendjemanden davon zu überzeugen, aus der Erfahrung zu lernen, das
heißt mit Denken und Urteilen zu beginnen, anstatt Kategorien und
Formeln anzuwenden, die zwar tief in unserem Denken verankert sind, deren
Erfahrungsgrundlage aber längst vergessen ist und deren
Plausibilität eher auf ihrer logischen Stimmigkeit beruht als darauf,
dass sie tatsächlichen Ereignissen angemessen sind ....
Diejenigen, die nicht teilnahmen und von der Mehrheit als unverantwortlich
bezeichnet wurden, waren die Einzigen, die es wagten, selbst zu urteilen ....
Sie [die Angehörigen der ehrenwerten Gesellschaft] tauschten einfach ein
Wertesystem gegen ein anderes aus .... Um es deutlich zu sagen: Nicht weil sie
[die nicht teilnahmen] das Gebot ‘Du sollst nicht töten’
streng befolgt hätten, lehnten sie es ab zu morden, sondern eher deshalb,
weil sie nicht willens waren, mit einem Mörder zusammenzuleben - mit sich
selbst. Weiter im Text geht's hier]
”
(Hannah Arendt, Was heißt persönliche Verantwortung in einer
Diktatur?, Piper 2018, p33ff sowie p45).
Siehe auch hier]
Nach dem eingehenden Verhaltensstudium bei Individuen, die wirklich mit
den von Axelrod beschriebenen Situationen (nach dem Gefangenendilemma)
konfrontiert sind, stellt der kanadische Soziologe [Jacques T. Godbout] fest,
dass der Anteil der Subjekte, die sich unabhängig von den
Bedingungen spontan zu kooperieren entschließen (statt für
die egoistische Berechnung zu optieren), selten unter 30 Prozent liegt.
Darüber hinaus konstatiert er ....., dass sich ein kooperatives Verhalten
sogar in 85 Prozent der Fälle zeigt, „wenn die Forscher den
Austausch zwischen den Spielern oder andere Strategien zulassen, mit denen
sich das Zugehörigkeitsgefühl zur Gruppe steigern
lässt.“
Godbout schließt dementsprechend, dass „das Individuum in
einem egoistischen Kontext zu einer egoistischen Haltung neigt,
während es in einem großzügigen Kontext zu einer
großzügigen Haltung neigt." Folglich sollte sich eine
anständige Gesellschaft weit weniger auf eine juristische (oder andere)
Zwangsstrategie gründen (nichts ist einem anständigen Geist
fremder als die trostlose Welt der „politischen Korrektheit“),
sondern vielmehr auf mittelbare und indirekte Art einen
menschlichen Kontext schaffen, der die Individuen permanent ermutigt,
ihr Bestes zu geben, sprich ihre psychologischen und kulturellen
Dispositionen für ein hilfsbereites und freunschaftliches Verhalten
optimal zu entwickeln. (p165f)
Das Vertrauen - das im Gegenteil im Leben der traditionellen Gemeinschaften
eine zentrale Rolle spielt, man denke nur an die Schwurpraxis oder den Wert des
gegebenen Wortes - findet in Wirklichkeit seine psychologischen und
kulturellen Möglichkeitsbedingungen nur in den ebenso komplexen wie
vielfältigen Wechselspielen der von Allain Caillé so benannten
primären Sozietät. Dabei gründen diese
bekanntermaßen auf der dreifachen traditionellen (weder ökonomischen
noch juristischen) „Verpflichtung“ zum Geben, Nehmen und
Zurückgeben. Diese Theorie der Gabe, die Marcel Mauss als Erster
in die Soziologie einführte, gibt gewiss zu vielgestaltigen (und
möglicherweise widersprüchlichen) Deutungen Anlass [mehr s.u. p144].
Sie impliziert aber in allen Fällen das (bewusste oder unbewusste)
Primat des Kreislaufs oder der Reziprozität vor dem
Individuum, zwingt uns also, im menschlichen Subjekt jenen Aspekt der
symbolischen Verschuldung anzusiedeln, auf der die ihn
konstituierende Unvollkommenheit im Wesentlichen beruht.
Dieser Kreislauf der Gabe, der gewissermaßen den
„Gründungsmoment der Gesellschaft“ beschreibt, ist
natürlich nicht mit einer moralischen Handlung im eigentlichen Sinne
zu verwechseln. Man kann ihn aber mit Jacques T. Godbout gleichsam als
„Fundament“ dieser Gesellschaft betrachten.
.... Joseph Henrich .... dessen Mitarbeiter den glücklichen Einfall
hatten, etwa fünfzehn Jäger- und Sammler-Gesellschaften ein dem
Gefangenendilemma vergleichbares Testprogramm vorzulegen. Ihr Fazit
fällt eindeutig aus: „Das Axiom des Egoismus wird in keiner der
untersuchten Gesellschaften bestätigt.“ (p124f incl Fn8)
Der philosophische Irrtum der Liberalen
Die common decency [die guten Sitten] ist das Ergebnis einer
kontinuierlichen geschichtlichen Arbeit der Menschheit an sich selbst, um die
menschlichen Grundtugenden des Gebens, Nehmens und Zurückgebens zu
radikalisieren, zu verinnerlichen und zu verallgemeinern.
Dieser Prozess hat natürlich nicht erst in der Moderne begonnen.
Schon zu Zeiten des
alten Ägypten war Jan Assmann zufolge im Volk eine
anspruchsvolle Vorstellung von Gerechtigkeit verbreitet, die offenkundig
in den von der Praxis der Gabe vorbereiteten kulturellen und psychischen
Voraussetzungen wurzelte:
„Wir müssen unterscheiden zwischen einer ‘Gerechtigkeit von
oben’ und einer ‘Gerechtigkeit von unten’.
Gerechtigkeit von oben ist ein Organ des Staates, eingesetzt, um die
Regierenden vor Rebellion, die Besitzenden vor Raub und die Ordnung vor
Störungen aller Art zu schützen.
Bei der [alt]ägyptischen Idee der Ma'at handelt es sich um eine
Gerechtigkeit, die den Armen und Schwachen, den Besitzlosen und Rechtlosen,
den sprichwörtlichen Witwen und Waisen zu Hilfe kommt.
Diese Gerechtigkeit wird nicht von oben durchgesetzt, sondern von unten
eingeklagt".
Assmann geht sogar noch weiter. Ihm zufolge sei es falsch, mit Nietzsche zu
glauben, die im Volk verbreitete Gerechtigkeitsvorstellung stamme aus dem
Monotheismus, „denn die Gerechtigkeit war längst in der Welt;
ohne sie hätte menschliches Zusammenleben nicht funktioniert. Sie hat
aber in der ägyptischen Welt, wie wir sehen, ihren Ort bei den Menschen,
nicht bei den Göttern. Die Menschen verlangen nach Gerechtigkeit,
die Götter nach Opfergaben. Die Gerechtigkeit ist, ihrem Ursprung nach,
etwas eher profanes oder säkulares. Religion und Ethik haben
verschiedene Wurzeln und bilden in den primären Religionen getrennte,
wenn auch auf viele Weise miteinander in Verbindung stehende Sphären
[siehe dazu Ptahhotep hier,
und hier].
Erst im Monotheismus verschmelzen sie zu einer untrennbaren Einheit.“
Vor diesem Hintergrund versteht man gut, dass die komplexesten und
universalistischsten Formen der Moral nie vollständig mit dieser
moralischen Tradition brechen können. Sie nehmen im Gegenteil ihren
ganzen Sinn erst dadurch an, dass sie sich bemühen, den
emanzipatorischen Elan dieser „Gerechtigkeit von unten“
beizubehalten und aus ihm die nötigen Kräfte für
ihre Umsetzung zu ziehen. Von ihren lebenswichtigen Wurzeln abgetrennt,
äußern sich die Formen der Moral zwangsläufig in rein
abstrakter Manier, also wie einfache moralische Ideologien, die sich
leicht gegen die menschlichen Grundtugenden verkehren lassen und dabei
ihren zahlreichen Anhängern weiter jenes robuste gute Gewissen
sichern, das zu einer charakteristischen Prägung unserer Zeit
geworden ist.
[Das große Eins-sein erstarb / Da entstand Güte und
Rechtschaffenheit / Klugheit stand auf / Da erschien List und Gleisnerei /
Das Blutband zerriss / Da ward Kindespflicht und Verwandtschaft /
Völker entglitten der Gesetzmäßigkeit / Da kam Gesetzestreue
und Beflissenheit.
Lao Tse, Tao Te King, Deutsch nach Walter Jerven, Kapitel XVIII]
Unter diesen Umständen ist es leichter zu erkennen, worauf der
philosophische Irrtum der Liberalen beruht. Um den Dogmen seiner
utilitaristischen Anthropologie zu genügen (und
das Gespenst der Religionskriege zu bekämpfen), ist der Liberalismus
tatsächlich strukturell zu leugnen gezwungen, dass ein gemeinsamer
historischer Grundstock verallgemeinerbarer Tugenden existiert, die seit
Jahrtausenden die Menschen dazu animieren, ihr Bestes zu geben. Unter diesen
Bedingungen kann das Konzept der "Moral" nur noch als Ideologie
des Guten betrachtet werden, in deren Namen - so viel sei den Liberalen
zugestanden - alle nur erdenklichen Verbrechen rechtlich vertretbar sind.
(p139ff
incl Fn 28/29 Jan Assmann, Die Mosaische Unterscheidung
oder der Preis des Monotheismus, München 2003, p72/73)
Die Rettung des liberalen Ansatzes ist möglich
- Der Ordo-Liberalismus
So werden die Konturen der zivilisatorischen Sackgasse sichtbar, in die die
künftige Menschheit von jedem umfassenden Modernisierungsprogramm des
Lebens zwangsläufig getrieben wird. Indem es die Logik des Gebens
und Nehmens (die sich zur Vermeidung des Schlimmsten immer für
das kleinere Übel entscheiden muss) auf die Gesamtheit der
menschlichen Verhaltensweisen ausdehnt, führt es tatsächlich
unausweichlich zu einer systematischen Demontage der anthropologischen
Bedingungen, die den Mechanismen des Markts und des modernen Rechts
in bestimmten, genau abgesteckten Grenzen
hätten erlauben können, (zumindest teilweise) den Erwartungen der
liberalen Theorie gemäß zu funktionieren
[Der Ordoliberalismus mithin kann Menschlichkeit und
liberalen Ansatz miteinander versöhnen (siehe auch unten
Jonathan Franzen zur Abgrenzung Ordoliberalismus vs.
(Neo)Liberalismus, und insbesondere das liberale Glaubensbekenntnis des
Trägers des Nobelpreises in den Wirtschaftswissenschaften
Paul Krugman)].
Nicht zuletzt dies ist
der Grund, warum das kapitalistische System bis in relativ junge Zeit noch
mit einer gewissen Effizienz funktionieren konnte und etwa in
der Lage war, qualitätsvolle und der Menschheit manchmal wirklich
nutzbringende Waren zu produzieren.
Wie Cornelius Costariadis schreibt, konnte das kapitalistische System
zurückgreifen auf „eine Reihe von Menschentypen, die es nicht selbst
geschaffen hatte beziehungsweise hätte schaffen können:
unbestechliche Richter, integre Bürokraten Weber'scher Couleur,
sich ihrer Berufung widmende Erzieher, Arbeiter mit einem Mindestmaß
an Berufsethos usw. Diese Typen entstehen aus gutem Grund nicht einfach
von selbst, sie entstanden vielmehr in früheren
geschichtlichen Epochen unter Bezugnahme auf damals heilige und unanfechtbare
Werte: die Ehre, der Staatsdienst, die Vermittlung von Wissen, das gelungene
Werk usw. Nun leben wir aber in einer Gesellschaft, in der diese Werte
bekanntlich lächerlich geworden sind, in der allein das Geld, das man
(wie auch immer) einstreicht, zählt oder die Anzahl unserer
Fernsehauftritte
[Siehe hierzu zB die Feldstudie von Wednesday Martin,
„Primates of Park Avenue“].
Der einzige, vom Kapitalismus hervorgebrachte und
anfangs für seine Etablierung unverzichtbare Menschentyp war der
Schumpetersche Unternehmer: jemand, der sich für die Gründung
dieser neuen historischen Institution, das Unternehmen, und für ihre
permanente Erweiterung kraft neuer technischer Komplexe und neuer
Methoden zur Marktdurchdringung begeistert. Doch selbst diesen Typus
zerstört die aktuelle Entwicklung: Was die Produktion angeht, wird
der Unternehmer durch eine Managerbürokratie ersetzt; was das
Geldverdienen angeht, bringen Börsenspekulationen, Übernahmeangebote
und Finanzierungsinstitutionen viel mehr ein als die eigentlichen
‘unternehmerischen’ Tätigkeiten. Während man also
aufgrund der Privatisierung dem zunehmenden Verfall des öffentlichen
Raums zusehen muss, konstatiert man gleichzeitig die Zerstörung
derjenigen Menschen, die das System überhaupt erst ermöglicht
haben.“
(p127f,
Zitat aus Cornelius Castoriadis, La Montée de
l'insignificance, Paris 1996, p68 - hier Fn 11)
[Anmerkung zu
Ordoliberalismus vs. (Neo)Liberalismus:
Jonathan Franzen, Freedom,
Farrar, Straus and Giroux, New York, 2010
"It's all around the same problem of personal liberties,"
Walter said. "People came to this country for either money or freedom.
If you don't have money, you cling to your freedom all the more angrily. Even
if smoking kills you, even if you can't afford to feed your kids, even if your
kids are getting shot down by maniacs with assault rifles. You may be poor, but
the one thing nobody can take away from you is the freedom to fuck up your life
whatever way you want to. That's what Bill Clinton figured out - that we can't
win elections by running against personal liberties. Especially not against
guns, actually."
....
"The reason the system can't be overthrown in this country,"
Walter said, "is all about freedom. The reason the free market in Europe
is tempered by socialism is that they're not so hung up on personal liberties
there. They also have lower population growth rates, despite comparable income
levels. The Europeans are all-around more rational, basically. And the
conversation about rights in this country isn't rational. It's taking place on
a level of emotion, and class resentments, which is why the right is so good at
exploring it. ...." (p361f)
He became another data point in the American experiment of
self-government, an experiment statistically skewed from the outset,
because it wasn't the people with sociable genes who fled the
crowded Old World for the new continent; it was the people who didn't
get along well with others. (p444)
Das durch den Raub der Seele erzwungene Vakuum ruft böse Geister
in den Mann ohne Eigenschaften
Das Mantra vom nicht endenden Wachstum
Da aber eine aller normativen Strukturen beraubte Gesellschaft bis zum Beweis
des Gegenteils eine anthropologische Unmöglichkeit bleibt, muss die alte
„Maschine, um Götter zu machen“ notgedrungen wieder in Betrieb
genommen werden. Dabei gibt es nur ein einziges mit der liberalen Theorie
vereinbares Mittel, um wieder ein Mindestmaß an gemeinsamen Bezugspunkten
einführen zu können, ohne die axiologische Neutralität von Markt und Recht oder
ihre Führungsrolle in Frage zu stellen. So wird das menschliche
Bedürfnis nach Sinn und normativen Strukturen auf ebendiese Mechanismen
abgeleitet. In einer entwickelten liberalen Gesellschaft ist es unvermeidlich,
dass das Wachstum (das nur eine andere Bezeichnung für die
Klimaerwärmung
darstellt [siehe bereits 1880 Serhij Podolynskyj]) irgendwann den Status eines
modernen kategorischen Imperativs erreicht („handle immer so, dass du
wesentlich mehr konsumieren und gleichzeitig wesentlich mehr arbeiten
kannst“). Parallel dazu entwickelt sich die kühle Logik
des abstrakten Rechts zwangsläufig zu einem Nährboden für
einen ganz besonders erdrückenden Moralismus (den der „politischen
Korrektheit“ oder der „staatsbürgerlichen
Verantwortung“), in der die stets einzigartige Figur des
„Anderen“ ihren Platz für den Mann ohne
Eigenschaften räumen muss - ein lächerliches mataphysisches
Überbleibsel der Bekämpfung „jeder Art von
Diskriminierung„. (p129)
Von der Verzögerung des Erwachsenwerdens
- für Geld verkaufte Zeit
Zu den Grundsätzen der Theorie der Gabe gehört, dass die
Rückgabe stets
zeitlich versetzt stattfinden muss (denn die Geldzahlung stellt genau
jene wirtschaftliche Erfindung dar, die den Kreislauf der Gabe zu unterbrechen
erlaubt, da sich Schulden nunmehr abbezahlen lassen, ohne zu warten).
Insofern ist die Zeit das Urelement, in dem sich echte menschliche
Beziehungen entwickeln können, während das Geld aus dieser
Perspektive als Mittel zum Kaufen von Zeit erscheint, das uns davon befreit,
eine Beziehung zum anderen einzugehen. Sobald die
ständige Mobilität der Individuen zum obersten
anthropologischen Grundsatz der Gesellschaft wird (Baumann spricht
bezüglich unserer Epoche von „flüchtigen Zeiten“),
fehlt nicht nur die Gelegenheit, feste und dauerhafte Bindungen zu
knüpfen, sondern auch die Möglichkeit, die
Richard Sennett
oft betont hat, schlüssige (und für die Individuen in psychischer
Hinsicht sicherlich befriedigende) „Lebensberichte“
zu konstruieren. Schließlich bleibt festzuhalten,
dass Engels als einer der Ersten die menschlichen Konsequenzen der von der
liberalen Theorie bewirkten Brown'schen Bewegung hervorhob ....
(p144
Folgt ein Zitat Friedrich Engels aus „Die Lage der
arbeitenden Klasse in England“, in Marx-Engels Werke, Band 2,
Berlin 1972, p256f - hier Fn 32)
„ .... für Kinder unter fünf Jahren [ist] nichts
schwerer zu lernen, als zu warten, bis man an die Reihe kommt ....
Man kann also sagen, dass die Fähigkeit zu teilen oder
‘zu warten, bis man an die Reihe kommt’, Funktion eines
wachsenden Gefühls der Gegenseitigkeit ist, das selbst aus einer
erlebten Erfahrung der kollektiven Tatsache und dem tieferen Mechanismus
der Identifizierung mit den anderen entsteht“
(p155
Fn 10, Zitat aus Claude Lévi-Strauss, Die elementaren
Strukturen der Verwandtschaft, Frankfurt am Main 1993, p149ff)
„Ich habe vor allem deshalb Vertrauen in die Zukunft, weil die einfachen
Menschen ihrem moralischen Kodex immer treu geblieben sind“
(George Orwell, Essais, articles, lettres, Bd. 1, Paris 1995, p663)
.... Aufgrund dieser beharrlichen Weigerung, den „einfachen Mann“
(common man) in den eisigen Gewässern der egoistischen Berechnung
zu ertränken,
kann Orwell eine parallele Kritik des Liberalismus und des Totalitarismus
formulieren. Bisher wurde nur am Rande bedacht, dass sich diese beiden
konkurrierenden Ideologien auf ein und dasselbe negative Menschenbild
stützen, das sich bekanntlich unter den spezifischen Bedingungen des
17. Jahrhunderts in Europa ausgebildet hat.
[Daher die Vorliebe vormaliger Nationalsozialisten
für ein Weiterleben in der FDP, s.zBsp. die
(Heinrich) Naumann-Affäre 1953]
Nur mit Blick auf jenen gemeinsamen
Ausgangspunkt lassen sich ihre tatsächlichen Unterschiede philosophisch
untersuchen. Postuliert man, dass die Menschen allein aus „Selbstliebe
und im Vergessen der anderen“ handeln, sind tatsächlich nur noch
zwei kohärente Lösungen für das moderne politische Problem
möglich. Entweder, man beschließt, die Menschen so zu nehmen,
„wie sie sind“, und muss wohl oder übel das Beste aus
ihrem Egoismus machen, um „das Reich des kleineren Übels“
zu errichten. Oder aber man erhält das Projekt eines
„Reichs des Guten“ (sprich die Utopie einer vollkommenen Welt)
aufrecht und akzeptiert, dass dessen triumphale Verwirklichung zwingend die
Herstellung eines neuen Menschen voraussetzt. Orwells Vorstellung einer
anständigen Gesellschaft entkommt diesen Widersprüchen
größtenteils nur deshalb, weil sie auf einem weit
differenzierteren und offenbar realistischeren Menschenbild beruht.
(p147ff)
.... Wunsch nach Omnipotenz .... eine der ersten Äußerungen des
menschlichen Geistes .... die Wut, die das Kind denen gegenüber
empfindet, die seine Wünsche nicht sofort befriedigen. Der Sinn
von Erziehung besteht darin, dem Kind die Mittel an die Hand zu geben,
diesen ursprünglichen Egotismus zu überwinden und
allmählich einen Sinn für andere zu entwickeln, der
zugleich Anzeichen und Bedingung jeder wirklichen Unabhängigkeit
(oder, was gleichbedeutend ist, jeder psychologischen Reife) ist. Erst
dann ist der Mensch fähig, seinen Platz in der menschlichen
Ordnung einzunehmen, beziehungsweise sich seinerseits in die
Sozialisierungskette von Gabe und Gegengabe einzureihen. Wenn also das
Versagen der
„väterlichen“
oder „mütterlichen“
Funktionen aus irgendeinem Grund diesen Weg zur Unabhängigkeit
(mit den dafür nötigen Verzichtshandlungen) nicht wirksam zu
unterstützen vermag, bleibt das Subjekt unweigerlich an seinen
Ursprungswunsch nach Omnipotenz gekettet und wird entsprechend um seine
„Reifemöglichkeit“ gebracht.
(Fn 12: Die Idealisierung des Kindes .... im Zentrum der modernen liberalen
Kultur .... ist in erster Linie das Anzeichen einer Faszination für
dessen ursprünglichen Egotismus. Daher beruht jede liberale Erziehung
auf dem Grundsatz, dem Kind nicht etwa das Heranreifen zu ermöglichen,
sondern dem Ausdruck seines „Wesens“ freien Lauf zu lassen. ....)
Es bleibt eine egoistische Monade, unfähig zu geben, zu nehmen und
zurückzugeben, es sei denn in rein formelhafter Manier (also
aufgrund hölzerner „Konventionen“, die in keiner
Gesellschaftskomödie fehlen dürfen und deren Erlernen
bloß eine Dressur, keine Erziehung im eigentlichen Sinne voraussetzt).
[ Und dieser Egozentrismus wird dann später (nicht
nur) im Berufsleben möglicherweise durch Identitätspolitik (nicht
nur) des Arbeitgebers aktiv gefördert:
“Manche Arbeitgeber sortieren
ihre Arbeitskräfte in Afinitätsgruppen, die entlang von Ethnie oder
sexueller Orientierung aufgeteilt sind. Also das klassische Teile und
Herrsche System. Die Arbeitgeber möchten nicht, dass ihre Angestellten
sich zunächst als Arbeiter verstehen, sondern als Lateinamerikaner
oder nonbinär oder sonstwas. Dann ist man so sehr von seinen
Unterschieden zu den eigenen Kollegen abgelenkt, dass man ganz vergisst,
was man mit ihnen gemein hat: nämlich, dass alle Angestellte derselben
Firma sind. Und Gewerkschaften konzentrieren sich von Natur aus nur auf die
Identität als Arbeiter.”
- Gregor Baszak,
https://makroskop.eu/35-2023/biden-baut-auf-den-fundamenten-die-von-trump-gelegt-wurden/
26oct2023; s.a. Frank Furedi: 100 Years of Identity Crisis: Culture War over
Socialisation, Interview in https://makroskop.eu/39-2021/wenn-man-weiss-wer-man-ist-spricht-man-nicht-ueber-identitaet ]
Insofern müssen die Pathologien des Ego - sei es der Machtwille
als solcher oder seine zahlreichen Ableger, wie zum Beispiel das
unselige Bedürfnis nach „Reichtum“ oder
„Berühmtheit“ - als das erkannt werden, was sie
wirklich sind: Folgen einer ungelösten Abhängigkeit von
Kindheitsgeschichten, aufgrund derer das betreffende Subjekt sein
eigenes Leben immer wieder als Gelegenheit zur persönlichen Revanche
begreift - eine verzerrte Wahrnehmung, die das Leben
automatisch zu einer krankhaft von unbedingtem Erfolgswillen oder
permanenter Selbstdarstellung motivierten „Karriere“ macht. Aus
diesem Grund erscheint der Wille zur Macht letztlich immer als eine trostlose
Leidenschaft. (p155ff)
[Siehe hierzu Alexander Mitscherlich,
Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft
Entmachtung väterlicher Strukturen
(„Vater Staat“, „Gottvater“)
Ermächtigung des Über-Ich
Seit dem 19. Jahrhundert hat man alle „patriarchalischen“ Formen
von Unterdrückung so ausführlich beschrieben und abgelehnt, dass sie
zu einem abgeschmackten Gemeinplatz der Gesellschaftskritik und der
Gender Studies wurden. Selbiges trifft allerdings nicht auf diejenigen
Formen von Unterwerfung und Instrumentalisierung zu, deren unbewusstes Vorbild
im mütterlichen Einfluss zu suchen ist. Ein solches
„Vergessen“ mutet seltsam an. In der Tat konzentrierte sich genau
zu dem Zeitpunkt, als die Dynamik der modernen Gesellschaften das kulturelle
Fundament der früheren patriarchalischen Strukturen zu untergraben begann
(und zugunsten der Mechanismen von Markt und Recht alle Bezugnahmen auf ein
symbolisches Recht diskreditierte), die Aufmerksamkeit der Gesellschaftskritik
nahezu ausschließlich auf diese einzige Bedingung der
Unterdrückung.
.... Wie Žižek zu Recht bemerkt, „geht der Rückgang der
traditionellen väterlichen Autorität (das symbolische Gesetz) mit
seinem beunruhigenden Pendant, dem Überich, einher.“ ....
Der Trick des Überich besteht .... in der Vorgaukelung einer
freien Wahl. Jedes Kind weiß aber, dass tatsächlich ein sehr viel
strengerer Befehl ausgesprochen wird. .... das „matriarchalische“
Machtstreben [zeigt sich] in völlig anderen und sehr viel
erdrückenderen Formen .... die Bedingungslose Liebe des Subjekts als
Selbstverständlichkeit voraus[gesetzt] .... etabliert [sich] eine
Kontrolle, die umso radikaler ist, als sie keine festsetzbare Grenze
hat: Sie fordert nämlich, dass das Subjekt seine Wünsche
aufgibt und sich, mag sein Selbstwertgefühl auch stark darunter
leiden, mit seinem ganzen Wesen der verlangten Unterwerfung fügt; seine
Weigerung, diesen umfassenden Einfluss über sein gesamtes Leben zu
akzeptieren, wäre nur eine schuldhafte Unfähigkeit, die zu seinen
Gunsten eingegangen „Opfer“ angemessen
zurückzuerstatten
[Anders als im
„äußeren tyrannischen väterlichen“ Regelsystem
kann im „inneren mütterlichen“ das Geben, Nehmen und
Zurückgeben nicht in kleiner Münze erfolgen - hier muss die
gesamte Schatzkiste übereignet werden].
Dieser Unterschied erklärt hinreichend die
unermessliche Schwierigkeit, eine erlittene Beherrschung als solche
zu begreifen, wenn sie in der „mütterlichen„ Form
ausgeübt wird. ....
Wie die Erfahrung unablässig zeigt, ist es für eine besitzergreifende
Mutter (oder für jedes andere, nach diesem Muster funktionierende Subjekt)
eine psychologische Unmöglichkeit, den eigenen unbändigen Willen zur
Macht anders zu empfinden als eine beispielhafte Form von Liebe und
aufopferungsvoller Hingabe
[Siehe hierzu zB die Feldstudie von Wednesday Martin,
„Primates of Park Avenue“].
(p158ff)
Sobald diese psychische und moralische Grundlage fehlt .... die Fähigkeit,
das Leben zu lieben (und damit die besagte psychologische Reife), ....
ohne die kein wahrhaft großzügiges Handeln möglich ist .... beziehen die
„Revolten“ gegen die etablierte Ordnung - unabhängig von ihrer
scheinbaren „Radikalität“ - ihre Motivation nur noch aus
Wut, Hass, Neid und Ressentiment (also letztlich aus den
kindischsten Formen des Machtstrebens)
[vgl Robert Bly].
(Fn a) Die Vorstellungswelten, die die Tendenzen des offiziellen Raps
beflügeln, sind in dieser Hinsicht ganz besonders aussagekräftig.
Daher die zentrale Rolle, die die Unterhaltungsindustrie dieser neuen
Predigtform im intellektuellen Unterwerfungsprozess der modernen Jugend
zuweist.)
(p171)
Die liberale Theorie impliziert objektiv die Absetzung aller normativen,
sich ausdrücklich auf ein symbolisches Gesetz beziehende Strukturen
zugunsten der „axiologisch neutralen“ Strukturen von Markt und
Recht. Aufgrund dessen sieht sie sich gezwungen, im Gegenzug die
ungehinderte Entwicklung neuer normativer Strukturen
herbeizuführen, die nunmehr in der Vorstellungswelt der Subjekte wurzeln,
also direkt vom Unbewussten (und besonders .... von den
„aggressiven Überich-Gestalten“) gesteuert
werden. Deshalb führt der langsame historische Zerfall der
Disziplinargesellschaften - das Hauptwerk der fortgeschrittenen Moderne
- nie zu der versprochenen Unabhängigkeit der breiten Massen.
In Ermangelung einer umfassenden Kritik der
Unterdrückungsmechanismen - eine Kritik, die der liberale Materialismus
übrigens grundsätzlich verbietet -, führt der systematische
Zerfall im Gegenteil zu einer allmählichen Etablierung von
Kontrollgesellschaften, die der wachsenden Autorität von
[im Merkel'schen Sprech alternativlosen]
„Experten“ unterstehen und einem sonderbaren Klima von Selbstzensur,
Reue und allgemeiner Schuldhaftigkeit ausgesetzt sind: Dieses entspricht
letztlich dem Krieg aller gegen alle und wird künftig durch den neuen
Krieg des Einzelnen gegen sich selbst ergänzt. So also sieht
schlussendlich die unbewusste anthropologische Grundlage jener
regressiven „Fortschrittsgesellschaft„ aus, die Christopher Lasch
als einer der Ersten das Zeitalter des Narzissmus nannte. (p163f)
Anstatt Menschenseele die enthusiastische Ausbeutung der Natur
Von der Grundlegung unserer Wirtschaftskrise(n)
Wie aber kann man dem Krieg aller gegen alle entkommen, wenn die Tugend nur
eine Maske für Selbstliebe ist, wenn man niemandem trauen und sich nur
auf sich selbst verlassen kann? So lautet letztlich die Eingangsfrage der
Moderne, jener merkwürdigen Zivilisation, die als erste der Geschichte
ihren Fortschritt auf ein systematisches Misstrauen, die Angst vor dem Tod
und die Überzeugung von der Unmöglichkeit des Liebens und Gebens
gründet. Es ist die Stärke der Liberalen, die einzige mit dieser
verzweifelten Anthropologie vereinbare politische Lösung anzubieten.
In der Tat unterstellen sie sich dem einzigen Prinzip, das weder lügen
noch enttäuschen kann: dem Eigeninteresse des Individuums.
Der „natürliche“ Egoismus des Menschen, seit den
Moralisten des 17. Jahrhunderts das Kreuz der modernen Philosophien, wird mit
der Triumph des Liberalismus zum Prinzip aller denkbaren Lösungen.
Der Liberale verstand sich also anfangs als einen realistischen und
illusionslosen Menschen. .... Die vernünftige Gesellschaft, die er sich
erhoffte, sollte keineswegs für Begeisterung sorgen, die
möglicherweise nur neue mörderische Leidenschaften entfesseln
möchte. In ebenso sicherer Distanz von religiösen Fanatismen wie
von utopischen Träumereien, weder Gottes- noch Sonnenstaat, stellte
sie sich im Gegenteil als die am wenigsten schlechte Gesellschaft dar;
zumindest als die einzige, die die Menschheit vor ihren ideologischen Teufeln
[vor sich selbst]
zu schützen vermochte, indem sie ihre Mitglieder, jene unverbesserlichen
Egoisten, endlich in Frieden leben und in Ruhe ihren prosaischen
Beschäftigungen nachgehen ließ.
Der ursprüngliche Liberalismus verstand sich als Pessimismus der
Intelligenz.
Woher kommt also das erwiesenermaßen so andere Klima, in dem sich der
zeitgenössische Liberalismus entwickelt? Es liegt auf der Hand, dass die
friedliche liberale Aufklärung irgenwann ihre eigene
Schwärmerei heraufbeschwörte.
.... Während das Reich des kleineren Übels seinen Schatten
über die Erde wirft, scheint es entschlossen, nach und nach
sämtliche Merkmale seines Erzfeindes zu übernehmen. Es will
künftig als schöne neue Welt verehrt werden.
Diese letzte Metamorphose ist aus mindestens zwei Gründen weniger
überraschend, als es zunächst scheint.
Zum einen betraf der liberale Pessimismus immer nur die Fähigkeit
der Menschen, sich als vertrauenswürdig zu erweisen und anständig
zu handeln. Er bezog sich hingegen nicht auf ihr Vermögen, sich
kraft ihrer Arbeit und technischen Erfindungsgabe zu
„Herren und Eigentümern der Natur“ aufzuschwingen.
Da die Industrie (sprich die rationale und unbegrenzte Ausbeutung der Natur)
in allen liberalen philosophischen Entwürfen die ideale Ableitung der
kriegerischen Energien auf vermeintlich der Allgemeinheit dienliche Ziele
darstellte, gab es im Herzen des Liberalismus also durchaus ein optimistisches
und enthusiastisches Ursprungselement. Und natürlich war es dieses
Element, das es erlaubte, den religiösen Kult des Wachstums
und des materiellen Fortschritts im Mittelpunkt der modernen
Zivilisation zu legitimieren.
Der zweite Grund ist komplexer. Unverkennbar ist die liberale Anthropologie von
Anfang an durch einen merkwürdigen Widerspruch gekennzeichnet. Einerseits
proklamiert sie, die Menschen seien von Natur aus nur um ihr Eigeninteresse und
ihre Außenwirkung bemüht. Andererseits aber lehrt die
Erfahrung die liberalen Regierungen[:] .... Während doch der
Markt und das Recht angeblich die einzigen historischen Mechanismen sind,
die der wahren Natur des Menschen gerecht werden, müssen diese
ständig dazu ermuntert werden, die ihnen vertrauteste Lebensweise
aufzugeben. Nur so können sie dem höllischen Rhythmus standhalten,
der von der permanenten Weiterentwicklung dieser beiden Institutionen
diktiert wird. .... jede liberale Politik .... muss .... die
Individuen .... zu einem Verhalten zwingen, das sie eigentlich
naturgemäß und spontan an den Tag legen sollten. ....
Man sollte betonen, dass die liberale Figur des neuen Menschen ihrerseits
zutiefst widersprüchlich ist. Die „Institutionalisierung des
Verlangens“ .... ist unerlässlich, um ein kompulsives und
irrationales Kaufverhalten durchzusetzen, ohne das die Anhäufung
des Kapitals (sprich, das Wachstum) unmittelbar zusammenbräche;
tatsächlich widerspricht diese Institutionalisierung der
Anstrengungs- und Opfermetaphysik im Sinne der Verpflichtung,
„mehr zu arbeiten, um mehr zu verdienen“, in jedem Punkt.
Der Mensch der liberalen Gesellschaft ist mithin stets aufgefordert,
bis zum Umfallen zu arbeiten, und .... gleichzeitig „alles,
sofort und ohne einen Finger zu rühren“ zu wollen. Da sich
die für den Konsum zur Verfügung stehende Zeit umgekehrt
proportional zur Arbeitszeit verhält, existiert hier ein realer
„kultureller Widerspruch des Kapitalismus“. Eine der
üblichsten Lösungen zur Abmilderung dieses
Widerspruches besteht natürlich darin, die betreffende Zeit am
Familienleben und der dafür erforderlichen Erziehungsarbeit
einzusparen. So kann der Liberalismus auf allen Ebenen triumphieren.
(p179ff, incl Fn 5)
[Mehr zum Verlust des Familienlebens und der Kindheit siehe bei
Alexander Mitscherlich sowie
Robert Bly]
Das Ende der Geschichte (Francis Fukuyama) ist tatsächlich Folge der
Abschaffung der Menschheit
Seit
Hegel
weiß man, dass sich jede Logik aus ihren eigenen
Widersprüchen entwickelt. Wenn die Logik einer tatsächlichen
Realität entspricht, lösen sich ihre Widersprüche gemeinhin
positiv auf und ermöglichen, wie George Orwell schrieb, „Eine
wirkliche Verbesserung des menschlichen Lebens“. Wenn sie auf einer
primär ideologischen Grundlage beruht (wie im Falle der Axiomatik des
Egoismus), ist der Lösungsansatz für ihre Widersprüche die
Flucht nach vorn inklusive ihres unvermeidlichen Angebots an
menschlichen Katastrophen und Rückschlägen. Im Falle der
liberalen Logik sind die historischen Formen dieser Flucht nach vorn
leicht vorhersehbar. Der ständige Widerspruch zwischen der erforderlichen
Herstellung des neuen, dem globalisierten Kapitalismus angepassten Menschen
und der irritierenden Hartnäckigkeit, mit der die einfachen Leute auf
ihrer Menschlichkeit bestehen (was die Liberalen als gute Progressisten
für „Konservativismus“ halten), lässt sich
tatsächlich nur mithilfe des technologischen Optimismus überwinden,
der das flammende Pendant zum moralischen Pessimismus der Liberalen bildet.
Sobald man sich davon überzeugt hat, dass „die liberale Demokratie
und die Marktwirtschaft die einzig tragenden Möglichkeiten für
unsere moderne Gesellschaft sind“, und dass der endgültige
Triumph des Kapitalismus mit dem Ende der Geschichte zusammenfällt,
wird man den unerbittlichen Schlussfolgerungen Francis Fukuyamas wohl nicht
entkommen können: „Die Geschichte .... kann nicht enden, solange
die zeitgenössische Naturwissenschaften nicht an ihr Ende
gelangt sind. Und wir stehen vor neuen wissenschaftlichen Entdeckungen, die
ihrem ganzen Wesen nach die Menschheit als solche abschaffen werden.
.... In diesem Stadium werden wir endgültig mit der menschlichen
Geschichte abgeschlossen haben, weil wir die Menschen als solche
abgeschafft haben werden. Dann wird eine neue Geschichte jenseits
des Menschen beginnen.„
[Francis Fukuyama stellte seine These vom
Ende der Geschichte auf im Zeitalter der Greenspan'schen Geldpolitik
(Greenspan-Put etc.),
welche die Währung zu völlig elastischem
Passivgeld machte, mit enormer Ausweitung der Kreditgeldmenge. Diese
Entwicklung breitete sich auf andere Länder aus und verringerte auch dort
die früher üblichen konjunkturellen Schwankungen. Dies nährte
die These, der traditionelle Konjunkturzyklus sei dank neuer geldpolitischer
Techniken überwunden, Schumpeter (schöpferische Zerstörung)
widerlegt, der Finanzkapitalismus gezähmt und in das Zugpferd eines
immerwährenden Konjunkturaufschwunges verwandelt. Sie hierzu
Thomas Mayer, Die neue Ordnung des Geldes - Warum wir eine Geldreform
brauchen, FinanzBuch Verlag 2014, 2. Auflage 2015, Kapitel acht
s.a. hier
Zu den Auswirkungen des Fukuyama'schen Denkens schreibt auch Timothy Snyder in
„Ukraine Holds the Future - The War Between Democracy and
Nihilism”, 06sep2022 in
Foreign Affairs:
At that point [1991], as Russia and Ukraine emerged as independent states,
a perverse faith was lodged in „the end of history”, the lack of
alternatives to democracy, and the nature of capitalism. Many Americans had
lost the natural fear of oligarchy and empire (their own or others’) and
forgotten the organic connection of democracy to ethical commitment and
physical courage. Late twentieth-century talk of democracy conflated the
correct moral claim that the people should rule with the incorrect factual
claim that democracy is the natural state of affairs or the inevitable
condition of a favored nation. This misunderstanding made democracies
vulnerable, whether old or new.
The current Russian regime is one consequence of the mistaken belief
that democracy happens naturally and that all opinions are equally
valid. If this were true, then Russia would indeed be a democracy, as
Putin claims. The war in Ukraine is a test of whether a tyranny that
claims to be a democracy can triumph and thereby spread its logical and
ethical vacuum. Those who took democracy for granted were
sleepwalking toward tyranny. The Ukrainian resistance is the wake-up
call.]
.... Wer die liberale Logik in der unabdingbaren Entfaltung ihrer
ursprünglichen Einheit - und folglich jenseits der
nebensächlichen Widersprüche, mit deren Hilfe sich ihre
„linken“ oder „rechten“ Vertreter im Wahlkampfzirkus
ein Mindestmaß an Aufmerksamkeit sichern -, erfasst hat, müsste
also mittlerweile deutlich sehen, dass die Notwendigkeit, eine
anständige Gesellschaft aufzubauen, mit der Verteidigung der
Menschheit zusammenfällt. ....
Hannah Arendt hatte also durch und durch recht, als sie betonte, „das
Beunruhigende an den modernen Theorien
[.... das vollständige Zitat finde
hier ....]
ist nicht, dass sie nicht stimmen, sondern dass sie im Gegenteil sich als nur
zu richtig erweisen könnten.“ ....
Sollte trotz allem die Menschheit ihren letzten Kampf verlieren und
ihren Platz den post-humanen Maschinen überlassen müssen,
gäbe es in der verwüsteten Welt des siegreichen Liberalismus
dennoch eine unauslöschliche Wahrheit. Das höchste Gut für
einen Menschen - und der Schlüssel zu seinem Glück - ist von jeher
das Einssein mit sich selbst: ein Luxus, den all diejenigen, die ihre
kurze Zeit auf Erden mit der Unterdrückung und der Ausbeutung ihrer
Mitmenschen verbingen, nie erfahren werden. Selbst wenn ihnen die Zukunft
gehört.
(p183ff)
[Das Zitat von Francis Fukuyama stammt aus
„La Fin de l'Histoire dix ans après“,
Le Monde vom 17jun1999. Mehr zu Francis Fukuyama siehe
hier. Das Zitat von Hannah Arendt
stammt aus „Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 1981,
p314; das vollständige Zitat finde
hier
(andere Ausgabe: p411)]
F I N
Fazit, in aktueller Alternative ausgedrückt:
Lasst uns die Liberalität vor dem Neo-Liberalismus retten
Demokratie anstatt TTIP
--------------------- -------------------
--------------------- -----------------
Schnipsel:
p167 Fn a): Die Tatsache, dass ein Verhalten legal ist, bedeutet noch lange
nicht, dass man es als moralisch wünschenswert oder politisch
gerecht ansehen muss. Wie Lenin sagte, muss man eine Scheidung, nur
weil das Recht auf sie verteidigenswert ist, nicht zwingend für eine
ideale oder beneidenswerte Lösung halten und sie als Norm
begrüßen.
p152 Zum anderen kann sich, wie Pierre Clastres ausführlich gezeigt hat
[Fn 7 verweist auf sein Werk
Staatsfeinde]
das Bedürfnis, seinen
Mitmenschen die Gesetze des eigenen Ego aufzuzwingen (und sie folglich als
einfache Mittelsleute oder Spiegel zu behandeln), jederzeit Bahn
brechen, selbst in den egalitärsten Gesellschaften
(und nachweislich ist - vielleicht mit Ausnahme der Basisaktivisten selbst -
die Welt der Parteien, Gewerkschaften und Verbände vor Machtkämpfen
und Eitelkeiten nicht besser, ja vielleicht sogar weniger gut geschützt).
Fortsetzung des Textes oben von Hannah Arendt aus
“Was heißt persönliche Verantwortung in einer
Diktatur?“
Seite 34 - Der Talmud zum Thema des kleineren Übels:
Wenn man von Euch verlangte, für die Sicherheit der Gemeinschaft einen
Mann zu opfern, so liefert ihn nicht aus. Wenn man von Euch verlangt, eine Frau
auszuliefern, die zur Rettung aller anderen Frauen geschändet werden soll,
dann lasst es nicht zu, dass sie geschändet wird.
Seite 42:
Keiner dieser Befehle war planlos ergangen, um unzusammenhängende
Verbrechen zu verüben, sondern sie dienten, mit äußerster
Konsequenz
und Sorgfalt ausgeführt, dem Aufbau der sogenannten Neuordnung. Und diese
Neuordnung war genau das, was das Wort besagte - sie waren nicht nur auf
grauenhafte Weise neu, sondern vor allem auch eine Ordnung.
Die weitverbreitete Ansicht, wir hätten es hier nur mit einer
Verbrecherbande zu tun gehabt, die sich eben zu allen möglichen Verbrechen
verabredet hatte, ist grob irreführend.
Seite 46 - Zu Denken und Urteilsbildung:
Die Voraussetzung für diese Art der Urteilsbildung ist keine hoch
entwickelte Intelligenz oder ein äußerst differenziertes
Moralverständnis, sondern schlicht die Gewohnheit, ausdrücklich mit
sich selbst zusammenzuleben, das heißt sich in jenem stillen
Zwiegespräch zwischen mir und meinem Selbst zu befinden, welches wir seit
Sokrates und Platon gewöhnlich als Denken bezeichnen. Obwohl sie allem
Philosophieren zugrunde liegt, ist diese Art des Denkens nicht technisch und
handelt nicht von theoretischen Fragen. Die Trennungslinie zwischen denen, die
denken wollen und deshalb für sich selbst urteilen müssen, und denen,
die sich kein Urteil bilden, verläuft quer zu allen sozialen
Unterschieden, quer zu allen Unterschieden in Kultur und Bildung. In dieser
Hinsicht kann uns der totale moralische Zusammenbruch der ehrenwerten
Gesellschaft während des Hitlerregimes lehren, dass es sich bei denen, auf
die unter solchen Umständen Verlass ist, nicht um jene handelt, denen
Werte lieb und teuer sind und die an moralischen Normen und
Maßstäben festhalten; man weiß jetzt, dass sich all dies
über Nacht ändern kann, und was davon übrig bleibt, ist die
Gewohnheit, an irgendetwas festzuhalten. Viel verlässlicher werden die
Zweifler und Skeptiker sein, nicht etwa weil Skeptizismus gut und Zweifel
heilsam ist, sondern weil diese Menschen es gewohnt sind, Dinge zu
überprüfen und sich ihre eigene Meinung zu bilden. Am allerbesten
werden jene sein, die wenigstens eins genau wissen: dass wir, solange wir
leben, dazu verdammt sind, mit uns selbst zusammenzuleben, was immer auch
geschehen mag.
Seite 51:
So gesehen sind jene, die unter einer diktatorischen Herrschaft nicht am
öffentlichen Leben mitwirken, auch diejenigen, die sich weigern, sie zu
unterstützen, indem sie jene Orte der ‘Verantwortung’ meiden,
wo eine derartige Unterstützung unter Berufung auf Gehorsam gefordert
wird.
Seite 64 - Aus dem Essay von Marie Luise Knott:
Der Rädchen-Gedanke entmenschlicht die Menschen, so Arendt; es sei die
Größe von Gerichtssälen, dass in ihnen die Rädchen wieder
Menschen werden.
Seite 74f - Aus dem Essay von Marie Luise Knott:
Zu Recht sah Jaspers in der Kampagne gegen ihr Buch [Eichmann in Jerusalem. Ein
Bericht von der Banalität des Bösen, 1963, Deutsch 1964] “den
Anfang der
Solidarität aller ...., die sich in den eigenen Lebenslügen getroffen
fühlen.” .... Ein “Alle sind schuldig” lehnt sie ab,
weil es die wirklich Schuldigen entlastet; denn wo alle schuldig sind, ist in
Wirklichkeit niemand mehr schuldig.
Seite 81f - Aus dem Essay von Marie Luise Knott:
Doch muss man betonen: Es geht nicht darum, sich von sich zu entfernen, um den
Standpunkt des anderen einzunehmen, gar in dessen Person einzutauchen, sondern
es geht um die Bereitschaft, die eigenen Handlungen aus der Sicht von anderen
mit anzusehen, die anderen in den eigenen Handlungen und Urteilen mitzudenken -
eine Bereitschaft, die Arendt bei Eichmann nirgends antraf: “Das habe ich
eigentlich gemeint mit der Banalität. Da ist keine Tiefe - das ist nicht
dämonisch! Das ist einfach der Unwille, sich je vorzustellen, was
eigentlich mit dem anderen ist.” Im Übrigen sei es, als ob man gegen
eine Wand spreche, weil zwar geredet werde, aber man selbst nie eine Reaktion
bekommt, weil nie auf einen eingegangen wird. ....
Wo der Einzelne zusehends in die Mühlen seines Umfeldes gerät, wo er
etwa durch Umwelt, Zeitgeist, angeblich höhere Gewalten oder das Argument
vom kleineren Übel zur Uniformierung und Unterordnung des Denkens und
Urteilens unter die Herrschaft von Logik und Sachzwang gedrängt wird, wo
es angeblich “keine Alternative” gibt, dort ist auch in
demokratischen Gesellschaften die Freiheit ernstlich bedroht.
Seite 84f - Aus dem Essay von Marie Luise Knott:
So notwendig Vorurteile seien, weil komplette Vorurteilslosigkeit
übermenschliche Wachheit erfordere und weil man auch nicht in jedem Moment
alles immer neu bedenken könne, so müssten Vorurteile doch, wo sie
sich als Erkenntnishindernisse erwiesen hätten, im Urteilen aufgelöst
werden. Gerade im Zusammenbruch von lang bewährten Verhältnissen
hätten die Menschen die Gewohnheit, sich an das Alte und seinen
Fortbestand zu klammern. So bergen Vorurteile, die ursprünglich einmal aus
nachvollziehbaren Urteilen entstanden waren, die Gefahr, durch die Zeiten
mitgeschleppt zu werden, sich als Ideologien zu verselbständigen und
Erfahrung und Wirklichkeit zu verfälschen.
Grenzüberschreitender Handel
zwischen offenen neoliberalismus-freien Gesellschaften
Gescheiterte Globalisierung - Ungleichheit, Geld und die Renaissance des
Staates
Heiner Flassbeck und Paul Steinhardt
edition suhrkamp 2722, 2. Auflage 2018 (erste Auflage 2018)
- Das Zusammenwachsen der Menschheit in der Globalisierung krankt an der
zugrundegelegten, bereits im Kleinen unrealistischen, neoliberalen Idee des
homo oeconomicus
- Der symptomatisch auftretende neue Nationalismus
ist ein Ruf
nach dem regelnden Eingreifen der Gebietskörperschaft, des
Staates
- Der Markt kann nicht alles regeln
- Vorgaben wie Verteilungsgerechtigkeit, Umweltschutz bedürfen eines
starken uneigennützigen Spielers
Im Zuständigkeitsgebiet des Staates gibt es eine
Produktionskapazität, die unter Vorgabe des Zieles der
Vollbeschäftigung aktivierbar ist.
Die produzierten Waren und Leistungen sollen, unter der Nebenbedingung des
Tausches gegen notwendige Waren aus anderen Ländern, den Bürgern
des jeweiligen Inlandes zukommen.
Der derzeitige Zustand der größten europäischen
Volkswirtschaft Deutschland, in welchem einerseits ein Anteil in der
Größenordnung von zehn Prozent der
Inlandsproduktion für andere Staaten produziert wird,
während andererseits die Infrastruktur darbt und Gerechtigkeitsdefizite
erzeugt und mitexportiert werden, stellt ein - durch das neoliberale Denken -
künstlich erzeugtes und unsinniges Ungleichgewicht dar, dessen
Aufhebung
durch die Nationalstaaten das Wirtschaftsgeschehen so zu
steuern
erlauben wird, dass die Marktwirtschaft in die Lage versetzt wird,
den Wohlstand aller Nationen zu optimieren
- - -
Eine ganz einfache Regel für das friedvolle Zusammenleben der Nationen
auf wirtschaftlichem Gebiet:
„Jedes Land muss seine Ansprüche genau an seine eigene
Produktivität anpassen.“
[die „goldene Regel“, s.u. p52
sowie hier]
(p29)
„Ein Land passt sich langfristig automatisch an seine Produktivität
an, wenn das durchschnittliche reale Pro-Kopf-Einkommen (pro Stunde
zum Beispiel) im gleichen Tempo wächst wie die durchschnittliche
Produktivität (also der Zuwachs des Realeinkommens pro Stunde).
Dies wird logischerweise - und das ist durch vielfältige empirische
Erfahrung bestätigt - am besten dadurch erreicht, dass die
Nominallöhne im Durchschnitt der Volkswirtschaft um die Summe aus
erwarteter durchschnittlicher Produktivitätssteigerung und der
Zielinflationsrate wachsen.
Diese einfache Lohnregel impliziert zum einen, dass nicht nur die
Beschäftigten, der ‘Faktor Arbeit’, sondern auch die
Kapitalseite angemessen an der wirtschaftlichen Entwicklung
beteiligt wird.“ (p31f)
„Der Standortvorteil in Form von Niedriglöhnen ermöglicht es,
technologisches Wissen zu importieren, die Palette weltmarktfähiger
Produkte nach und nach auszuweiten und so vom Welthandel zu profitieren.
Durch die Forderung nach Lohnsenkung in Hochlohnländern wird folglich
implizit versucht, die Chancen der Entwicklungsländer zum Aufholen zu
schmälern oder sie ihnen gänzlich vorzuenthalten. Diese Position
wird üblicherweise von Leuten vertreten, die strikt gegen
Protektionismus sind und den ärmeren Ländern alle
Chancen dieser Welt versprechen, wenn sie nur ihre Märkte
vollständig öffnen. ....
Versuchen deutsche Unternehmen durch Lohnsenkungen auf den Weltmärkten
wettbewerbsfähig zu werden, trifft das all diejenigen, die nur etwas
niedrigere Löhne haben als wir und den bisherigen Abstand bei der
Austattung mit Kapital durch ebendiese Lohndifferenz wettgemacht haben.“
(p40ff)
„Was geschieht, wenn einzelne oder auch ganze Gruppen von Arbeitnehmern
aus den Niedriglohnländern nicht warten wollen, bis ihnen Kapital zur
Verfügung steht, sondern sicht selbst auf den Weg zum Kapital machen,
sprich, in die Hochlohnländer einwandern? ....
.... welche ökonomischen Mechanismen laufen zwischen den betroffenen
Ländern ab, und welche ökonomischen Spielregeln sollten gelten,
um die Wanderung des Produktionsfaktors Arbeit für Herkunfts- (also
Niedriglohn-) wie Einwanderungsland (also Hochlohnland) sinnvoll zu gestalten?
.... Vielmehr sehen sich die Anbieter aus dem Niedriglohnland noch
wettbewerbsfähigeren Anbietern auf dem Weltmarkt gegenüber; denn die
Lohnsenkung im Hochlohnland schafft Raum für Weltmarktanteilsgewinne der
dortigen Unternehmer mittels Preissenkung.“ (p43ff)
Über so lange Zeiträume, wie sie hier betrachtet werden, sorgt der
Wettbewerbsdruck auf den Gütermärkten in der Regel offensichtlich
dafür, dass die Inflationsrate zurückgeht, wenn die Löhne nicht
entsprechend der Regel erhöht werden, die wir seit langer Zeit die
‘goldene Regel’ nennen, nämlich Produktivitätstrend
plus Inflationsziel.“ (p52)
„Dass gerade die niedrigen Lohnzuwächse verantwortlich dafür
sein könnten, dass die Investitionen so schwach sind, ist natürlich
für einen Mainstreamökonomen vollkommen absurd. Doch genau darum
geht es. Insgesamt gesehen, ist die Produktivitätsschwäche also
die Folge einer Investitionsschwäche, und das Gerede vom Roboter, der
die Menschen verdrängt, erweist sich als eine gewaltige Schimäre.
Damit erübrigen sich auch alle Vorschläge, die als Reaktion auf
die Roboterisierung vorgetragen wurden. Besonders absurd ist es, jetzt wieder
nach einer Maschinensteuer zu rufen, wie das manche auf der Linken für
opportun halten .... Maschinensteuer ohne Maschinen
sozusagen.“ (p60)
[Das zentrale Kriterium für unternehmerischen Wettbewerb]
Wettbewerb im schumpeterschen Sinne ist nämlich innovativ und daher
nur dann erfolgreich, wenn er das Potenzial hat, zu allgemein steigenden
Einkommen zu führen. Man kann das auch so ausdrücken, dass es
bei diesem Innovationswettbewerb am Ende immer nur einen lachenden Dritten
gibt. In der Regel ist der lachende Dritte der Konsument, weil der
Unternehmer im Wettbewerb seinen Vorteil zu guter Letzt in Form sinkender
Preise an die Konsumenten weitergeben muss.“ (p72)
„Kostensenkung ohne Innovation bringt für die Gesellschaft nichts,
weil die Kosten des einen immer die Einnahmen des anderen sind.“
(p73)
„Dafür zu sorgen, dass die Bedingungen für einen
Produktivitätswettbewerb gegeben sind, kann man nicht dem Markt
überlassen. Denn Konstellationen zu verhindern, die dazu führen,
dass am Arbeitsmarkt der Produktivitätswettbewerb unterminiert wird,
ist etwas, das der Markt gerade nicht leisten kann. Das einzelwirtschaftliche
Interesse jedes Unternehmers sorgt nämlich dafür, dass
genau das Gegenteil des gesamtwirtschaftlich Sinnvollen entsteht.“
(p73)
[Die unsichtbare Hand des Adam Smith reicht nicht überall hin]
„Hayek unterstellt ....
genau wie die Neoklassiker, dass Menschen versuchen, mit ihren Handlungen
ihren Nutzen zu maximieren. Anders als die Neoklassiker aber sieht er Menschen
als soziale Wesen an, die auch voneinander lernen können ....
[hat sich] ein allgemein akzeptiertes Tauschmittel, Geld genannt, etabliert.
Daher hat in einer Marktwirtschaft jedes Gut einen Geldpreis.
Der für Märkte charakteristische Preismechanismus erlaubt es nun,
die Pläne der Wirtschaftssubjekte so aufeinander abzustimmen,
als ob sie über das dafür notwendige Wissen verfügten.
Doch genau hier tritt ein entscheidendes Problem auf, über dessen
Lösung Wirtschaftsliberale wie Hayek und seine Nachfolger sich weigern
nachzudenken, weil sie ahnen, dass es ihrer schönen
neoliberal/neoklassischen Welt den Garaus macht. Es gibt nämlich
Situationen, wo der Preismechanismus vollkommen in die Irre führt.
Wenn zum Beispiel die Nachfrage nach Rohstoffen, Grundstücken und
anderen ‘Assets’ nur deswegen steigt, weil die Preise dieser
Assets steigen, und nicht, weil Menschen diese Güter besitzen wollen,
um ihre ‘Präferenzen’ zu befriedigen, dann hat die
Marktwirtschaft ein fundamentales Problem, weil es genau dann keine
Stabilisierung der Preise über den Markt gibt, sondern [es] zu
einer Destabilisierung durch den Markt kommt.
Wenn beispielsweise auf dem Arbeitsmarkt Druck auf die Löhne
zu beobachten ist, obwohl die entstandene Arbeitslosigkeit nichts mit
‘zu hohen Löhnen’ zu tun hat, dann versagt der Markt
fundamental, und der Staat muss eingreifen.
Wenn die Unternehmen ihre wichtigste Aufgabe, mit den Ersparnissen der privaten
Haushalte entsprechende Investitionen zu tätigen, nicht erfüllen,
weil es keinen Preismechanismus gibt, der sie dazu anreizen würde,
dann liegt ein Informationsproblem vor, das nur der lösen kann,
der Einsicht in gesamtwirtschaftliche Zusammenhänge besitzt,
die vollständig unabhängig von irgendeinem individuellen
Nutzenmaximierungskalkül sind. Das ist unzweifelhaft der Staat,
und zwar nur der Staat.“
[als ultimativ wissender Akteur / Korrektor]
(p75ff)
„Der Liberalismus ist einerseits eine revolutionäre Doktrin,
die zur Beseitung all der Umstände aufruft, die den Menschen an seiner
Selbstbestimmung hindern. Andererseits eignet sich der Liberalismus aber
auch hervorragend dazu, Ansprüche anderer abzuwehren, insbesondere
dann, wenn der andere durch staatliche Organisationen repräsentiert
wird und die Macht besitzt, bestimmte Handlungen zu erzwingen. Es ist
daher kein Zufall, dass Liberale schon immer den Schutz von
Minderheitenrechten fordern und vor dem Machtmissbrauch durch
die Mehrheit warnen. Liberalismus und Demokratie stehen folglich in einem
gewissen Spannungsverhältnis. Denn um ein selbstbestimmtes Leben
führen zu können, ist
„Freiheit“ unabdingbar, aber
der demokratische Staat setzt der Freiheit der Individuen zweifellos im
Gemeinwohlinteresse Grenzen. Staatliche Handlungen sind für Liberale,
wie gesagt, daher nur dann legitim, wenn diese die Zustimmung der von
ihnen Betroffenen unter „leicht idealisierten“ epistemischen
Bedingungen finden würden
....
Wie aber verträgt sich die Tatsache, dass die Mehrzahl der Menschen
in einer Marktwirtschaft ihren Lebensunterhalt mit abhängiger
Beschäftigung verdienen muss, mit dem Recht auf Selbstbestimmung?
.... Für die meisten Liberalen stellt sich die Frage nach der
Legitimität von Lohnarbeit nicht, weil diese für sie das Ergebnis
eines `capitalistic act between consenting adults' ist [Nozick]
.... Eine soziale Beziehung ist folglich für ihn dann als
gerecht zu bezeichnen, wenn sie auf der Basis eines Vertrages zustande gekommen
ist. Daher müssen die Liberalen jede Umverteilung der sich aus den
Marktbeziehungen ergebenden Einkommens- und Vermögensverteilung strikt
ablehnen. Ein Eingriff wäre nach ihrer Meinung im Endeffekt
gleichbedeutend mit einem Verbot des Abschlusses von Verträgen.
Sozialliberale dagegen sehen, dass ein selbstbestimmtes Leben auch an
materielle Voraussetzungen gebunden ist. Daher könnte man es als legitim
erachten, dass der Staat zumindest dafür Sorge trägt, dass
alle Menschen, die sich moralisch nichts zuschulden kommen lassen, ihre
Grundbedürfnisse befriedigen können. Damit aber verlassen
Sozialliberale den Boden des Liberalismus, denn sie akzeptieren, dass
es Situationen gibt, in denen die Freiheit des Einzelnen durch einen
anderen Wert übertrumpft wird.“ (p79ff)
„Der französische Philosoph
Jean-Claude Michéa bringt das
liberale Menschenbild, das hinter Aussagen wie diesen steht,
folgendermaßen auf den Punkt:
‘Anders gesagt, versteht sich die konsequente liberale Gesellschaft
als eine friedliche Ansammlung abstrakter Individuen, die - sofern sie die
Gesetze einhalten - offenbar nichts anderes (weder Sprache, Kultur oder
Geschichte) gemeinsam haben als ihren Wunsch, sich als Produzent und/oder
Konsument am Wachstum zu beteiligen.’ (Michéa 2014, s102)“
(p84)
[Unterscheidung zwischen Geld als Mittel der Bewertung und als
Zahlungsmittel]
Vereinbarung: Mittel der Bewertung sei „Währung“, Mittel zur
Bezahlung sei „Geld“ [im engeren Sinne] (p91)
„Geld hat also primär einen Wert, weil damit auf Währung
lautende Steuerschulden beglichen werden können.“ (p94)
„Länder mit einem großen und effizienten Kapitalstock und
hoher Produktivität der Arbeit können hohe (reale) Löhne
zahlen, und Länder mit einem kleinen Kapitalstock und geringer
Produktivität können nur geringere (reale) Löhne zahlen.
Mit anderen Worten: Das Niveau des einmal erreichten Kapitalstocks
entscheidet über das Niveau der Entlohnung oder generell das Niveau des
allgemeinen Lebensstandards in einem Land.
Da sich die Anpassung der (nominalen) Löhne an die Produktivität
(die Veränderung der Lohnstückkosten) in längerfristiger
Betrachtung in jedem Land in den nationalen Inflationsraten
niederschlägt, ist der entscheidende Unterschied zwischen den Nationen
nicht die unterschiedliche Produktivität oder unterschiedliche
Löhne, wie zumeist geglaubt wird, sondern eine unterschiedliche
Entwicklung der Inflation bzw. der Lohnstückkosten. Dieser
Zusammenhang ist zwingend, weil, wie wir oben schon gezeigt haben,
kein Land auf Dauer über oder unter seinen Verhältnissen
leben kann. Wer versucht, über seinen Verhältnissen zu leben,
wird früher oder später in Inflation enden (immer unterstellt, es
gebe kein Nachbarland, das bereit ist, die Lücke auf Dauer auszugleichen
[wie das beispielsweise die Restwelt auf Basis von
Bretton Woods
seit den frühen 1970er-Jahren im Falle USA übernimmt;
ein weiteres, wenigstens potentielles, Beispiel sind Abu Dhabi und Dubai]
), wer dauernd unter seinen Verhältnissen lebt, endet in
Deflation.“ (p97f)
„Der renommierte Staatstheoretiker Hermann Heller hat das definierende
Ziel bzw. die Funktion eines Staates unserer Meinung nach wir folgt korrekt
beschrieben:
‘Die Funktion des Staates besteht [...] in der selbständigen
Organisation und Aktivierung des gebietsgesellschaftlichen Zusammenwirkens,
begründet in der geschichtlichen Notwendigkeit eines gemeinsamen
status vivendi für alle Interessengegensätze auf einem sie alle
umgreifenden Erdgebiet.‘ (Heller 1934, s230)“ (p102f)
„Ein Staat ist nach dem Gesagten dann als demokratisch zu bezeichnen,
wenn sich die Handlungen dieses Staates (1) am Gemeinwohl orientieren und
(2) die Gesetze, die erlassen bzw. aufgehoben werden, explizit auf
Entscheidungen des Volkes bzw. auf denen seiner Repräsentanten
beruhen. Einen Staat, der Bedingung (2) uneingeschränkt erfüllt,
bezeichnen wir als souveränen Staat. Nun besteht kein Zweifel daran,
dass in der EU die Souveränität iher Mitglieder in diesem Sinne
eingeschränkt wird.“ So kann zB der EuGH nationales Recht
außer Kraft setzen, ohne ausichtreiches Widerspruchsrecht der Organe
der Mitgliedsstaaten ....
Diese Übertragung von Hoheitsrechten ist nach Grimm so lange als
rechtfertigbar anzusehen, wie die Verfassungsgerichte der
Mitgliedsländer dieses gesetzte Recht als nicht verfassungskonform
zurückweisen können.
„Da solches Richtergesetz unvermeidlich ist, muss letztlich das Volk
bzw. müssen seine Repräsentanten solche Gesetze auch wieder
korrigieren können. Dann aber muss man verlangen, dass Rechtssetzungen
des EuGH und andere Regelungen supranationaler Organisationen entweder
einstimmig durch die Repräsentanten aller Mitgliedsstaaten anzunehmen
sind oder aber den Mitgliedsländern klar definierte Vetorechte
eingeräumt werden. Wer es mit der Demokratie ernst nimmt, sollte
daher einsehen, dass die Frage nach der Souveränität nach wie vor
zeitgeäß ist.“ (p112ff)
Zum neoklassischen Denken A)
Ein neoklassischer Ökonom sucht von vornherein einen Marktprozess,
der das Bedürfnis der privaten Haushalte nach Vorsorge durch Sparen
in Übereinstimmung bringt mit den Investitionen der Unternehmen,
vermittelt durch einen Preis. Sind Prozess und Preis gefunden, ist für
ihn das Problem erledigt, da ja der Markt für alle Zeiten für
die Identität S = I [Sparsumme = Investitionssumme] sorgen wird.
Als entscheidender Preis wird der
Zins identifiziert, der bei erhöhtem Sparen sinkt, was wiederum
die Unternehmen zur Investition anregt. Die Entwicklung des Volkseinkommens
ist uninteressant. „Dass man für eine sinnvolle wirtschaftliche
Entwicklung den Staat brauchen könnte, ist für einen
neoklassischen Ökonomen ein vollkommen abwegiger Gedanke.“ ....
„Ob es diesen behaupteten Kapitalmarkt-Zins-Mechanismus unter
realistischen Bedingungen überhaupt geben kann oder ob er in einer
Zeichengeldwirtschaft ohne den Staat möglich ist, das sind Fragen,
die sich die Neoklassik niemals stellt. Aber sie stellt solche Fragen
auch deswegen nicht, weil sie darauf gar keine Antworten finden will.
Alles ist ja nur darauf ausgerichtet, die Möglichkeit einer
Lösung über ein Marktsystem zu finden (oder besser gesagt zu
erfinden).
Man kann es heute nur als großen strategischen Fehler des
Keynesianismus ansehen, die Neoklassik als satisfaktionsfähigen
wissenschaftlichen Counterpart akzeptiert zu haben, statt sie von Anfang an
als ein normatives Gebilde zu charakterisieren, das keinem sinnvollen
gesellschaftlichen Zweck dient. Eine Wissenschaft kann die
Auseinandersetzung mit einer Kunstlehre mit starkem ideologischen
Überbau nie gewinnen, weil es der Kunstlehre nicht darauf ankommt,
wissenschaftliche Fortschritte zu machen, sondern ihre Position um
jeden Preis - auch um den Preis der Inkonsistenz und der Ignoranz
gegenüber empirischen Ergebnissen übrigens - zu verteidigen.
Die `allgemeine Theorie', die Keynes versucht hat aufzustellen, war nicht
deswegen allgemein, weil die Neoklassik ein Sonderfall der
ökonomischen Theorie ist, sondern weil sie [die Neoklassik] a priori
als ein normatives Gebilde verstanden werden muss.“ (p120ff)
Spart ein Sektor der Volkswirtschaft, fällt unmittelbar die Nachfrage
für die anderen Sektoren. Konsumieren die privaten Haushalte weniger,
sinken Unternehmensumsätze und Gewinne, weniger Steuern werden gezahlt.
Unternehmen investieren weniger. Der Staat gibt, will er sich nicht
verschulden, weniger aus, was wiederum Umsätze der Unternehmen und
Einkommen der Privathaushalte drückt, ggf. auch durch Senkung der
Transfereinkommen.
„Diesem Nachfrageausfall steht aber kein steigendes Kapitalangebot
gegenüber, das für sinkende Zinsen sorgen könnte. Warum?
Weil die Sparversuche der einen die Einkommen der anderen reduzieren.“
Halten (unwahrscheinlich bei sinkender Nachfrage) die Unternehmen an
ihren Investitionsplänen fest, können sie das dafür
notwendige Kapital nur noch zum Teil aus dem Gewinn aufbringen und mehr
Kapital bei den Banken nachfragen. „Was die Sparer mehr gespart haben,
trifft folglich auf eine höhere Kapitalnachfrage. Der Effekt auf den
Zins ist null: Er kann nicht sinken, und deshalb steigen die Investitionen
nicht. Folglich gibt es keinen automatischen Nachfrageersatz für
die geringere Konsumnachfrage.“
Tatsächlich aber werden die Unternehmen der geringeren Nachfrage wegen
weniger investieren, weniger Kapital nachfragen, die Zinsen sinken:
als Folge der geringeren Investitionstätigkeit, und nicht als Impuls
für mehr Investitionen. Nun kommt die Zentralbank ins Spiel,
die mit ihrer Liquidität für weiter sinkende Zinsen sorgt,
was einen echten Impuls darstellt - der aber nicht immer wirken muss.
„Auch die Bedeutung flexibler Preise und Löhne wird falsch
eingeschätzt. ....
Die naheliegende Erklärung für den Misserfolg der
Austeritätspolitik [mit folgendem Wirtschaftseinbruch in Südeuropa]
ist, dass die Lohnsenkung unmittelbar die Binnennachfrage einbrechen
lässt. Weil es auf der Nachfrageseite der Privaten kein Halten mehr
gibt in dem Abwärtsstrudel, greift die Geldpolitik in den
Krisenländern mit ihren Zinsanregungen nicht mehr. Die einen
investieren mangels Nachfrage nicht, und die anderen bekommen kein Geld
von den Banken. Die Sparanstrengungen verschärfen nicht deshalb
die Krise, weil sie auf rigide Preise und Löhne treffen, sondern
weil ihre ohnehin negative Wirkung auf die Wirtschaft durch die
Anpassung von Preisen und Löhnen nach unten ins Desaströse
potenziert wird.“ (p124ff)
[Anmerkung zum Verhältnis Nord-Süd-Europa:
“Hier spielten die Gravamina Germanica nationis (Beschwerden der
deutschen Nation) eine Rolle, mit ihrem - unzutreffenden - Vorwurf, die
Bewohner des deutschen Reiches verschafften der Kurie in Rom alle Gelder, die
italienische und ausländische Kleriker und Taugenichtse dort in allem
Luxus verprassten.” - Bram van den Hoven van Genderen in
Franz Wilhelm Kaiser / Michael Philipp (Hrsg) / Bucerius Kunst Forum
- Verkehrte Welt - Das Jahrhundert von Hieronymus Bosch, p23]
Zum neoklassischen Denken B)
Die Neoklassiker haben sich schlicht geweigert,
„den Prozess zu beschreiben, der nach einer Sparanstrengung einer
Rückkehr zum Gleichgewicht zugrunde liegen könnte.
Man argumentiert einfach nach dem Motto: Es gibt einen (ex post)
gegebenen Endpunkt des Prozesses, zu dem Ersparniss und Investition
gleich groß sind, und der muss das Gleichgewicht sein. Es gibt
einen Preis (den Zins) auf einem hoch effizienten Markt (dem Kapitalmarkt),
und wir können beobachten, dass die Unternehmen in der Regel
investieren. Folglich gibt es gar keinen Grund, sich Gedanken darüber
zu machen, ob und wie der Prozess im Einzelnen abläuft.“ (p127)
„Damit die Unternehmen die Produktionskapazitäten deutlich
ausweiten, sind günstige Zinskonditionen für sich genommen
nicht ausreichend. Relevant für Investitionsentscheidungen sind
vielmehr Renditeerwartungen auf Basis der konjunkturellen Aussichten
sowie der längerfristigen Absatzperspektiven
(Deutsche Bundesbank 2017a)“. Hiermit „widerlegt die Bundesbank
unmittelbar ihre eigene Auffassung, wonach es Sparentscheidungen sein
könnten, die für die Investitionstätigkeit verantwortlich
sind.“ Die Zinsen sind prinzipiell nicht geeignet, die
Investitionstätigkeit zu beleben. (p134f)
Zum neoklassischen Denken C)
„Gerade wegen der unbestreitbaen Identitäten der Saldenmechanik
muss man in einem solchen Fall folgende Frage stellen
: Wenn es schon definitionsgemäß richtig ist, dass
Volkswirtschaften, die Überschüsse aufweisen, mehr einnehmen,
als sie ausgeben, und wenn man dieses Verhalten `Sparen' nennt, dann hat
die Aussage, Volkswirtschaften, die sparen, haben Überschüsse,
und diejenigen, die nicht sparen, haben Defizite, keinen Inhalt. Denn
diese Aussage ist ja nichts mehr als die Wiederholung der
saldenmechanischen Logik unter Verwendung des Wortes ‘Sparen’.
Folglich ist die Aussage (und jegliche Empirie, die sich darauf stützt)
inhaltlich vollkommen leer. Dagegen kann man als ‘Keynesianer‘
auf der gleichen logischen Ebene allerdings nur sagen, Volkswirtschaften, die
mehr exportieren, als sie importieren, haben Überschüsse und
umgekehrt.
Diese Aussage würde freilich als Trivialität abgetan,
während die erste, neoklassische Aussage immer wieder als eine
inhaltliche Aussage verwendet und anerkannt wird, obwohl sie exakt genau
den gleichen Inhalt hat wie die zweite.
Nämlich keinen Inhalt außer der Wiedergabe einer Definition.
Offensichtlich wird mit dem Wort ‘Sparen’ die Fiktion eines
Verhaltens der privaten und öffentlichen Haushalte geschaffen,
das man glaubt, aus der Saldenmechanik ablesen zu können. Das oben
genannte Sparen hat aber nichts mit dem konkreten Verhalten von
irgendwelchen Akteuren zu tun.“ (p135f)
„Die einzige Antwort, die von der Wirtschaftstheorie für die
Festlegung realer Wechselkursänderungen gegeben werden kann, ist
denkbar einfach: Da bei den internationalen Beziehungen keine
‘Wünsche’ denkbar sind, die ein Land gegenüber
einem anderen einfach durchsetzt, bzw. keine Forderungen, die ein Land
gegenüber anderen mit irgendeiner Legitimation stellen kann, ist die
einzige Regel, auf die sich voneinander unabhängige und gleichberechtigte
Staaten einigen können, die, dass sich die realen Wechselkurse und
die Wettbewerbsverhältnisse überhaupt nicht ändern sollen.
Das beinhaltet zugleich eine wunderbare Mikrofundierung, weil sich nur
unter diesen Bedingungen der Wettbewerb zwischen den Unternehmen auf der
globalen Ebene so abspielt wie innerhalb der Nationalstaaten (Flassbeck 1988).
Bei Geltung einer solchen Regel müssen die (nominalen)
Wechselkursänderungen die Inflationsdifferenzen zwischen den
Ländern genau ausgleichen. Geschieht das, ist von Seiten der
internationalen Ordnung all das getan, was man erwarten kann, um den
Prozess des Ausgleichs der Leitungsbilanzsalden so konfliktarm wie
möglich zu gestalten. Das war und ist der vollkommen richtige und
unbestreitbare Kern der Idee, die hinter dem globalen Währungssystem von
Bretton Woods stand.
Und es war dieser Kern, der jenseits der konkreten
Ausgestaltung des damaligen Systems eindeutig von John Maynard Keynes stammte.
.... Man kann sich anstrengen, um seine Produktivität zu erhöhen,
man muss die Erfolge aber nutzen, um die Einkommen im Inland zu erhöhen,
weil eine Unterbewertungsstrategie ausgeschlossen ist. Preissenkungen,
die bei höherer Produktivität und konstanten Nominallöhnen
ermöglicht würden, könnten infolge einer Aufwertung der
Währung nicht auf die internationale Wettbewerbsfähigkeit
durchschlagen.
.... Dass Deutschland im Rahmen der EWU von Anfang dagegen [diese Mindestnorm
rationalen Verhaltens der einzelnen Mitgliedsstaaten] verstoßen hat,
muss man nicht mehr erwähnen. Diese Überlegungen zeigen aber,
wie fragwürdig, ja unsinnig es ist, mit allen möglichen
Argumenten ein Verhalten zu rechtfertigen, das jede friedliche
Zusammenarbeit zwischen den Nationalstaaten ausschließt.“
(p138ff)
Mitte der 1970er-Jahre begann der Siegeszug des Neoliberalismus.
Die wichtigste der durch ihn bewirkten Veränderungen ist das,
„was heute üblicherweise unter dem Stichwort Ungleichheit
behandelt wird, also die Tatsache, dass viele Menschen systematisch
abgehängt werden und das entsteht, was Keynes einst
‘poverty in the midst of plenty’ nannte. ....
[Anmerkungen:
Thomas Piketty im Vorwort von “Ökonomie der
Ungleichheit”, zitiert nach Eduardo Febbro:
“Aus dieser historischen Betrachtung folgt eine wichtige
Schlussfolgerung:
Wirtschaftliche Entwicklung und menschlicher Fortschritt sind dem Kampf um
Gleichheit und Bildung zu verdanken, nicht der Anbetung von Eigentum,
Stabilität und Ungleichheit.”
Febbro: Prozessen, in denen die Ungleichheit durch die Zivilgesellschaft in
Frage gestellt wird, kommt daher eine entscheidende Bedeutung für einen
Richtungswechsel zu.
Joseph Stiglitz:
Der gleichzeitige Schwund des Vertrauens in
Neoliberalismus und Demokratie ist kein Zufall oder bloße Korrelation.
Der Neoliberalismus hat die Demokratie 40 Jahre lang untergraben. ....
Die durch den Neoliberalismus vorgeschriebene Form der Globalisierung
nahm dem Einzelnen und ganzen Gesellschaften die Möglichkeit, einen
wichtigen Teil ihres Schicksals selbst zu bestimmen, wie das Dani Rodrik von
der Universität Harvard so klar erläutert hat ....
[Es ist ein offenes, aber unschönes Geheimnis, dass es der
Welthandelsorganisation [WTO] gar nicht in erster Linie um Handel geht. Ihre
wichtigste Aufgabe ist vielmehr die Hyperglobalisierung, wie der Ökonom
Dani Rodrik von der Universität Harvard es bezeichnet: die Durchsetzung
einheitlicher, von den globalen Finanzmärkten favorisierter Regeln, die
es demokratischen Regierungen erschweren, ihrer Gesellschaft mit ihren
jeweiligen Bedürfnissen gerecht zu werden. (Lori Wallach,
“Selbst zerstört” in www.ipg-journal.de am 04dec2019)]
Die Auswirkungen der Liberalisierung der Kapitalmärkte waren dabei
besonders verwerflich: Wenn ein führender Präsidentschaftskandidat in
einem Schwellenmarkt von der Wall Street fallengelassen wurde, zogen die
Banken ihr Geld aus dem betreffenden Land ab. Die Wähler standen dann vor
einer krassen Entscheidung: Entweder sie gaben der Wall Street nach oder sie
sahen sich einer schweren Finanzkrise ausgesetzt. Es war, als hätte die
Wall Street mehr politische Macht als die Bürger des Landes. ....
Selbst in reichen Ländern sagte man den Bürgern: “Ihr
könnt die von euch gewünschte Politik” - egal, ob es dabei um
ausreichende soziale Absicherung, menschenwürdige Löhne, eine
progressive Besteuerung oder ein wohlreguliertes Finanzsystem ging -
“nicht haben, weil das Land dann seine Konkurrenzfähigkeit
verliert, Arbeitsplätze verloren gehen und ihr leiden werdet.”
In reichen wie armen Ländern versprachen die Eliten, dass die neoliberale
Politik zu höherem Wirtschaftswachstum führen würde und dass
die Vorteile von oben nach unten durchsickern würden, sodass es letztlich
allen – selbst den Ärmsten – besser gehen würde. Um dorthin zu
gelangen, müssten die Arbeitnehmer niedrigere Löhne akzeptieren, und
alle Bürger müssten Einschnitte bei wichtigen staatlichen Programmen
akzeptieren. ....
Wie sollte es auch möglich sein, dass Lohnzurückhaltung - um
konkurrenzfähig zu werden oder zu bleiben - und Einschnitte bei
staatlichen Programmen zu einem höheren Lebensstandard führen? Die
Normalbürger hatten das Gefühl, dass man ihnen etwas vorgegaukelt
hatte. Und sie fühlten sich zu Recht betrogen. ....
Die Wahrheit ist, dass die Ära des Neoliberalismus dem Namen zum Trotz
alles andere als liberal war. Sie setzte eine geistige Orthodoxie durch,
deren Hüter keinerlei Widerspruch duldeten. ....
Wenn es die Finanzkrise von 2008 nicht geschafft hat, uns zu zeigen, dass
beschränkungsfreie Märkte nicht funktionieren, sollte es die
Klimakrise mit Sicherheit tun: Der Neoliberalismus wird unserer Zivilisation
im wahrsten Sinne des Wortes ein Ende bereiten. Zugleich jedoch ist klar,
dass jene Demagogen, die wollen, dass wir uns von Wissenschaft und
Toleranz abwenden, die Lage nur verschlimmern werden.
Die einzige Möglichkeit, unseren Planeten und unsere Zivilisation zu
retten, besteht in der Wiedergeburt der
Geschichte. Wir müssen die Aufklärung
neu beleben und uns wieder dazu bekennen, ihre Werte der Freiheit, der
Demokratie und des Respekts für das Wissen zu ehren.
Joseph E. Stiglitz, “Sechs, setzen”
in www.ipg-journal.de am 13nov2019]
Die Flexibilisierung der Arbeitsmärkte bietet den Unternehmen die
Möglichkeit, hinter die Entdeckung der Arbeiter als
„Konsumentenmasse“ zurückzugehen, was wirkliche
Regression ist. Ein Rückschritt der Erkenntnis ins 19. Jahrhundert,
ein pathologisches Zurückfallen in die eigene Kindheit. Darunter
leidet die Weltwirtschaft mehr als unter jeder anderen Entwicklung. (p143f)
Die neoliberale Konterrevolution gegen den Keynesianismus war möglich,
da zwei Phänomene das neoliberale Narrativ zu bestätigen schienen.
Zum Einen stieg in allen wichtigen Industrieländern die Lohnquote,
da die Gewerkschaften in der Vollbeschäftigung Lohnzuwachsraten im
zweistelligen Bereich durchsetzen konnten. Mit einiger Verzögerung
stieg dann die Arbeitslosigkeit in der gesamten westlichen Welt. Dieser,
in der neoliberalen Theorie postulierte, Zusammenhang zwischen Reallohn
und Arbeitslosigkeit ist allerdings keineswegs eindeutig. Mit den hohen
Lohnzuwächsen und den hohen Ölpreisen erreichte auch die Inflation
ungeahnte Höhen, worauf die Geldpolitik weltweit mit
Zinserhöhungen reagierte, was, nach dem durch die
Ölpreiserhöhungen induzierten ersten, den zweiten Nachfrageschock
bewirkte, der zu einem Zusammenbruch der Investitionstätigkeit
führte. Mithin war der Nexus kein neoliberaler, sondern ein
nachfrageseitig-keynesianischer. Die Krise 2008/2009 zeigt: Wachsende
Arbeitslosigkeit bei niedrigen Lohnsteigerungen und sehr niedriger Lohnquote
widerlegt die neoklassische Idee von der Funktionsweise des Arbeitsmarktes.
(p145ff)
„Man braucht aber in einer Wirtschaft wie der amerikanischen oder der
europäischen (also in großen geschlossenen Volkswirtschaften
mit geringer Handelsverflechtung) Reallohnzuwächse in Höhe der
Produktivitätszuwächse, um die Kapazitäten der Wirtschaft
über den Konjunkturzyklus hinweg auszulasten.
.... Was auch von vielen Keynesianern nicht begriffen wird: Die Anerkenntnis
der Tatsache, dass die Löhne die Preise bestimmen
(‘ wages are tightly linked to inflation’), schließt
eine neoklassische Funktionsweise des Arbeitsmarktes aus, bei dem die
Reallöhne die Beschäftigung determinieren. Doch man fürchtet
nichts mehr, als dass die traditionelle Vorstellung vom Arbeitsmarkt
infrage gestellt wird. Die Ungleichheit jedoch, die große
gesellschaftliche Herausforderung unserer Zeit, kann nur von Seiten des
Arbeitsmarktes her verstanden werden.“ (p150f)
Der marktübliche Lohn ist ein Ergebnis der Produktivität der
Volkswirtschaft, nicht der individuellen Produktivität, wie die
jährliche Anpassung der Löhne im Dienstleistungsbereich zeigt,
in der Regel im Gleichklang mit anderen Bereichen, obwohl in diesen
Berufen eine Entwicklung der Produktivität nicht stattfindet.
„Die Idee einer individuellen Grenzproduktivität ist unhaltbar,
weil das, was letztlich Produktivität bedeutet, von den Löhnen
selbst abhängt. Daraus folgt, dass am sogenannten Arbeitsmarkt die
Angebots- und die Nachfragefunktionen nicht unabhängig voneinander sind.
Nur wenn die Löhne steigen, kann auch die Nachfrage nach Arbeit
ausreichend zulegen.“
(p162ff)
„Alles, was unmittelbar nach der Geburt kommt, hängt bereits
von der sozialen Stellung der Eltern ab, die sich kein Neugeborener
‘verdient’ hat. ....
Je stärker arbeitsteilig die Gesellschaft organisiert ist, umso weniger
lässt sich die Gesamtleistung individuellen Leistungen zurechnen. ....
An dieser Stelle wenden die Liberalen einen einfachen gedanklichen Trick an,
um sich der unangenehmen Diskussion, die jetzt eigentlich folgen müsste,
zu entziehen. Sie sagen, ja genau, weil die Welt so komplex ist,
ist es unmöglich, den Menschen wirklich Gerechtigkeit widerfahren
zu lassen. Deswegen kann es keine materielle Grechtigkeit geben.
Der Staat ist daher der falsche Adressat für die Forderung nach
materieller Gerechtigkeit. Das Einzige, was der Staat tun kann, ist dafür
zu sorgen, dass formale Gerechtigkeit herrscht, dass also alle Menschen
(vor dem Gesetz) gleich behandelt werden.“ (p170f)
„Der Pionierunternehmer bekommt ja auch dann seinen temporären
Monopolgewinn, wenn die Löhne sich vollständig an die
gesamtwirtschaftliche Produktivitätsentwicklung anpassen.“
(p179)
„Es ist aber selbst in Deutschland und sogar nach den
‘Reformen’ von Rot-Grün, nach der Veränderung
der Lohnstrukturen sowie nach der massiven Senkung des
Lohnniveaus neue Arbeitslosigkeit entstanden. Wer das ausblendet und die
Tatsache, dass Deutschland infolge der Senkung seines Lohnniveaus (auch
hier nicht der Lohnstruktur) in Relation zu den Handelspartnern einen
erheblichen Teil seiner Arbeitslosigkeit exportiert hat, will nicht wirklich
verstehen, sondern ablenken.“ (p181)
Bis zur Jahrtausendwende waren die Unternehmen Schuldner, sind jedoch nach 2008
neben den privaten Haushalten auf die Sparerseite gewechselt. Da die USA ein
Leistungsbilanzdefizit aufweisen, mit einer Nachfragelücke im Ausland zu
kämpfen haben, muss der Staat notwendig Schuldner werden, soll nicht die
Wirtschaft kollabieren. (p194f)
„Man muss in dieser neuen Welt nicht mehr darüber philosophieren,
ob und wie schnell der Staat ‘die guten Zeiten’ nutzen sollte,
um seine Verschuldung in Grenzen zu halten. Es gibt die guten Zeiten
einfach nicht mehr, weil die Unternehmen so stark und so mächtig sind,
dass man sie schlicht nicht mehr in die Rolle des Schuldners drängen
kann. Die Stärke der Unternehmen ist die unmittelbare Folge der
neoliberalen Revolution, was nichts anderes bedeutet, als dass die
Neoliberalen mit ihrem Kurs hin zur ‘Angebotspolitik’ unmittelbar
verantwortlich dafür sind, dass die staatlichen Schulden ins
Unermessliche steigen. Gratulation!“ (p197)
Sparende Unternehmen und Forderungen an den Staat, seine Verschuldung
zurückzufahren ist eine unmögliche Konstellation, welche das
marktwirtschaftlich-kapitalistische System weltweit in den direkten Kollaps
führt. (p198)
„Deutschlands Exporterfolge haben allein mit relativer Lohnsenkung
zu tun, sie sind gerade nicht das Ergebnis einer überlegenen
Produktivitätsentwicklung.
[Aber sehr wohl einer guten Produktentwicklung; so sind
zB deutsche Maschinen energieeffizient]
.... Und es war in der Tat ein geschickter Schachzug bei den Steuerreformen
der Vergangenheit, den Spitzensteuersatz schon bei einem so niedrigen
Einkommen anzusetzen, dass man beim Spitzensteuersatz schon mit der
Mittelschicht argumentieren kann, ohne rot zu werden.“ (p200f)
Es gibt ein Verschuldungsproblem, nicht ein Steuerproblem. Wenn es dem Staat
gelingt, über höhere Steuern für die Unternehmen deren
Verschuldungsbereitschaft zu fördern, kann man das Verschuldungsproblem
lösen. Ist das nicht der Fall, muss sich der Staat selbst verschulden.
Das Sparproblem muss immer durch höhere Verschuldung eines Sektors
gelöst werden, ganz unabhängig davon, wie hoch die Steuern sind.
(p202)
„Aber die Frage ist, ob es möglich ist, dass ein
Steuerpflichtiger, der über ein entsprechendes Guthaben auf seinem
Girokonto verfügt, seine Steuern nicht bezahlen kann, weil seine
Bank nicht über das entsprechende Zentralbankguthaben
verfügt.“ Das ist nur möglich, wenn die Bank in Konkurs geht
und/oder die Gesamtheit der Steuerzahlungen höher ist als die
Staatsausgaben. Denn wenn der Staat, letztlich über Konten bei
Geschäftsbanken, Ausgaben in mindestens der Höhe der Steuern
tätigt, hat die Geschäftsbank immer ausreichend Zentralbankguthaben
zur Verfügung, die Steuerzahlung eines ihrer Kunden abzuwickeln.
„Die Tatsache, dass eine Geschäftsbank zwar pleitegehen kann,
es aber wegen der Folgewirkungen
[Kettenreaktion, ‘too big to fail’]
in der Regel nicht darf,
zeigt, dass unser Geldsystem defekt ist und der Reparatur bedarf.
Dieser Defekt lässt sich leicht identifizieren. Wenn der Konkurs
von Geschäftsbanken faktisch nicht möglich ist, weil ansonsten
der Zahlungsverkehr zusammenbricht, dann muss man fragen, welchen Sinn
die kommerzielle Kreditvergabe überhaupt hat. Die eigentliche Funktion,
die man üblicherweisen den Banken zuschreibt, nämlich wie
ein Unternehmer auf dem Markt für Kredite zu agieren, existiert
gar nicht, weil man den Risikofall niemals eintreten lassen darf. Daher
stellt sich die grundsätzliche Frage, ob die marktwirtschaftliche
Organisation von Geschäftsbanken - und damit die Anwendung des
sogenannten Haftungsprinzips - überhaupt sinnvoll ist.“ (p229ff)
Wie kann man die Geldmenge in den heutigen Zeichengeldsystemen ohne
Einlösepflicht
[in Gold zB]
knapp halten? Milton Friedmans Antwort: die
Gesamtsumme der von der Zentralbank in Umlauf gesetzten Zahlungsmittel muss
genau so groß sein, dass damit alle in Transaktionen in Geld
bewerteter Güter abgewickelt werden können. Diese Menge,
so die Monetaristen, lässt sich ohne Weiteres mithilfe der
sogenannten Quantitätstheorie, einer reinen Identität,
bestimmen:
M*V = P*Y mit M = Geld, V = Umlaufgeschwindigkeit, P = Preisniveau,
Y = reales Volkseinkommen.
V ist dabei die Variable, welche definitionsgemäß
für den Ausgleich der Größen sorgt.
„Auf lange Sicht, so die Idee hinter dem Monetarismus und dieser
Gleichung, ist Geld neutral, beeinflusst also die wirtschaftliche Entwicklung
nicht.“
Die Geldpolitik müsse also nur das Geldangebot passend zum
Wachstumspfad der Wirtschaft und der gewünschten Preissteigerungsrate
bereitstellen (p249).
Der Monetarismus als die Politik unmittelbar leitende Theorie ist heute tot.
Die Zentralbanken steuern über den Leitzins, nicht die Geldmenge
[welche sich nicht gleichzeitig auch noch steuern lässt, logischerweise,
s. p249), doch die neoliberale Vorstellung von der Neutralität des Geldes
wurde nicht vollständig aufgegeben, auch nicht von der
Europäischen Zentralbank. (242ff)
In den 1970er Jahren, der Geburtsstunde des neuen Liberalismus, suchte man nach
einer Art Weltformel für die objektive Geldversorgung, welche die
Marktwirtschaft wirklich frei von staatlichen Eingriffen machen könnte.
„Heute wissen wir, dass diese Idee eine gewaltige Illusion war. Mehr und
aggressiver als jemals zuvor greifen die Zentralbanken in das
Wirtschaftsgeschehen ein, ohne dass es dafür klar erkennbare, im Voraus
definierte oder auch nur einfach nachvollziebare Regeln gäbe. Ja, die
Zentralbanken bekennen sogar explizit, dass sie Beschäftigungsziele
verfolgen ....“ (p246ff)
„Obwohl im Rahmen der Vollgeldidee also viele vernünftige
Punkte gemacht werden, geht die Idee im Kern ins Leere, weil sie einen
Supermonetarismus predigt, der vollkommen aus der Zeit gefallen ist.
Was an Geld (Liquidität) in einer sich entwickelnden Wirtschaft
‘gebraucht wird’, wissen wir schlicht nicht. Und wir
können es auch nicht wissen, weil ja die Zentralbank mit ihrem
eigenen Verhalten erst die Voraussetzungen dafür schafft, dass es eine
dynamische Entwicklung geben kann.“ (p253)
Wenn aber der Zins an den Geld- und damit auch Kapitalmärkten die
entscheidende Voraussetzung für dynamische Entwicklung ist, ist
die Idee eines exogen zu steuernden Geldangebotes bei ungekannter
Geldnachfrage von vornherein verfehlt. Denn der Zins schafft nur dann
günstige Bedingungen für Investitionen, wenn er niedrig und
stabil genug ist. Ein stabiler Zins aber ist nur dann möglich, wenn
die Zentralbank jede Geldnachfrage zu dem von ihr zuvor festgesetzten Zins
bedient, was keine Geldmengensteuerung erlaubt. (p253f)
„Aus neoklassischer Sicht haben Ersparnisse, die von Deutschland
nach Spanien geflossen sind, die dortigen Probleme verursacht, die sich
anschließend in hohen Leistungsbilanzdefiziten niederschlugen. ....
Auf diese Weise, so die These, wurden die Leistungsbilanzdefizite Spaniens
faktisch durch ausländisches Kapital ‘finanziert’. ....
Richtig ist an dieser Sichtweise nur, dass die Nettoforderungen deutscher
gegenüber ausländischen Rechtssubjekten immer genau
dem Leistungsbilanzdefizit entsprechen. Nicht richtig ist, dass daraus folgt,
dass es ‘Kapitalexporte’ waren, welche die
Leistungsbilanzdefizite finanzierten.“ Denn es wurden ja nicht
[nicht überwiegend jedenfalls]
ausländische Direktinvestitionen
[FDI]
in Spanien getätigt, sondern z.B.
Maschinen von Deutschland nach Spanien exportiert, vom spanischen
Käufer bezahlt, mithin der Kontostand des deutschen Verkäufers
erhöht. Es fand kein Kapital-Abfluss von Deutschland nach Spanien statt,
das Gegenteil war der Fall. Lediglich die Reserven der spanischen
Geschäftsbank bei der Europäischen Zentralbank bzw. der
spanischen Zentralbank [als Filiale der EZB] wurden belastet, demjenigen
der deutschen Geschäftsbank der entsprechende Betrag gutgeschrieben.
Anstatt des vermeintlichen Kapitalexportes wurde mithin
tatsächlich mehr Geld aus dem Ausland nach Deutschland transferiert als
umgekehrt. (p255f)
Zur Erklärung der konvergierenden Zinssätze nach Einführung
des Euro reicht die Setzung des kurzfristigen Zinses durch die
Zentralbanken aus, da dieser den langfristigen Zins ganz wesentlich
mitbestimmt, da sich die Geschäftsbanken immer bei der Zentralbank
refinanzieren können, weshalb die Interbanken-Zinssätze
in der Regel in etwa dem Leitzins der Zentralbank entsprechen, und die
Zentralbanken für ihren Staat immer als Kreditgeber der letzten Instanz
[lender of last resort]
fungieren, weshalb Staatsanleihen für
Banken eine risikolose Investition darstellen. Der Kauf von Staatsanleihen kann
jederzeit durch kurzfristige Kreditaufnahme bei der Zentralbank refinanziert
werden,
[weil, ganz wichtig, die Zentralbank die Staatsanleihen als Sicherheit
annimmt],
wodurch sich die langfristigen Zinsen den kurzfristigen annähern.
(p263)
„In der Krise um Griechenland wurde deutlich, dass Zentralbanken
die Politik unter Umständen mit der Drohung, den Geldhahn zuzudrehen,
zwingen können, marktkonforme ‘Reformen’ zu exekutieren.
Das war ein klarer Verstoß der Zentralbank gegen ihre Aufgabe,
die Wirtschaftspolitik zu unterstützen. Da die EZB auch die
für Griechenland zuständige Zentralbank war, gilt das ohne Zweifel
auch für Griechenland. Es spricht allerdings einiges dafür,
dass die EZB inzwischen erkannt hat, dass sie ihr Mandat in diesem Falle
gründlich missvertanden hatte.
Geld ist also, ganz im Sinne von Georg Friedrich Knapp, ein Steuerungsmittel,
dessen Akzeptanz als Zahlungsmittel auf der Fähigkeit eines
Staates beruht, Steuerzahlungen in seiner Währung zu erzwingen.
Sobald man das erkennt, ist offensichtlich, dass das zentrale Element
einer neuen Geldordnung darin bestehen muss, den Staat in die Lage zu
versetzten, unter klar definierten Bedingungen Geld zu
schöpfen.“ (p268f)
Dem Staat die Finanzierung durch Geldschöpfung zu übertragen,
wäre allerdings keine gute Idee, da er, ausgestattet mit einer
Zentralbank, kein Ausfallrisiko trägt und mithin die Gefahr von
Missbrauch und Inflation
[durch Fehlallokation]
durch diese
monetäte Art der Staatsfinanzierung größer wäre als bei
Darlehensgewährung durch gewinnorientierte Geschäftsbanken.
(p271)
Die Liberalen sprechen sich in der Regel für einen Wettbewerb der Nationen
aus. Dies aber widerspricht dem Wettbewerb der Unternehmen untereinander,
da Länder dann ihren Unternehmen einen Vorteil verschaffen, der mit
dem einzelnen Unternehmen nichts zu tun hat. (p284f)
Die europäischen Verträge sind nicht vernünftig konstruiert.
Geht doch die Kommission gegen Bevorteilung einzelner Unternehmen
durch Staaten vor, wenn „jedoch ein Land alle seine Unternehmen
durch Steuersenkung oder Lohndruck bevorteilt, fällt das unter
das Rubrum ‘Wettbewerb der Nationen’ oder
‘nationale Steuersouveränität’, und die Kommission
tut nichts.
Durch die neoliberale Revolution wurde in der EU die Fähigkeit der
Staaten, sich gegen unlautere Wettbewerbsmethoden anderer Staaten zu wehren,
über Bord geworfen. Dies war kein Problem, solange nur kleine Staaten
wie Irland unlauter handelten. „Die Ignoranz der Institiutionen
in dieser Frage rächt sich jedoch jetzt bitter, wo der
größte Staat das tut, was die kleinen vorgemacht haben.
Nun kann man es nicht mehr ignorieren, weil die wirtschaftlichen Auswirkungen
in den Nachbarstaaten des Merkantilisten
gewaltig sind.“ (p289)
„Das grundlegende Schema dieser [Währungs]Krisen ist immer gleich
und leicht zu verstehen: Öffnen Länder mit unterschiedlichen
Inflations- und Lohnstückkostenentwicklungen ihre Grenzen
vollständig für Güter und Kapital, sind krisenhafte Folgen
für das Geld- und Währungssystem grundsätzlich, also
unabhängig vom gewählten Währungssystem, kaum zu vermeiden.
Das lässt sich leicht illustrieren: Land A, das einen Anstieg der
Lohnstückkosten und der Inflationsrate von 10 Prozent aufweist,
öffne seine Grenzen gegenüber Land B mit
Lohnstückkostenzuwächsen und einer Inflationsrate von 2 Prozent.
Nehmen wir an, Land A müsse, um im Innern Investitionen und eine
kräftige Expansion der Binnennachfrage zu ermöglichen, einen
Nominalzins von beispielsweise 12 Prozent (also einen Realzins von 2 Prozent)
durchsetzen. Land B muss dann, um zum gleichen Realzins zu gelangen,
den Nominalzins bei 4 Prozent halten. ....
Für Anlage suchendes Kapital, das auf kurze Frist angelegt wird
[kürzer, als dass Währungsverfall eine Rolle spielen könnte?],
ist nicht der Real-, sondern der Nominalzins im jeweils anderen Land von
Interesse, weil der Anleger dort keine Güter kaufen
[sondern, Carry Trade, sein Kapital mit Zinsen zurückholen]
will.“
Der attraktivere Zins von A führt kurzfristig tendenziell zu einer
Aufwertung der Währung von A. Für den Erhalt der
Wettbewerbsfähigkeit aber müsste die Währung von A in
jeder Periode um 8 Prozent abwerten. Durch die tatsächlich sich
einstellende Aufwertung oder auch nur die nominale Konstanz seiner
Währung verliert A an Wettbewerbsfähigkeit. Früher oder
später ist eine Währungskrise unvermeidlich. Die in der
Literatur vorgeschlagene Lösung durch die Kaufpreisparitätentheorie
in einem System flexibler Wechselkurse funktioniert nicht, da die
offene Zinsparität für die Händler kurzfristig von
größerem Gewicht ist als die rein fiktive Kaufkraftparität.
„Politisch geebnet wird der Weg in die Währungskrise vor allem
dadurch, dass die Regierungen und Notenbanken von A-Ländern kurzfristig
stolz auf ihre stabile Währung sind und die
längerfristig unumgänglichen negativen Folgen
dieser Stabilität nicht in Betracht ziehen. Dauerhafte Lösungen
gibt es nur mithilfe von Eingriffen in den freien Kapitalverkehr
im weitesten Sinne (also Kapitalverkehrskontrollen) oder durch eine
vollständige Angleichung der Inflations- und
Lohnstückkostenentwicklung zwischen den beteiligten Ländern.“
(p290ff)
„Was also ist zu tun, wenn man der Meinung ist, dass eine in
ihrem Inneren möglichst offene und eine nach außen
möglichst grenzenlose Gesellschaft einen erstrebenswerten Zustand
darstellt? Deutlich geworden sollte sein, dass die Realisierung eines
solchen progressiven Projekts sich nicht auf die spontane
Selbstorganisation der Menschen verlassen kann, sondern dass dem Staat zur
Organisation und zur Aktivierung der Fähigkeiten der gesellschaftlichen
Akteure im Sinne einer Optimierung des Gemeinwohls eine zentrale Rolle zukommt.
Wir sind allerdings weit davon entfernt, einer staatlichen Planwirtschaft das
Wort zu reden. Es gilt vielmehr, die unbestreitbaren Vorteile einer dezentral
orientierten und auf Gewinnerzielung orientierten Produktion von
Wirtschaftsgütern mit einer intelligenten staatlichen Steuerung
des Marktes zu verbinden. Denn der Markt und seine Akteure sind nicht
in der Lage, den gesamtwirtschaftlichen Erfordernissen selbstständig
Rechnung zu tragen.
Eine vorurteilslose Analyse, wie wir sie in diesem Buch versucht haben,
überträgt den Nationalstaaten die Aufgabe, das
Wirtschaftsgeschehen so zu steuern, dass die Marktwirtschaft in die Lage
versetzt wird, den Wohlstand aller Nationen zu optimieren.“ (p299f)
„Es gibt schlicht keinen Markt, dessen Entwicklung man beschreiben und
analysieren könnte, ohne den Staat als wesentlichen Akteur zu
berücksichtigen.“ (p301)
„Man kann generell davon ausgehen, dass es sich beim Großteil
dessen, was oft als internationale Schocks bezeichnet wird, um Preisschocks
handelt. Also Veränderungen wichtiger Preise, die sich eine Zeitlang
in eine unhaltbare Richtung entwickeln (meist von Spekulationen getrieben)
und dann zusammenbrechen. Dabei geht es, wie gesagt, am häufigsten um
Wechselkursschocks. Aber auch Rohstoffpreisschocks und Immobilienpreisschocks
hat es gegeben, zuletzt in der großen Krise von 2008/09. ....
Alle diese Schocks überfordern die Anpassungsfähigkeit der
Wirtschaftssubjekte und führen in (fast) allen Fällen zu einer
Nachfrageminderung auf der Ebene der Gesamtwirtschaft, die durch keine
anderen (endogenen) Effekte ausgeglichen werden kann. Die typische Reaktion
der Unternehmen darauf ist die Entlassung von Arbeitskräften,
was die Krise weiter verschärft, und zwar so lange, bis die
Wirtschaftspolitik umschwenkt.“ (p302f)
Es ist prinzipiell falsch, auf globale Entwicklungen mit Lohnsenkungen
zu reagieren. Rationalisierung und Globalisierung sind in der Regel
unumkehrbar; im Niedriglohnland unschlagbar billigere Produktionen lassen sich
durch eine, auch mit zB 20 Prozent vergleichsweise moderate, Lohnsenkung nicht
zurückholen. Besser die Chance zur eigenen Veränderung nutzen.
Anstatt Lohnflexibilität bedarf es der Flexibilität der
Arbeitskräfte, ihre alten Jobs aufzugeben und sich für neue zu
qualifizieren. Die in den 1970er Jahren in Gewerkschaftskreisen
diskutierte Arbeitsplatzgarantie durch den Staat wäre ein
direkter Weg in die Planwirtschaft. Was der Staat aber ohne weiteres
garantieren kann, ist irgendein Arbeitsplatz, wenn der bisherige
verlorengeht
[was der Staat durch entsprechendes Agieren für eine
Bewegung in Richtung Vollbeschäftigung erreichen kann].
(p304ff)
In einer, früher vorstellbaren, Welt der Vollbeschäftigung tritt
die Sorge um den Arbeitsplatz in den Hintergrund. „Die meisten
Menschen sind in den vergangenen vierzig Jahren vom Neoliberalismus
allerdings derart auf die Angst um den Arbeitsplatz programmiert worden,
dass für sie eine solche Welt kaum noch vorstellbar ist.
Nur deswegen fürchten sich viele Menschen vor Prozessen
wie der Globalisierung und der Automatisierung.“ (p307f)
Dass in der Globalisierung durch die Entwicklungsländer mit ihren
niedrigen Löhnen in den vergangenen Jahren großen Schaden
am Arbeitsmarkt der Industrieländer ausgelöst hätten,
entspricht nicht den Fakten. Ein Blick auf die Leistungsbilanzsalden
der Länder verrät dies sofort. „Die Länder, die für
ihre Handelspartner Schaden angerichtet haben, sind folglich mehrheitlich in
Europa zu suchen. Deutschland ist unter den großen
Industrieländern mit Abstand der größte Merkantilist.
Deutschland ist auch der einzige G20-Staat, der in den vergangenen Jahren
entgegen vieler Aufforderungen durch eben diese Gruppe seine
Überschüsse immer weiter ausgebaut hat. 2017 beliefen sie sich
auf fast acht Prozent des Bruttoinlandsprodukts.“ (p310ff)
„Die Tatsache, dass die Inflationsraten und
Lohnstückkostenzuwächse im Durchschnitt vieler Jahre fast genau
gleich stark steigen [s. Abbildung 1, p52], bringt Implikationen
mit sich, vor denen sich die herrschende Lehre fürchtet wie
der Teufel vor dem Weihwasser, weil sie ihr gesamtes Modellgebäude
mit einem Schlag zum Eisnturz brächten. ....
Wenn die Löhne auf lange Sicht in dieser Weise mit den Preisen
korreliert sind, können die Löhne nicht auch für den
Beschäftigungsstand verantwortlich sein. Wenn sich beispielsweise
einige Jahre nach einem Lohnschock (Löhne steigen oder fallen stark)
die Preise wieder an die Lohnstückkosten anpassen, ist die
neoklassische Idee, dass sich die Faktorpreisrelationen dauerhaft
ändern, also Arbeit im Verhältnis zum Kapital auch auf lange Sicht
billiger wird, von vornherein sinnlos. ....
Der Befund impliziert nämlich auch, dass Umverteilungsversuchen
seitens der Arbeitnehmer und der Gewerkschaften in den Tarifverhandlungen
langfristig enge Grenzen gesetzt sind.“ (p316ff)
„Mit der Unabhängigkeit der Zentralbanken und dem Mandat,
jederzeit eine niedrige Inflation zu garantieren ...., wurde ein System
geschaffen, das ohne Zweifel die Umverteilung zugunsten der Unternehmen
fördert.“ (p320)
„Um die soziale Mobilität zu erhöhen, würde der
wohlwollende Herrscher auf beiden Seiten der Einkommenspyramide ansetzen.
Er würde einerseits die Einkommenssteuer stark progressiv ausgestalten,
um extrem hohe und meist funktionslose Gewinne bei denen abzuschöpfen,
die über die Macht verfügen, sich selbst fürstlich zu entlohnen.
.... Bei den unteren Einkommen würde der Staat weitgehend auf
Besteuerung verzichten und gleichzeitig die Möglichkeit,
Bildungschancen zu nutzen, massiv verbessern. .... Die Körperschaftssteuer
sollte wieder dem Höchstsatz der Einkommenssteuer entsprechen.
Investitionen der Unternehmen sollte man durch großzügige
Abschreibungsregeln fördern, was heißt, die zu privilegieren,
die investieren, statt wie derzeit alle Unternehmen pauschal zu
privilegieren. .... Schließlich gilt es, die Masseneinkommen
systematisch am erreichten Fortschritt (der Produktivität) zu
beteiligen. .... Löhne, Gehälter und Renten sollten in jedem Jahr
genauso stark steigen, wie es dem durchschnittlichen
Produktivitätsanstieg der vergangenen fünf oder Zehn Jahre plus
dem Inflationsziel entspricht.
Mit diesen einfachen Maßnahmen, von denen keine revolutionär oder
systemverändernd ist, wäre es möglich, die Ungleichheit
wirkungsvoll zu bekämpfen, ohne wirtschaftlichen Schaden anzurichten
- im Gegenteil: Mit solchen Maßnahmen ließe sich eine
moderne Volkswirtschaft viel leichter und effizienter steuern als mit
den antiquierten Methoden der neoklassischen Lehre.“ (p322ff)
„Inflexibilität der Preise [d.h. für alle gleiche
„reine“ Wettbewerbsbedingungen] ist aus Sicht des einzelnen
Unternehmens geradezu die Voraussetzung für das Funktionieren
der Marktwirtschaft, also für den Wettbewerb bei gleichen
Ausgangsvoraussetzungen. .... Allgemein gesprochen: Systeme, die sich
dadurch auszeichnen, dass - auf der Ebene des einzelnen Unternehmens -
die Vorleistungspreise starr sind, werden über flexible Gewinne
gesteuert.“ (p327f)
„Eine Differenzierung der Löhne für gleich knappe Arbeit
nach Betrieben oder Sektoren verstößt gegen die Grundprinzipien
einer marktwirtschaftlichen Ordnung.“ (p336)
„Die Aufgabe der Lohnpolitik ist bei einer solchen Rollenverteilung
sogar eine dreifache: Sie muss, erstens, über die Anpassung der
Reallöhne dafür sorgen, dass die binnenwirtschaftliche Nachfrage
stabilisiert wird und jederzeit ausreicht, um alle produzierten Produkte
kaufen zu können;“
zweitens stabilisiert sie die Inflationsrate, verhindert Preisschocks, und
drittens verhindert sie damit den Verlust der globalen
Wettbewerbsfähigkeit der Volkswirtschaft. (p337)
Die Trennung des Kredit- und Einlagengeschäftes vom Investmentbanking
muss rechtlich wie wirtschaftlich vollumfänglich gegeben sein. (p342)
Giroguthaben, Zahlungsverkehr und Kreditvergabe sind
öffentliche Güter. Die Kreditvergabe einer Bank ist eine
Dienstleistung, die darin besteht, zu überprüfen, ob ein
Unternehmen Ressourcen gewinnbringend verwenden kann.
Kredite für die Abwicklung von Handelstransaktionen wie z.B. Kauf von
Bestandsimmobilien tragen sehr wenig zum BIP bei, Kredite für den
Aufbau eines Kapitalstocks hingegen erlauben eine Erhöhung des BIP.
Also sollten Darlehen in erster Linie für Investitionen vergeben
werden, welche einen zur Bedienung der Darlehen ausreichenden Cashflow
erwarten lassen. (p345)
Notwendig ist die Diskussion über die Verwendung des durch den Staat
„aus dem nichts“ geschaffenen / „gedruckten“ Geldes.
Denn durch die staatliche Allokation werden Ressourcen gebunden. (p348)
Das Dogma der „soliden Finanzpolitik“ wird vom
Bundesfinanzministerium in der Broschüre „An morgen denken.
Gemeinsam handeln“ 2015 so zum Ausdruck gebracht:
„Die Sicht des Bundesfinanzministeriums, die auch in der Wissenschaft von
vielen geteilt wird, besteht .... darin, dass solide Staatsfinanzen das
Vertrauen der privaten Wirtschaft stärken und so Investitionen und Wachstum
fördern.“
Dieses Dogma ist erfolgreich, weil die Bevölkerung der neoliberalen
Erzählung von der Vergleichbarkeit der Staats- mit der privaten
Verschuldung glaubt. Doch gerade wegen der Fähigkeit,
„Geld aus dem Nichts“ zu schaffen, kann der Staat
- in seiner eigenen Währung - niemals in Zahlungsschwierigkeiten geraten.
Er kann sich also bei nicht ausgelasteter Kapazität der Volkswirtschaft
unproblematisch entsprechende Haushaltsdefizite leisten; und wird auch nur dann
Haushaltsüberschüsse erzielen wollen, wenn er inflationäre
Tendenzen bekämpfen will. Entzaubern wir also den Mythos von der
„Schuldenfalle“, wird eine Wirtschaftspolitik möglich,
die, wie Abba P. Lerner bereits 1951 schrieb, dafür sorgt,
„dass die Gesamtausgaben in der Wirtschaft nicht mehr und nicht weniger
betragen als die Ausgaben, die ausreichen, um das Vollbeschäftigungsniveau
der Produktion zu laufenden Preisen zu erwerben.“ (p351f)
Die Rente war in den vergangenen hundert Jahren die wichtigste staatliche
Errungenschaft, die vermutlich mehr als alle anderen den Menschen das
Gefühl vermittelt, Teil einer politischen Gemeinschaft zu sein.
(p352f)
„Wichtigstes Mittel zur Korrektur der Machtverhältnisse ist
ohne Zweifel eine konsequente Vollbeschäftigungspolitik. Diese allein
reicht aber nicht aus, um die vom Markt auferlegten Lebensrisiken so
abzusichern, dass sich der normale Bürger auf Augenhöhe mit
den Unternehmen und ihren Lobbygruppen in die Gesellschaft einbringen
kann.“ (p354)
Die Produktion öffentlicher Güter [wie z.B. die Wasserversorgung]
bedarf aber einer bestimmten Organisation und bestimmter Verfahren, die
sicherstellen, dass die Interessen aller Betroffenen unparteiisch
abgewogen werden. Sprich, es bedarf Beamter,
„deren Entscheidungen sich an expliziten Regeln orientieren und
die sich daher auch öffentlich rechtfertigen müssen.“
(p357)
[Anmerkung:
Es ist mitnichten so, dass der Freie Markt alles regelte, alle Entwicklungen
und Erfindungen aus seinem Inneren erzeugte. So schreibt Mariana Mazzucato in
“The Entrepreneurial State” unter dem Motto
“The state has not just fixed markets, but actively created
them...” in der Einleitung:
“In contrast, it [the pamphlet] describes scenarios where the state has
provided the main source of dynamism and innovation in advanced industrial
economies, pointing out that the public sector has been the lead player in what
is often referred to as the ‘knowledge economy’ - an economy driven
by technological change and knowledge production and diffusion. Indeed, from
the development of aviation, nuclear energy, computers, the internet, the
biotechnology revolution, nanotechnology and even now in green technology,
it is, and has been, the state not the private sector that has kick-started
and developed the engine of growth, because of its willingness to take risk in
areas where the private sector has been too risk-averse.”]
Geld ist nicht knappe Ressource, sondern Steuerungsmittel, welches der Staat
im Gemeinwohlinteresse zur Aktivierung der in seinem Herrschaftsgebiet
befindlichen Ressourcen verwenden kann. Bis 1999 formulierte Artikel 115 des
Grundgesetzes eine vernünftige „goldene Regel“ hierfür:
„Die Einnahmen aus Krediten dürfen die Summe der im Haushaltsplan
veranschlagten Ausgaben für Investitionen nicht überschreiten;
Ausnahmen sind nur zulässig zur Abwehr einer Störung des
gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts.“ (p360f)
Ob nun Umlageverfahren oder Kapitaldeckungsverfahren: die Jungen müssen
die Rentenansprüche der Alten bedienen. „Allerdings, und das
ist der links wie rechts fast immer übersehene entscheidende Knackpunkt
in der ganzen Debatte, verschlechtert ein Kapitaldeckungsverfahren die
Aussichten, in Zukunft einen großen und effizienten Kapitalstock
zu haben. Weil mehr heutiges Sparen (im Sinne einer größeren
Lücke zwischen Einnahmen und Ausgaben der privaten
Haushalte) .... das Investieren behindert ...., führt eine Kapitldeckung
genau dann wenn sie im Sinne ihrer Erfinder funktioniert ...., zu geringeren
Investitionen und damit zu einem geringeren Kapitalstock in der Zukunft.
Dieses Phänomen haben wir im Gefolge der globalen Finanzkrise
gesehen.“ (p364ff)
Es muss globale Regeln für den Tausch geben, die von der internationalen
Staatengemeinschaft gesetzt werden müssen. Die Industrieländer
müssen bei der Entwicklung eines Systems international anerkannter
Regeln für den Finanz- und Währungsbereich vorangehen.
„Häufig wird befürchtet, das Entstehen einer neuen
Weltwährungsordnung und einer globalen Finanzarchitektur werde zu
einem Verlust an nationaler Souveränität führen.
Die weltweite Krise aber zeigt, dass es eine Souveränität
im Sinne einer effektiven Abkoppelung von diesen Ereignissen nicht geben kann.
Alle Nationen der Welt sind in der einen oder anderen Weise
betroffen.“ (p370ff)
Die mikroökonomische Fragestellung
[der homo oeconomicus]
führt
meist in die Irre, da die von ihr unterstellte klassische Fragestellung
in der Realität praktisch nicht existiert, da die Informationen
für eine Entscheidungssituation wie „mehr Umweltschutz oder
mehr Güter“ für die Mehrheit der Menschen nicht
verfügbar sind. Um Autos sauberer zu machen, könnte man,
anstatt irgendwelche Techniken vorzuschreiben, ganz einfach bestimmen,
alle Abgase zunächst durch das Wageninnere zu leiten.
Wäre dies vor hundert Jahren von den Staaten der Welt durchgesetzt
worden, führen wir heute genausoviel Auto wie wir es tun,
allerdings mit deutlich anderen Autos, vermutlich mit wasserstoffbetriebenen
etc. (p377)
Gesamtwirtschaftlich ist das Ergebnis veränderter Umweltschutzvorschriften
nicht anders als das irgendwelcher sonstiger Neuerungen [wie z.B. auch
Erfindungen]: Es entstehen zusätzliche Einkommen und Arbeitsplätze
bei den Herrstellern des Neuen, Einkommensverluste und Arbeitsplatzabbau
bei den
[unflexiblen]
Herstellern des Alten. Der alltägliche
Strukturwandel eben.
„Die Politik muss sich darüber überhaupt keine Gedanken
machen.“
Sie darf aber eben nicht auf Jammern und Drohen einzelner [großer]
Produzenten und / oder Branchen eingehen.
Auch herrscht hier Konfusion, da die herrschende Ökonomie in den
1970er Jahren begann, aus dem „magischen Viereck“, also den
gewohnten makroökonomischen Zielen Preisstabilität,
außenwirtschaftliches Gleichgewicht, hoher Beschäftigungsstand,
angemessenes Wachstum, ein Fünfeck unter Einbeziehung des
Umweltschutzes zu formen. „Das war und ist grandioser Unsinn,
weil der Wunsch der Menschen ....
nach sauberer Umwelt in die Reihe der (mikroökonomischen)
Präferenzen gehört, aber nichts damit zu tun hat, wie das System
makroökonomisch gesteuert wird und welche Ergebnisse man mit
der Makrosteuerung erzielt.“
Einzig in der Frage der internationalen Wettbewerbsfähigkeit kann der
Umweltschutz eine Sonderbehandlung erfahren, indem ein (umweltschützender)
Staat auf Produkte eines anderen (umweltzerstörenden) Staates, den
Kostenvorteil aufhebende, Zölle erhebt.
Es geht nicht ohne den Staat. „Wer bei Gütern von allgemeinem
Interesse (öffentlichen Gütern) wie dem Klimawandel auf den
Markt wartet, wartet bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag.“ (p380-388)
Subjektförderung ist erfahrungsgemäß effektiver als
Objektförderung. Es ist demnach in der Regel besser, die weniger
Begüterten direkt materiell zu fördern, als die notwendige
Preisbildung zu unterlassen.
„Man muss folglich Hartz IV kräftig aufstocken, die Steuern
für Geringverdiener senken, flächendeckende und steigende
Mindestlöhne einführen oder die Beiträge zur
Sozialversicherung für Geringverdiener systematisch verbilligen,
wenn man die energiepolitische Wende wirklich will.“
Denn jeder Hartz-IV-Empfänger soll selbst entscheiden können,
ob er das (erhöhte) Transfereinkommen für Heizkosten
ausgeben oder aber energiebewusster und mit höherem anderweitigem
Konsum leben will. (p389)
„Wer aus politischen oder anderen Gründen bestimmte Mengenziele
hat, darf die Preise nicht dem Markt überlassen
[hier gegebenens Beispiel: negative Preise an Strombörsen wegen
Überdeckung durch alternative Energiequellen signalisieren
den noch nötigen Anbietern konventionellen Stromes, die Produktion
einzustellen]. Der Markt verteilt nur das, was gegenwärtig an
Angebot vorhanden ist, sorgt aber nicht dafür, dass ein bestimmtes
Produkt in einer bestimmten Menge auch in Zukunft produziert wird.
Die besten Beispiele dafür sind die gesamtwirtschaftliche Entwicklung
und der Zins, wie wir das oben schon erläutert haben.
Weil alle westlichen Gesellschaften nicht darauf aus sind, das
einmal vorhandene Güterangebot zu verteilen, sondern wirtschaftliche
Entwicklung zu fördern, wird einer der wichtigsten Preise in der
Marktwirtschaft, der Zins, fast vollständig vom Staat (bzw. der von ihm
beauftragten Notenbank) gesteuert.“ (p395)
Unzufriedenheit mit der politischen Umsetzung der Weltrettung lässt
die einen nach einer wohlwollenden Ökodiktatur, die anderen nach
Dezentralisierung und dem Abschied von Staat rufen. Beide Ideen sind
extrem gefährlich. Denn für die Lösung der extrem
komplexen wirtschaftlichen und umweltpolitischen Ziele bedarf
es des extrem kompetenten Staates. Weder eine Diktatur noch dezentrale
Einheiten ohne Staat können dies leisten.
„Das Umweltproblem kann nur global und auf der Ebene der Politik
gelöst werden ... Zu glauben, allein das Vorbild einiger weniger
reiche aus, um die Masse zu einer Änderung ihrer Lebensweise zu
bewegen, ist realitätsfremd.“ (p396-397 Ende)
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